Kimpa beobachtete meine Studien unaufdringlich, aber scharf. Er bekam den Auftrag, mich, den Barbaren, in einen echten Gentleman zu verwandeln, der irgendwo an der Grenze zwischen der Grafschaft Wuk und den Leeren Ländern geboren war. So lautete mein offizieller Lebenslauf für Kimpa und alle anderen.
Eine gute Geschichte, wie ich jetzt weiß. Im Genre der improvisierten Fälschung ist sie ein echtes Meisterwerk von Sir Juffin. Von Echo aus gesehen ist die Grafschaft Wuk der am weitesten entfernte Teil des Vereinigten Königreichs. Die dünn besiedelten Ebenen an Wuks Grenzen gehen allmählich in die riesigen unbewohnten Gebiete der Leeren Länder über, die längst nicht mehr zum Vereinigten Königreich gehören. Wozu braucht man schon Leere Länder? Nur wenige Hauptstadtbewohner waren je dort gewesen, und man hielt jede Reise dorthin für ein leichtsinniges und riskantes Unternehmen. Nach Auffassung von Sir Juffin sind mehr als die Hälfte der Bewohner der Leeren Länder ungebildete Nomaden, während der Rest aus den vor hundertzwölf Jahren geflohenen rebellischen Magiern besteht, die man in der Hauptstadt auch nicht gerade mit Aufmerksamkeit verwöhnt.
»Egal was du unternimmst«, erklärte Sir Juffin, während er genüsslich in seinem Lieblingssessel schaukelte, »du brauchst dich für nichts zu entschuldigen. Deine Herkunft bleibt für die snobistischen Blicke der Hauptstadt die beste Erklärung all deiner Verfehlungen. Das kannst du mir glauben. Ich bin selbst aus Kettari gekommen, einem kleinen Städtchen in der Grafschaft Schimar. Das ist Jahre her, doch man erwartet von mir bis heute stets exzentrische Dinge. Die Leute sind sogar beleidigt, wenn ich mich normal benehme.«
»Prima! Dann fange ich gleich damit an!«, rief ich und tat, worauf ich schon lange Lust gehabt hatte: Ich nahm eine kleine warme Pirogge vom Teller, ohne das dafür vorgesehene Häkchen zu benutzen, das eher einer Zahnarztwaffe als einer Gabel glich.
Sir Juffin grinste gönnerhaft. »Aus dir wird noch ein ausgezeichneter Barbar, Max. Da mach ich mir keine Sorgen!«
»Ich mir auch nicht!«, antwortete ich mit vollem Mund. »Wissen Sie, Juffin - seit meiner Geburt bin ich davon überzeugt, dass ich am besten selbst auf mich aufpassen kann. Das Urteil anderer interessiert mich keinen Pfifferling! Ich liebe mich viel zu sehr, um mich mit Selbstrechtfertigungen zu quälen, wenn Sie wissen, was ich meine.
»Du bist ein Philosoph«, meinte Sir Juffin Halli und schien ganz zufrieden mit mir zu sein.
Doch zurück zu meinem Unterricht. Noch nie hatte sich meine Leidenschaft für das Gedruckte als so nützlich erwiesen wie in diesen ersten Tagen. Nachts verschlang ich Bücher aus Sir Juffins Bibliothek, lernte dadurch die neue Umgebung kennen, erforschte einige Besonderheiten der hiesigen Mentalität und büffelte eine ganze Reihe hübscher Wendungen und Ausdrücke. Chuf folgte mir auf Schritt und Tritt und übte mit mir ständig Stumme Rede. Am Abend, der inzwischen in der Mitte meines Tages lag, erschien Sir Juffin, und wir aßen zusammen. Unauffällig prüfte er dabei meine Fortschritte in allen Bereichen. Nachdem wir ein, zwei Stunden miteinander verbracht hatten, verschwand er gewöhnlich im Schlafzimmer, und ich ging wieder in die Bibliothek.
Zwei Wochen nach meiner Ankunft stellte Sir Juffin eines Abends fest, dass ich schon beinahe einem Menschen ähneln und als solcher eine Belohnung verdienen würde.
»Heute essen wir im Fressfass, Max! Auf diesen Tag habe ich lange gewartet!«
»Wo essen wir?«
»In Bunbas Fressfass, dem angesagtesten Wirtshaus von Echo: heiße Pasteten, die beste Kamra, die fantastische Madame Zizinda und um diese Zeit keine Gegnerfratzen.«
»Also nur Freundesfratzen?«
»Überhaupt keine Fratzen. Das Lokal ist übrigens hübscher als die meisten Bewohner von Echo.«
»Wieso das denn?«
»Das wirst du schon sehen. Na los, zieh dich an. Ich hab einen Bärenhunger.«
Ich tauschte meine Hauspantoffeln gegen hohe Mokassins, die wie echte Stiefel aussahen. Dadurch wirkte ich so elegant, als wollte ich gleich die Führerscheinprüfung machen, die übrigens kein Grund zur Panik gewesen wäre, da das Führen von A-Mobilen kein Problem für mich war. Ich hatte nämlich einschlägige Erfahrungen, weil ich in der alten Welt die rote Rostmühle meines Cousins übernommen hatte, als der sich einen teuren Schlitten leisten konnte. Hier in Echo hatte Kimpa mir vor ein paar Tagen einige Tricks gezeigt, die sich allesamt mit einem Handgriff bewerkstelligen ließen. Anschließend hatte er sich fünf Minuten von mir chauffieren lassen und gemeint: »Du kannst es.« Danach hatte er mir zugewinkt und war weggegangen. Jetzt beurteilte auch Juffin meine Professionalität und sagte: »Junge, das Leben ist gar nicht so schwer!« Fünf Minuten später fügte er hinzu: »Schade, dass ich keinen Chauffeur brauche, sonst würde ich dich einstellen.« Fast wäre ich vor Freude geplatzt!
Das A-Mobil ließ sich so leicht steuern, dass mich das Chauffieren nicht von der ersten Kontaktaufnahme mit der Stadt Echo ablenkte. Zuerst fuhren wir durch enge Gassen, die sich zwischen den städtischen Obstgärten am Linken Flussufer entlangschlängelten. Die hiesigen Grundstücke waren ganz nach dem Geschmack ihrer Besitzer beleuchtet. Also fuhren wir durch bunte Lichtquadrate, die mal gelb oder rosa, mal blau oder lila waren. Ich hatte mich schon früher für die Obstgärten am Linken Flussufer begeistert, die ich nachts von Juffins Haus aus hatte sehen können. Von einem blass beleuchteten Lichtsee in den anderen zu wechseln, hat etwas - das sage ich Ihnen!
Plötzlich erreichten wir eine breite Allee oder doch etwas, das ich anfangs für eine Allee hielt. Links und rechts strahlten aus teils schon geschlossenen, teils noch geöffneten Geschäften zahlreiche Lichter in allen Farben. Ich merkte schnell, dass ich mich in der Stadtlandschaft noch nicht richtig auskannte. Wir waren hier am Kamm von Echo, an einer der Brücken also, die die Ufer des Flusses miteinander verbinden. Zwischen den Häusern glänzte manchmal das Wasser des Churon, des eindeutig hübschesten Flusses des Vereinigten Königreichs. Ich blieb einfach stehen, und die ganze Pracht stürzte von allen Seiten auf uns ein. Burg Rulch - die königliche Residenz auf einer großen Insel im Fluss - leuchtete rechts in allen Farben des Regenbogens. Links schimmerte eine andere Insel in gleichmäßigem Blau.
»Das ist der Turm Cholomi, Max. Er steht auf der gleichnamigen Insel. Ein toller Ort!«
»Toll?«
»Na ja, der Leiter des Kleinen Geheimen Suchtrupps hält ihn für das bezauberndste Fleckchen von Echo. Und du weißt ja, dass ich diese Funktion ausübe«, sagte Sir Juffin lächelnd.
»Und ich vergaß, mit wem ich mich eingelassen habe.«
Ich warf Juffin einen Blick zu, der ihn eine Fratze schneiden und abwinken ließ. Wir lachten beide.
Weiter ging's. Das Linke Flussufer! Juffin fing an, mich zu dirigieren. »Rechts, wieder rechts, dann links!« Ich war gehorsam wie ein Armeefahrer. Warum, weiß ich nicht. Nach einer Weile landeten wir in der Straße der Kupferkessel.
»Irgendwo da steht unser Haus an der Brücke«, meinte Juffin und zeigte in die orangefarbene Dämmerung der Straßenlaternen. »Aber die Zeit für deinen Besuch dort wird erst noch kommen. Und jetzt - stopp! Wir sind da!«
Wir hielten an, und zum ersten Mal trat ich auf den mit Mosaiken geschmückten Gehsteig des Rechten Flussufers. Ich unterdrückte ein gefährliches Kopfschütteln und ging ins Fressfass - das Lieblingswirtshaus meiner Träume und der Ort, an dem ich mich immer mit Sir Juffin getroffen und wo ich sein merkwürdiges Jobangebot so leichtsinnig angenommen hatte.
Ohne nachzudenken, steuerte ich meinen Lieblingsplatz zwischen Theke und Fenster an. Eine appetitliche Brünette lächelte mir wie einem alten Kunden zu. Es war Madame Zizinda, die Enkelin des im Namen des Lokals verewigten Vielfraßes Bunba.