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»Wir müssen noch ein paar technische Details besprechen«, seufzte Sir Juffin.

»Nämlich?«

»Nämlich, wie du hierher gerätst.«

»Bin ich denn noch nicht bei Ihnen? Ach so!«

»Genau das ist das Problem! Du glaubst, du befindest dich in der Wirklichkeit - dieses Hirngespinst ist völlig normal ... na ja, beinahe normal. Die Leute hier stören sich nicht an dir, bemerken aber schon mit bloßem Auge den Unterschied. Deshalb wirst du Probleme mit deinem Körper haben, der sich gerade unter der Bettdecke wälzt. Wenn dein Körper stirbt, ist das Leben für dich zu Ende. Deshalb musst du nicht nur im Geiste, sondern materiell zu mir übersiedeln. Und dein Körper befindet sich im Moment woanders.«

»Ach so! Mein Körper ist das Problem!« Ich ließ den Kopf hängen.

»So ist das. Hör mir deshalb aufmerksam zu. Wenn du aufwachst, musst du etwas beinahe Unmögliches tun. Erstens sollst du dich an unser Gespräch erinnern. Damit dürftest du keine Probleme haben. Falls aber doch, müssen wir eben noch mal von vorn beginnen. Zweitens reicht es nicht, dich an das Gespräch zu erinnern - dir muss auch klar sein, dass mein Angebot absolut ernst gemeint ist. Du musst dich davon überzeugen, dass manche Träume in der Wirklichkeit weitergehen. Und falls dir das nicht gelingt, musst du bereit sein auszuprobieren, ob sich Träume in die Wirklichkeit verschieben lassen - egal ob du das aus Langeweile oder aus Neugier ermittelst ...«

»Kein Problem. Mein Leben ist ein einziges Patchwork aus Neugier und Langeweile.«

»Lass mich ausreden. Der Mensch neigt dazu, das Unerklärliche mit der Behauptung, es sei nur ein Produkt der Fantasie, abzutun. Du musst dich demnächst von der Richtigkeit meiner Worte überzeugen, und das darf nicht länger als ein paar Stunden dauern. Was das anlangt, kann ich dir nicht helfen. Du musst einfach an den Erfolg glauben.«

»Schon gut«, meinte ich beleidigt. »Ich bin doch nicht blöd.«

»Blöd bist du nicht, aber die Fähigkeit, an Wunder zu glauben, gehört nicht gerade zu deinen Stärken. Schließlich hatte ich das Vergnügen, dich jahrelang zu beobachten, Max.«

»Und wozu?«

»Nicht wozu, sondern warum! Darum! Ich habe dich vor vielen Jahren zufällig entdeckt und schnell begriffen, dass du nicht zu den Hiesigen gehörst. Dann aber stellte ich fest, dass du noch nicht reif genug warst, dich in Wirtshäusern herumzutreiben. Und dann begriff ich, dass du einfach nicht wirklich bist, sondern ein Phantom, ein Hirngespinst, der Schatten eines Traums. Hier passiert spät in der Nacht so manches, aber ich hatte nicht den Eindruck, dass du dahintersteckst. Übrigens hat niemand außer mir bemerkt, dass du dich träumend unter uns Hiesigen aufgehalten hast.«

»Und Sie ...«

»Ich hab es bemerkt, weil ich mich in diesen Dingen einigermaßen auskenne. Und weißt du was? Ich hab dich gesehen und gleich gewusst, dass sich aus diesem Jungen das ideale Nachtantlitz meiner selbst machen lässt. Du bist zwar noch nicht das optimale, aber schon ein sehr achtbares Nachtantlitz.«

Ich war erschüttert. Schon lange hatte ich keine Komplimente mehr bekommen. Und ein so schmeichelhaftes und unerwartetes Kompliment hatte mir noch niemand gemacht. Inzwischen weiß ich, dass Juffin Halli mich damals so gelobt hat, damit ich leichter an seine Existenz glaubte. Denn sosehr mein Verstand mir auch hätte weismachen wollen, nur geschlafen und einen dummen Traum gehabt zu haben: Die Vorstellung, auch die Schmeicheleien des bezaubernden Juffin wären dann nur ein Traum gewesen, hätte ich schlicht nicht ertragen.

»Wenn du dir wirklich sicher bist, dass du den Übergang in die andere Welt riskieren willst, dann tu Folgendes ...«, begann Juffin, schwieg aber plötzlich, rieb sich die Stirn und befahl mir dann: »Gib mir die Hand!«

Ich streckte die Rechte aus. Juffin griff gierig nach ihr und murmelte hastig und leise, ja beinahe unverständlich: »Spät in der Nacht gehst du an einen Ort namens Grüne Straße. Merk dir das. Dort darfst du nicht stehen bleiben, sondern musst auf und ab gehen, eine Stunde oder auch zwei - so lange, wie es eben dauert. Du wirst einen Wagen sehen, den man bei euch Straßenbahn nennt. Sie wird leer sein und auf deiner Höhe halten. Steig ein und setz dich. Die Bahn wird weiterfahren. Tu, was du willst, aber setz dich nicht auf den Platz des Fahrers - das wäre zu riskant. Sei weder aufgeregt noch ungeduldig. Die Reise kann lange dauern. Nimm darum ein paar belegte Brote und etwas zu trinken mit. Deine Vorräte sollten ein paar Tage reichen. Ich glaube nicht, dass die Reise lange dauert, aber es kann alles Mögliche passieren. Und vor allem: Erzähl niemandem davon. Keiner wird dir glauben, und die Zweifel anderer können der Magie nur schaden.«

Endlich ließ Juffin meine Hand los, öffnete die Augen und lächelte.

»Den letzten Rat merk dir gut - er kann dir in Zukunft noch sehr nützlich sein. Hast du alles verstanden?«

»Ja«, nickte ich und massierte dabei meine endlich befreite Hand.

»Und wirst du dich auch daran halten, Max?«

»Natürlich. Aber durch die Grüne Straße fährt keine Straßenbahn.«

»Gut möglich«, meinte Juffin und nickte gleichgültig. »Aber willst du etwa mit einer normalen Tram von Welt zu Welt reisen? Und abgesehen davon: Was ist eigentlich eine Straßenbahn?«

Nach dem Erwachen konnte ich mich mühelos an meinen Traum erinnern. Er stand mir bis ins kleinste Detail vor Augen. Viel schwieriger war es zu begreifen, wo ich mich befand, doch auch das gelang mir schließlich.

Es war drei Uhr nachmittags. Ich kochte mir Kaffee. Dann setzte ich mich mit einer Tasse und der ersten Zigarette des Tages in einen Sessel. Ich musste nachdenken. Nachdem ich den letzten Schluck genommen hatte, beschloss ich, dass es hier nichts zu überlegen gab. Auch wenn es nur ein ganz normaler Traum gewesen sein sollte: Was hatte ich schon zu verlieren? Ich würde also ein wenig durch die Grüne Straße bummeln. Das war schließlich keine große Anstrengung. Ich gehe gern spazieren, und diese Nacht hatte ich ohnehin frei. Und wenn der Traum mehr war als nur ein Hirngespinst? Na, dann wäre das eine Chance - und was für eine!

Ehrlich gesagt hielt mich in meiner Welt nichts. Mein Leben war ein großer, schrecklich uninteressanter Unfug. Ich konnte nicht mal jemanden anrufen, um Abschied zu nehmen. Na ja, ich hätte schon Leute zur Auswahl gehabt, mit denen ich hätte telefonieren können. In meinem Adressbuch, das ich mir etwa einen Monat zuvor zugelegt hatte, befanden sich mehr als fünfzig Nummern. Doch ich hatte keine Lust, mich mit jemandem zu unterhalten. Und noch weniger Interesse hatte ich daran, jemanden zu treffen. Vielleicht hatte ich bloß eine Depression. Auf jeden Fall wartete die nächste Depression sicher schon auf mich. Deshalb traf ich meine Entscheidung - den wichtigsten Entschluss meines Lebens - erstaunlich schnell. Noch heute wundere ich mich darüber.

Mich überkam eine seltsame, aber angenehme Verwirrung. Ich wollte weder meinen Haushalt auflösen noch den engsten Freunden von meinen geheimen Absichten erzählen. Den Abend verbrachte ich mit furchtbar ermüdenden Überlegungen und Unmengen von Tee vor dem Fernsehapparat. Nicht mal die vorletzte Staffel von Twin Peaks begriff ich als Omen. Ich dachte nur, dass ich an Agent Coopers Stelle im schwarzen Wigwam geblieben wäre, statt in die Realität zurückzukehren und das eigene Leben und das anderer zu zerstören.

Im Übrigen verhielt ich mich, als wäre das Heraustragen des Mülleimers das wichtigste Ereignis des Tages. Als ich meine Kaffeekanne und einen dreitägigen Vorrat belegter Brote in den Rucksack packte, fühlte ich mich wie ein Verrückter. Doch ich dachte mir, ich könnte zur Abwechslung auch mal ein wenig verrückt sein. Schließlich war ich in den letzten fahren vorbildlich vernünftig gewesen - und das Ergebnis war nicht gerade beeindruckend.

Ich verließ das Haus um etwa ein Uhr nachts. Der Weg in die Grüne Straße dauerte ungefähr zwölf Minuten. Dort musste ich mich ziemlich lange herumtreiben. Einer der letzten Eindrücke in meiner alten Heimat war die Zeitangabe der Digitaluhr am Gebäude einer Telefongesellschaft. Ihre riesigen Ziffern meldeten 02 : 02 - so eine Symmetrie habe ich immer für ein gutes Zeichen gehalten. Warum, weiß ich nicht.