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Das Klingeln der Straßenbahn, das erstaunlich laut durch die stille Nacht drang, lenkte mich vom Betrachten der Nullen und Zweien ab. Ich war nicht erschrocken, doch mir war schwindlig, und ich sah alles doppelt und konnte nicht fassen, dass es in dieser schmalen Straße tatsächlich Trambahnschienen geben sollte. Besonders aufmerksam betrachtete ich das kleine Schild, auf dem stand, ich würde mich an einer Haltestelle der Nummer 432 befinden. Aus irgendeinem Grund schockierte mich die dreistellige Nummer der Linie viel mehr als die Tram selbst, denn damals gab es in der Stadt nur dreizehn Straßenbahnlinien. Ich kicherte nervös, und mein Lachen kam mir so unheimlich vor, dass ich sofort verstummte. In diesem Moment kam die Tram um die Ecke. Anscheinend fuhr sie schnell wie ein Express.

Ich hatte keine Lust, in die Fahrerkabine zu schauen, doch manchmal tut man ja genau das, wozu man keine Lust hat. So blickte ich denn in ein breites Gesicht, das einem Kannibalen zu gehören schien und mit einem kleinen, schmalen Schnauzbart bestückt war. Die Äuglein, die in dem fetten Gesicht schwammen, funkelten ungeheuer begeistert. Schwer zu sagen, was mich eigentlich so erschreckt hatte, doch nun begriff ich, was in der Seele der Bardot passiert war, als sie auf die erste Prozession zorniger Götter traf. Worte wie Angst, Schock oder Erschütterung können nicht wiedergeben, was ich damals empfand.

Die Tram bremste ab und näherte sich der Haltestelle. Da begriff ich, dass dies mein Ende war - egal ob ich einsteigen oder mich umdrehen und wieder nach Hause gehen würde. Ich schielte auf den Fahrerplatz, der inzwischen glücklicherweise geräumt worden war. Plötzlich fühlte ich mich besser. Eine Trambahn ohne Fahrer auf einer Straße ohne Gleis; dazu die Strecke 432 von Nirgendwo nach Nirgendwo - all das war merkwürdig, aber durchaus erträglich. Eine solche Verzerrung der Wirklichkeit war mir sehr recht. Und die Abwesenheit des Kannibalengesichts war mir noch lieber.

Die Tram hielt. Sie war schon etwas älter und nicht besonders auffällig. An der zerkratzten Außenwand stand »Sex Pistols« und »Michael spinnt«. Ich war dem unbekannten Michael unendlich dankbar: Er hatte mir das Leben, vielleicht auch nur den Verstand, vielleicht aber auch beides gerettet.

Nachdem ich die Diagnose von Michaels psychischer Verfassung zur Kenntnis genommen hatte, wurde ich ruhiger. Ich stieg in die leere Straßenbahn, setzte mich ans Fenster und legte meinen Rucksack auf den Nebensitz. Die Tür schloss sich sehr sanft, und ich spürte nichts Bedrohliches. Dann fuhren wir los. Sogar das Tempo der Straßenbahn war normal - jedenfalls erschien es mir so. Und auch die Aussicht war alles andere als ungewöhnlich: Ich fuhr durch mir halb und halb bekannte Straßen, deren Dunkelheit da und dort von Laternenlicht unterbrochen wurde. Mitunter sah ich beleuchtete Fenster und hin und wieder eine erbärmlich flimmernde Neonreklame. Ich fühlte mich gut und ruhig - als würde ich meine Großmutter in ihrem Häuschen weit vor der Stadt besuchen. Dort war ich seit vierzehn Jahren nicht mehr gewesen, meine Großmutter war tot und das Häuschen verkauft. Nie wieder habe ich mich so frei und glücklich gefühlt wie dort ... Ich sah mein Gesicht in der Scheibe: beseelt, erstaunt und sichtlich verjüngt. Wie sympathisch ich doch sein konnte!

Auf einem der Sitzplätze fand ich eine Art Reader’s Digest und fing genüsslich an zu lesen. Viele Leute mögen solche Sammelbände, und in meiner Situation hielt ich es für besser, mein Gehirn mit dieser ökologisch sauberen Droge zu verstopfen. Die Zeit verging wirklich wie im Flug - und so mag ich es am liebsten.

Was gab ich nur für einen traurigen Helden ab! Da veränderte sich mein Leben von Grund auf, und was tat ich? Ich las in einer abgegriffenen Scharteke und aß dazu mein Butterbrot. Aber so bin ich eben: Wenn ich nicht begreife, was um mich herum passiert, suche ich mir eine Beschäftigung, die mich ablenkt. Im Alltagsleben benehme ich mich oft bizarr; wenn dagegen ein Wunder geschieht, verwandle ich mich sofort in einen phlegmatischen Langweiler. Das ist natürlich nur instinktiver Selbstschutz.

Als ich aufhörte zu lesen, merkte ich, dass es vor den Fenstern heller geworden war. Was ich draußen sah, ließ mich innerlich zittern: Zwei freundlich lächelnde Sonnen stiegen - die eine rechts, die andere links, damit sich die Augen nicht langweilten - über den Horizont. Erlebte ich etwa den Sonnenaufgang im Doppelpack?

Ich musste mich zusammenreißen, um nicht in Panik zu geraten, sah nicht aus dem Fenster, kniff die Augen zu, gähnte und setzte mich bequemer hin. Merkwürdigerweise gelang mir das. Mein Sitzplatz wurde buchstäblich größer und weicher. Mein Kopf fiel auf den mit Butterbroten gefüllten Rucksack, und ich sank in Tiefschlaf. Keine Alpträume quälten mich: Anscheinend machten die für meine Träume verantwortlichen Engel gerade eine Zigarettenpause. Nett von ihnen!

Die Atmosphäre in der Straßenbahn war ohnehin wohlwollend. Als ich aufwachte, stellte ich fest, dass ich mit angezogenen Knien auf einer weichen Couch lag. Aus dem Nichts kam eine haarige karierte Decke geflogen, die genauso bequem war wie meine eigene. »Prima Service!«, murmelte ich und schlief wieder ein.

Als ich erneut aufwachte, war aus der Straßenbahn eine Puppenstube geworden: Alle Sitze hatten sich in weiche Sofas verwandelt. Da ich ins Unbekannte reiste, wäre es eine Sünde gewesen, einen so nett gestalteten Raum nicht zu nutzen. Insgesamt schlief ich sehr viel, aß meine Vorräte auf und fand mitunter an überraschenden Stellen neue Bücher - zum Beispiel in meiner Brusttasche oder auf dem Fahrscheinentwerter.

Was allerdings surreale Landschaften anging, begegnete mir - vom doppelten Sonnenaufgang abgesehen - nichts Besonderes. Draußen herrschte balkendicke Dunkelheit. Das war für mein seelisches Gleichgewicht auch besser.

Die Idylle dauerte - nach meiner vorsichtigen Schätzung - drei, vier Tage. Aber vielleicht gingen die Uhren in meinem merkwürdigen Transportmittel ja auch anders. Der Hauptbeweis dafür, mich unter Einwirkung magischer Gesetze zu befinden, war, dass ich nicht auf die Toilette gehen musste, denn das - verzeihen Sie mir die Offenheit, liebe Leser! - widerspricht all meinen Erfahrungen mit dem menschlichen Stoffwechsel. Die ganze Fahrt über erwartete ich unruhig, dass Darm und Blase sich melden würden, und versuchte erfolglos, für diesen Fall eine Lösung zu finden. Aber nichts dergleichen geschah.

Mein endgültiges Aufwachen war ganz anders als die kurzen Schlafpausen, die ihm vorausgegangen waren. Schon dass ich nicht unter einer Decke, sondern unter einem Pelz erwachte, überraschte mich. Als ich die leidgeprüften Beine streckte und mich umsah, stellte ich fest, dass ich nicht auf einer Couch lag, sondern in einem weichen Bett, das in einem großen, halbdunklen, fast leeren Zimmer stand. In einer entfernten Ecke schnaufte es, und zwar - wie mir schien - ziemlich bedrohlich. Ich öffnete die Augen noch weiter und wälzte mich ein wenig herum. Dann schnellte ich plötzlich hoch und landete auf allen vieren vor dem Bett. Das Schnaufen verstummte, und nach ein paar Sekunden stieß mich etwas leicht an der Ferse. Bis heute begreife ich nicht, warum ich damals nicht losgebrüllt habe.

Stattdessen drehte ich mich blitzschnell um und ... stieß mit der Nase an eine andere Nase, die feucht und klein war. Eine unbekannte Zunge leckte mir über die Wange - entzückend! Vor mir stand ein bezauberndes Wesen: ein haariger Welpe mit der Schnauze einer Bulldogge. Später allerdings stellte sich heraus, dass Chuf kein Welpe war, sondern ein ausgewachsenes Tier. Seine Größe und entzückende Freundlichkeit hatten mich zunächst annehmen lassen, er müsse noch ganz jung sein.

Der kleine Hund bellte fröhlich. Gleich darauf materialisierte sich im halbdunklen Schlafzimmer eine nicht besonders große Gestalt in weit geschnittenem Umhang. Als ich sie mir genauer ansah, merkte ich, dass es sich nicht um den Bekannten aus meinen Träumen handelte. Hatte ich womöglich die Adresse verwechselt?