Ich starrte Melifaro verständnislos an. »Was redest du da?«
Ich hatte den Besuch, den Lonely-Lokley mir am Vortag abgestattet hatte, ganz vergessen. Nach diesem Auftritt war das Leben des Tagesantlitzes des Ehrwürdigen Leiters tatsächlich in Gefahr gewesen, doch inzwischen nicht mehr.
»Nimm es mir bitte nicht krumm, Melifaro, wenn ich deine Ermordung noch etwas hinauszögere, doch vor dem Hintergrund der neuesten Verbrechensserie wäre diese Tat zu banal. Ich will nicht als Nachahmer eines unbekannten Genies gelten.«
»Du klopfst vielleicht Sprüche! Im Moment werden doch lauter junge Frauen umgebracht, und ich bin ein Mann im besten Alter.«
Ich winkte ab: »Der Unterschied ist minimal. Tod bleibt Tod.«
»Du bist ein Philosoph«, bemerkte Juffin beifällig. »Komm, Melifaro. Wir brauchen einen intelligenten Faulenzer wie dich, der sich von den Ereignissen nicht so rasch überrumpeln lässt. Ich hab mich schon bei Sir Kofa gemeldet, und er kommt in einer halben Stunde zu uns.«
»Er muss noch ein paar Piroggen essen und im Wirtshaus die neuesten Gerüchte aufschnappen«, sagte Melifaro und nickte dabei enthusiastisch. »Aber ich kann Kofa durchaus verstehen - schließlich gehört das zu seinen Pflichten.«
Im Büro ließ Juffin sich mit einem breiten Grinsen in den Sessel sinken.
»Du hast getan, was du konntest, Melifaro. Aber jetzt musst du schon wieder ran. Wir wissen, dass der Mörder ein Landsmann von Max ist. Was sagst du dazu?«
»Die Kleidung zählt nicht mehr«, antwortete Melifaro rasch. »Jemand, der eine Hose trägt, ist heutzutage kein Ereignis.«
»Das hab ich dir doch gesagt!«, meinte Juffin zu mir.
»Das Gleiche betrifft auch die Sprache. Akzent und unübliche Kleidung eignen sich zwar als Indizien, doch um den Mörder dadurch zu überführen, braucht man viel Zeit«, sagte Melifaro und schob die Finger unter seinen Turban. »Denk doch mal darüber nach, wodurch sich dein Landsmann sonst noch von anderen ... na ja ... normalen Leuten unterscheidet. Verzeih mir bitte, dass ich dich gerade zu den Anomalen gerechnet habe. Aber gibt es ein auffälliges Charakteristikum, das es erlauben würde, deinen Landsmann auch in einer riesigen Menschenmenge auf Anhieb zu entdecken?«
»Um darauf zu antworten, muss ich mich voll konzentrieren«, antwortete ich. »Und das kann ich am besten im Bad. Vielleicht habe ich dort ja eine geniale Idee. Meine Herrschaften, ich bitte um Verzeihung. In einer Minute bin ich wieder da.«
»In einer Minute schon?«, gab Juffin maliziös zurück.
Ich machte eine kurze Pause, auf die jeder in allen Welten ein Recht hat. Im Korridor hörte ich einmal mehr die Suada einer mir nur allzu bekannten Stimme und näherte mich, um die Schimpfkanonade noch besser genießen zu können.
General Bubuta Boch sah sich gerade misstrauisch um und ertappte mich dabei, wie ich lächelnd um die Ecke bog.
»... weil alle diese Leute sich bestimmt dafür interessieren, was sie ihnen zu sagen hat«, verkündete Bubuta Boch gerade mit hölzerner Stimme, ohne den Blick von meinem Gesicht zu wenden. Kapitän Fuflos (sein Vertreter und Verwandter) sah zur Decke hinauf und machte eine so gelangweilte wie interessante Atemgymnastik.
»Ich habe gerade angeordnet, Ihnen zu dem Fall, mit dem Sie sich seit gestern beschäftigen, eine wichtige Zeugin zu schicken«, rief Bubuta ehrerbietig, und ich dachte: Hoppla - der kann ja sogar normal reden, wenn er will.
»Ausgezeichnet«, erklärte ich mit wichtiger Miene. »Sie haben gesetzestreu und situationsadäquat gehandelt, Sir Boch.«
Ehrenwort: Als er das hörte, seufzte er vor Begeisterung.
Als ich in Juffins Büro zurückkehrte, herrschte ausgelassene Stimmung. Eine lebhafte rothaarige Lady im teuren hellen Lochimantel hielt eine Tasse Kamra in der Hand und betrachtete kokett das Hollywoodgesicht von Sir Melifaro. Ich hatte den Eindruck, sie war der Flirtzeit seit mindestens hundert Jahren entwachsen, doch sie sah das offenbar anders.
»Das ist unser Sir Max«, sagte Juffin und konstatierte damit - was ihm bisher selten passiert war - etwas Offenkundiges. »Fangen Sie bitte an, Lady Tschedsi.«
Die Frau wandte sich zu mir um. Als sie meine Uniform sah, bekam ihr Gesicht ein falsches Lächeln. Dann drehte sie sich wieder weg, was mich nicht im Geringsten betrübte. Bescheiden setzte ich mich auf meinen Platz und nahm mir auch eine Tasse Kamra.
»Vielen Dank, Sir! Wenn Sie wüssten, mit wie merkwürdigen Leuten ich mich vorhin bei der Polizei habe rumschlagen müssen! Nicht mal eine ordentliche Tasse Kamra haben die mir angeboten - von einem bequemen Stuhl ganz zu schweigen.«
»Das kann ich mir durchaus vorstellen«, sagte Juffin mit sehr mitfühlender Miene. »Ich habe aber den Eindruck, dass Sie aus einem anderen Grund zu uns gekommen sind.«
»Natürlich! Heute Morgen hatte ich eine Vorahnung: Mir war irgendwie klar, dass ich nicht einkaufen gehen sollte, und das hab ich dann auch nicht getan, weil ich meiner Intuition stets vertraue. Dann aber hat sich meine Freundin Lady Chedli per Stummer Rede gemeldet und wollte sich unbedingt mit mir treffen. Das hab ich nicht ablehnen können. Also haben wir uns im Rosa Buriwuch verabredet. Ich bin nicht mit dem A-Mobil gefahren, sondern zu Fuß gegangen, weil ich in der Straße der Hohen Wände lebe, also
»... ist es bis zum Rosa Buriwuch nur ein Sprung«, ergänzte Melifaro nickend. Lady Tschedsi sah ihn zärtlich, aber alles andere als mütterlich an.
»Stimmt, Sir! Sie kennen sich ja prima aus! Wohnen Sie etwa in der Nähe?«
»Nein, aber ich habe vor, dorthin umzuziehen«, sagte Melifaro verbindlich. »Aber fahren Sie doch bitte fort, wunderbare Lady.«
Die Frau wurde ganz rot, so entzückt war sie über Melifaros Schmeichelei. Ich dagegen konnte mir nur mühsam ein Lachen verkneifen. Hätte ich mich nicht beherrscht, hätte sie ihre Aussage sicher so lange verweigert, bis ich verschwunden gewesen wäre.
»Ich verließ das Haus, ohne weiter auf meine Vorahnung zu achten, doch sie hatte mich nicht getrogen. Kaum hatte ich mein Viertel verlassen, kam ein furchtbarer Barbar auf mich zugestürzt. Er hatte einen widerlich schmutzigen Lochimantel und eine hässliche Hose an und taumelte entsetzlich. So einen besoffenen Kerl hab ich noch nie gesehen. Na ja, einmal hat sich mein Cousin Dschamis betrunken, aber das war noch vor der Epoche des Gesetzbuchs. Damals hat man den armen Dschamis ja noch verstehen und ihm verzeihen können ... Jedenfalls hat dieser ekelhafte betrunkene Widerling versucht, mit dem Messer auf mich einzustechen. Er hat sogar meinen neuen Lochimantel, den ich erst gestern in Dirolans Boutique gekauft habe, aufgeschlitzt. Können Sie sich vorstellen, wie viel ich für den Mantel bezahlt habe? Ich finde solche Männer unmöglich. Deshalb hab ich ihm gleich eine Ohrfeige verpasst, mich dann aber sehr erschrocken. Und er hat mir etwas Merkwürdiges zugeflüstert, ich glaube »Schachtel« oder »alte Schachtel«. Das muss irgendein Barbarenschimpfwort sein. Danach ist er weggelaufen. Ich bin wieder nach Hause gegangen, um mich umzuziehen, und hab mich bei meiner Freundin gemeldet, damit sie sich nicht über meine Verspätung ärgert. Als ich ihr die ganze Geschichte erzählte, meinte sie, ich sei womöglich dem Serienmörder begegnet, von dem sie im Trubel von Echo gelesen hat. Diese Vorstellung hat mich erst wirklich erschrecken lassen. Und Chedli hat mir geraten, zu Ihnen zu kommen - natürlich nicht zu Ihnen persönlich, sondern ins Haus an der Brücke. Also hab ich mein A-Mobil genommen und bin hergefahren. Das ist die ganze Geschichte. Denken Sie, dass ich wirklich dem Mörder begegnet bin? Er war so schwach! Ich hab keine Ahnung, warum seine Opfer ihn nicht fertiggemacht haben. Eine Ohrfeige hätte dafür doch vollauf gereicht!«
»Ich danke Ihnen sehr, Lady Tschedsi«, erklärte Juffin feierlich. »Ich glaube, Ihr Mut hat nicht nur Sie, sondern auch das Leben anderer gerettet. Und jetzt gehen Sie bitte nach Hause. Ich bereue es sehr, dass wir uns nur so flüchtig kennengelernt haben, aber wir müssen so schnell wie möglich den Mann finden, der Sie belästigt hat.«