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Denn wir waren nicht immer mit Schulden belastet, von ausländischen Leistungen und von Almosen abhängig; in den Geschichten, die wir über uns erzählen, sind wir nicht die wahnsinnigen und verarmten Radikalen, die Sie auf Ihren Fernsehkanälen sehen, sondern Heilige und Dichter und – jawohl – siegreiche Könige. Wir haben die Königliche Moschee erbaut und die Shalimar-Gärten in dieser Stadt angelegt, wir haben das Lahore-Fort errichtet, mit seinen mächtigen Mauern und der breiten Rampe für unsere Kampfelefanten. Und als wir das alles erschufen, war Ihr Land noch eine Ansammlung dreizehn kleiner Kolonien, die am Rande eines Kontinents ihr Dasein fristeten.

Aber ich werde schon wieder laut und bereite Ihnen zudem erhebliches Unbehagen. Bitte entschuldigen Sie; es wat nicht meine Absicht, grob zu sein. Außerdem sollte ich Ihnen doch erklären, warum ich mit Erica nicht über meine Wut anlässlich des Einmarschs amerikanischer Truppen in Afghanistan sprach. Nach jener Nacht, in der wir in meinem Bett feierten, dass sie einen Agenten gefunden hatte, gab es mehrere Tage lang keinen Kontakt mit Erica; sie nahm nicht ab, wenn ich anrief, und antwortete nicht auf meine Nachrichten. Dieses Verhalten verletzte mich – ich nahm ihr Schweigen als Rücksichtslosigkeit –, und als sie sich dann doch mit mir in einer Bar verabredete, ging ich mit reichlich Vorwürfen im Bauch hin. Was ich dann sah, traf mich völlig unvorbereitet.

Am Tresen stand eine reduzierte Erica, nicht die lebhafte, selbstsichere Frau, die ich kannte, sondern ein blasses, nervöses Wesen, das mir fast fremd war. Sie schien abgenommen zu haben, und ihre Blicke zuckten durchs Lokal. Erst als sie lächelte, erstrahlte etwas von der alten Erica, doch das Lächeln wich so schnell aus ihrem Gesicht, wie es gekommen war. Meine Bestürzung muss wohl deutlich gewesen sein, denn sie lächelte wieder und sagte: »Sehe ich so schlimm aus?« »Überhaupt nicht«, log ich. »Etwas müde vielleicht. Geht’s dir nicht gut?« »Nein«, sagte sie. »Tut mir leid, dass ich mich nicht früher gemeldet habe.« »Ist schon in Ordnung«, sagte ich. »Ich hoffe nur, dass ich dich nicht genervt habe.« »Du nervst nie«, sagte sie. »Ich hatte eine ziemlich schlimme Phase. Es war nicht die erste. Aber so heftig war es seit Chris’ Tod nicht mehr.«

Wir bestellten, Bier für mich und eine Flasche Wasser für sie, und ich erwog, sie in den Arm zu nehmen, entschied mich aber dagegen; sie wirkte zu zerbrechlich für eine Berührung. »Es ist so«, fuhr sie fort, »dass alles in meinem Kopf kreist, es denkt und denkt, und dann kann ich nicht schlafen. Und wenn du ein paar Tage nicht geschlafen hast, wirst du krank. Du kannst nicht mehr essen. Du fängst an zu weinen. Das kriegt dann so eine Eigendynamik. Mein Arzt hat mir ein stärkeres Mittel gegeben, mit dem habe ich wieder geschlafen. Aber es ist kein richtiger Schlaf. Und den Rest des Tages habe ich das Gefühl, dass ich vollkommen neben mir stehe. Wie wenn du aus dem Flugzeug steigst und nicht richtig hören kannst. Genau so, nur dass es nicht nur das Gehör ist und ich es nicht freischlucken kann.« Sie trank etwas Wasser und zwinkerte mir bemüht zu. Dann sagte sie: »Schlimm, wie?«

Ich stand schweigend da, und mir fiel nichts ein, was ich hätte sagen können, nicht einmal ein Lächeln brachte ich zustande; ich war entsetzt. Doch sie wartete auf eine Antwort, also sagte ich: »Aber woran denkst du denn, was bringt dich so durcheinander?« »Ich denke viel an Chris«, sagte sie, »und ich denke an mich. Ich denke an mein Buch. Und manchmal habe ich ziemlich düstere Gedanken. Und ich denke an dich.« »Was denkst du«, fragte ich, »wenn du an mich denkst?« »Ich denke, dass es für dich nicht gut ist, wenn du mich jetzt so viel siehst«, antwortete sie. »Ich meine, es ist nicht gut für dich.« »Doch«, versicherte ich ihr, auch wenn ich Angst bekam, »ich will dich aber sehen.« »Genau das meine ich ja«, sagte sie und sah mir sehr ernst in die Augen. »Verstehst du? Genau das meine ich.«

Ich verstand es nicht im Mindesten, und ich bat sie, mit zu mir zu kommen. »Ich glaube, das sollte ich nicht tun«, sagte sie, »wirklich.« Doch in ihrem Ausdruck lag etwas Weiches, und als ich weiter darauf beharrte, willigte sie schließlich ein. Während der Fahrt im Taxi mühte sich mein Gehirn ab zu begreifen, was da geschah. Im Verlauf jener letzten Wochen hatte ich mich – das mag nun sentimental und altmodisch klingen, aber schließlich war ich in einer Familie aufgewachsen, wo ein kurzes Werben die Regel war – Tagträumen von einem Leben als Ericas Mann hingegeben; nun merkte ich, dass nicht nur sie, sondern auch die Frau selbst vor meinen Augen verschwand. Ich wollte ihr helfen, an ihr festhalten – ja, an uns festhalten –, und ich wollte sie unbedingt aus dem Gestrüpp ihrer Psychose befreien. Aber ich wusste nicht, wie ich es anstellen sollte.

In meinem Bett bat sie mich, sie in die Arme zu nehmen; ich tat es und flüsterte ihr leise ins Ohr. Ich wusste, dass ihr meine Geschichten aus Pakistan gefielen, also erzählte ich ihr alles Mögliche von meiner Familie und von Lahore. Als ich sie küssen wollte, blieben ihre Lippen regungslos und sie schloss auch nicht die Augen. Also schloss ich sie für sie und fragte: »Vermisst du Chris?« Sie nickte, und ich sah, wie sich Tränen zwischen ihren Lidern hervorpressten. »Dann tu so«, sagte ich, »tu so, als wäre ich er.« Ich weiß nicht, warum ich das sagte; ich fühlte mich überwältigt, und plötzlich erschien das als ein möglicher Schritt nach vorn. »Was?«, sagte sie, ohne die Augen zu öffnen. »Tu so, als wäre ich er«, wiederholte ich. Und langsam, im Dunkeln und schweigend, taten wir es.

Ich weiß nicht, wie ich beschreiben soll, was dann geschah; ich kann natürlich nicht behaupten, ich sei besessen gewesen, aber gleichzeitig war ich nicht ich selbst. Es war, als wären wir verzaubert, in eine Welt verpflanzt worden, in der ich Chris war und sie mit Chris zusammen war, und wir liebten uns mit einer körperlichen Vertrautheit, die Erica und ich nie zuvor genossen hatten. Ihr Körper verweigerte sich mir nicht mehr; ich sah auf ihre geschlossenen Augen, und ihre geschlossenen Augen sahen auf ihn.

Ich erinnere mich noch immer daran, wie muskulös sie war, was durch ihre Hagerkeit noch stärker zur Geltung kam, und an die beinahe unbelebte Glätte und Kühle ihres Fleischs, wenn sie sich zurückbeugte und mir ihre Brüste darbot. Der Eingang zwischen ihren Beinen war nass und weit, gleichzeitig aber seltsam starr; ich fühlte mich – widerwillig – an eine Wunde erinnert, die unserem Sex trotz der Sanftheit, um die ich mich bemühte, etwas Gewalttätiges gab. Mehr als einmal meinte ich Blut zu riechen, doch als ich mit den Fingern prüfte, ob sie ihre Tage hatte, fand ich sie unbefleckt. Zum Ende hin erschauerte sie – schmerzerfüllt, fast tödlich; auf ihren Schauder folgte meiner.

»Du bist ein freundlicher Mensch«, sagte sie danach, als wir nebeneinanderlagen; »es klingt vielleicht blöd, aber es ist wahr.« Ich hielt sie im Arm und sagte nichts. Ich empfand etwas, was ich nie zuvor und danach empfanden habe, ich erinnere mich noch gut daran: Ich war befriedigt und beschämt zugleich. Meine Befriedigung war mir begreiflich, meine Scham verwirrte mich eher. Vielleicht hatte ich, indem ich in die Haut eines anderen geschlüpft war, mich selbst herabgesetzt, vielleicht war ich in der eigentümlichen Dreiecksgeschichte, deren Teil ich nun war, von der fortgesetzten Dominanz meines toten Rivalen gedemütigt, vielleicht fürchtete ich auch, selbstsüchtig gewesen zu sein, und schon da spürte ich, dass ich Erica zutiefst verletzt hatte. Doch diese letzte Erklärung ist – hoffe ich jedenfalls – unwahrscheinlich; natürlich konnte ich nicht wissen, was ihr in den folgenden Wochen und Monaten widerfahren sollte.

In jener Nacht schlief Erica ohne Medikamente ein; ich blieb wach, auch deshalb, weil ich noch nichts gegessen hatte. Aus Angst, sie zu stören, zögerte ich aufzustehen und zum Kühlschrank zu gehen, doch sie schlief tief, wie ein Kind, und schließlich ging ich doch. Ich aß nur Brot und trank nur Wasser, ein fades Mahl, doch ich aß und trank weiter, bis mein Bauch voll war, und als ich wieder ins Bett ging, war es, als hätte ich eine straff gespannte Trommel umgeschnallt, die mich zwang, mich auf die Seite zu legen.