Über eine Woche lang tat ich es nicht; es lag unberührt auf meinem Fernseher. Während dieser Zeit wartete ich auf ein Zeichen von Erica – eine Mail, einen Anruf, dass mein Summer Laut gab –, doch es kam keines mehr. Ich streifte durch die Stadt und besuchte noch einmal die Orte, zu denen sie mich mitgenommen hatte. Ob ich dachte, ich würde sie dort vielleicht sehen oder noch etwas von uns, weiß ich jetzt nicht mehr. Einige dieser Orte – wie die Galerie in Chelsea, die wir an unserem ersten Abend besucht hatten – konnte ich nicht mehr finden, sie waren verschwunden, als hätte es sie nie gegeben. Andere, wie die Stelle im Central Park, wo wir gepicknickt hatten, waren leicht ausfindig zu machen, schienen aber verändert. Vielleicht lag das am Wechsel der Jahreszeiten, vielleicht wat es aber auch das Wesen der Stadt, unbeständig zu sein.
Ich erinnerte mich an Erica im September, es war noch der Beginn unserer Beziehung, unmittelbar nach den Angriffen auf das World Trade Center. Obwohl traditionellerweise mit dem Ende des Sommers und dem bevorstehenden Beginn des Herbstes assoziiert, war dieser Monat für mich schon immer einer des Aufbruchs gewesen, eine Art Frühling – wahrscheinlich, weil er den Beginn des akademischen Jahrs einläutet. Im September war ich in mein Leben in New York eingetaucht, voller Optimismus der Dinge harrend, die da kamen. Eines Abends ging ich mit Erica über den Union Square, wo wir einen Leuchtkäfer sahen. »Schau nur!«, sagte sie erstaunt, »er versucht, mit den Gebäuden zu wetteifern.« Und tatsächlich: Ein winziges grünliches Glimmen, das von ganz nah zu sehen war, aber schon aus geringer Entfernung von der Leuchtkraft der Stadt erstickt wurde. Wir schauten ihm nach, wie er über die 14th Street Richtung Süden verschwand. Erica stand vor mir, mit dem Rücken an meiner Brust, und ich legte die Arme um sie, die Hände auf ihrem Bauch. Es war eine vertraute Geste – wie die eines werdenden Vaters bei seiner schwangeren Frau –, und sie lehnte sich an mich. Noch jetzt erinnere mich, wie sich beim Atmen ihre Muskeln bewegten. Ein Taxi raste vorbei, und wir verloren den Leuchtkäfer aus den Augen. »Glaubst du, er hat es geschafft?«, fragte sie mich. »Keine Ahnung«, sagte ich, »aber ich hoffe es.«
Solche Erinnerungen beschäftigten mich in den Tagen nach ihrem Verschwinden von morgens bis abends und drangen wohl auch in meine Träume; sie waren in jener Zeit meine einzige Form des Kontakts mit ihr. Aber endlich las ich auch das Manuskript, das ihre Mutter mir gegeben hatte. Ich muss gestehen, ich hatte Angst davor – als könnte es das letzte Mal sein, dass ich Ericas Stimme hörte –, und mir war bang, was die Stimme wohl sagen würde. Doch ihr Roman hatte nichts gequält Autobiografisches. Es war einfach eine Abenteuergeschichte über ein Mädchen auf einer Insel, das lernt irgendwie zurechtzukommen. Die Geschichte war voller Hoffnung, und obwohl sie zumeist recht sparsam war, verweilte sie doch immer wieder auch bei kleinen Details: der Struktur der Schale einer herabgefallenen Frucht beispielsweise oder den hin und her zuckenden Fühlern von Krebsen in einem Bach.
In den Rhythmen oder Klängen dessen, was sie geschrieben hatte, konnte ich Erica nicht wiederfinden; es erschien wie ein Fehler, gab mir keine Hinweise. Es war so zielgerichtet, so entschieden, genau das zu sein, was es war, dass ich verblüfft war. Aber auch tief berührt. Als ich das Manuskript niederlegte, tat ich es ohne jede Überzeugung, dass Erica lebte oder tot war. Doch ich hatte begriffen, dass sie sich entschieden hatte, nicht Teil meiner Geschichte zu sein; ihre eigene hatte sich als zu zwingend erwiesen, und sie folgte ihr – zu jenem Zeitpunkt und auf ihre Weise – bis zu ihrem Ende, gelangte durch Orte, die unerreichbar für mich waren. Ich erkannte, dass mir keine andere Wahl blieb, als mit meinen Vorbereitungen zur Abreise fortzufahren.
Ich würde gern sagen können, dass meine letzten Tage in New York in einem Zustand abgeklärter Ruhe vergingen; nichts könnte weiter von der Wahrheit entfernt sein. Ich war ein wirrer, rührseliger Wahnsinniger, der Wutanfälle bekam und in Depressionen verfiel. Manchmal lag ich im Bett, dachte im Kreis, stellte mir immerzu dieselben Fragen, warum und wohin Erica gegangen war; manchmal lief ich durch die Straßen, mein Bart eine stolze Provokation, suchte Ärger mit jedem, der so verwegen war, mich gegen ihn aufzubringen. Verletzungen gab es überall; die Rhetorik, die zu dem Zeitpunkt der Geschichte aus Ihrem Land zu hören war – nicht nur von der Regierung, sondern auch von den Medien und vermeintlich kritischen Journalisten –, lieferte prompte und beständige Nahrung für meinen Zorn.
Damals schien es mir – und es scheint mir noch heute so zu sein –, dass Amerika nur eine Pose einnahm. Als Gesellschaft waren Sie und Ihresgleichen nicht bereit, über den geteilten Schmerz nachzudenken, der sie mit denjenigen verband, die sie angriffen hatten. Sie zogen sich in die Mythen ihres Andersseins zurück, in die Anmaßung ihrer Überlegenheit. Und diese Überzeugungen agierten sie auf der Weltbühne aus, so dass der ganze Planet von den Rückwirkungen ihrer Wutanfälle erschüttert wurde, nicht zuletzt auch meine Familie, der nun Tausende Meilen entfernt ein Krieg drohte. Ein solches Amerika musste nicht nur im Interesse der übrigen Menschheit gestoppt werden, sondern auch in seinem eigenen.
Also beschloss ich, es zu tun, so gut ich konnte. Aber erst musste ich ausreisen. An einem frischen, klaren Nachmittag, einem Nachmittag, der mich an meine Fahrt zu dem Heim und den Blick von dem Felsvorsprung über dem Hudson erinnerte, fuhr ich zum JFK. Ich stellte mir vor, wie Erica sich auszog und dann, nachdem sie sich ihrer Vergangenheit entledigt hatte, durch den Wald ging, bis sie auf eine freundliche Frau traf, die sie aufnahm und ihr zu essen gab. Ich stellte mir vor, wie kalt ihr wohl bei diesem Gang war. Und so ließ ich mein Jackett als eine Art Gabe, als meine letzte Geste vor meiner Rückkehr nach Pakistan, am Straßenrand liegen, als Wärmewunsch für Erica – nicht so, wie man Blumen für die Toten hinterlässt, sondern vielmehr, wie man mit Rupien über die Lebenden streicht. Später sah ich durch die Fenster des Terminals, dass ich einen Sicherheitsalarm ausgelöst hatte, und ich schüttelte verzweifelt den Kopf.
Was genau ich getan habe, um Amerika zu stoppen, fragen Sie mich? Haben Sie wirklich keine Ahnung, Sir? Sie zögern – keine Angst, ich bin nicht so grob, Ihnen mit Gewalt eine Antwort zu entlocken. Ich will Ihnen sagen, was ich getan habe, auch wenn es nicht viel war, und ich fürchte, dass ich Ihren Erwartungen hier nicht gerecht werde. Aber erst wollen wir den Markt verlassen, denn die Läden werden schon heruntergelassen, und es lungern einige zwielichtige Gestalten herum. Wo wohnen Sie? Im Pearl Continental, sagen Sie? Ich begleite Sie hin. Nein, es ist nicht weit, und obwohl es dunkel ist und unser Weg um diese Zeit teilweise unbelebt, sollte uns nichts geschehen. Wie gesagt, Lahore ist, was die Kleinkriminalität angeht, recht sicher. Und außerdem haben wir beide zum Glück eine Statur und Erscheinung, die Raufbolde nachdenklich stimmt.