Im Gegensatz zu Ihnen, Sir. Sie scheinen mir so schnell wie möglich wegzuwollen. Was hat Sie nur so verschreckt? War es das Geräusch in der Ferne? Ich versichere Ihnen, es war kein Pistolenknall – auch wenn ich verstehen kann, warum Sie das glauben –, sondern die Fehlzündung einer vorbeifahrenden Rikscha. Ihre Zweitakter sind nicht immer sonderlich gut in Schuss und stottern öfter mal so. Doch, doch, auch ich finde es äußerst verstörend. Wie? Uns folgt jemand? Ich sehe niemanden – nein, halt, jetzt, wo Sie es sagen, da in dem Dunkeln sind tatsächlich ein paar Gestalten. Nun, wir können nicht erwarten, die Mall Road für uns allein zu haben, selbst nicht zu dieser späten Stunde. Wahrscheinlich sind es nur Arbeiter auf dem Heimweg.
Ja, Sie haben recht: Sie sind stehen geblieben. Wie meinen Sie das, Sir, ob ich ihnen ein Zeichen gegeben hätte? Natürlich nicht! Ich weiß genauso wenig über ihre Beweggründe und ihre Identität wie Sie. Man kann nur spekulieren, dass sie vielleicht etwas haben fallen lassen oder gerade ins Gespräch vertieft sind. Oder sie fragen sich, warum wir stehen geblieben sind und ob wir etwas gegen sie im Schilde führen! Wie auch immer, wir brauchen uns keine übermäßigen Sorgen zu machen, setzen wir unseren mitternächtlichen Bummel einfach fort. Lahore hat schließlich acht Millionen Einwohner und ist keineswegs ein Wäldchen auf dem Lande, in dem Geister hausen.
Es freut mich, dass Sie weitergehen wollen. Wonach suchen Sie denn? Ah, nach Ihrem ungewöhnlichen Handy. Wenn Sie Ihren Kollegen eine SMS schicken, dann teilen Sie ihnen doch gleich mit, dass wir es nicht mehr weit zu Ihrem Hotel haben – höchstens noch eine Viertelstunde, würde ich sagen, was mir bedeutet, mich zu beeilen, wenn ich die Sache noch zu einem angemessenen Ende bringen will. Vorhin, Sir, haben Sie mich, falls Sie sich noch erinnern, gefragt, was ich getan habe, um Amerika zu stoppen. Nun, da wir auf das Ende unserer gemeinsamen Zeit zusteuern, will ich den Versuch unternehmen, Ihnen darauf zu antworten, auch wenn Sie möglicherweise enttäuscht sein werden.
Die Gefahr eines Krieges mit Indien erreichte ihren Höhepunkt im Sommer nach meiner Rückkehr aus New York. Multinationale Unternehmen auf beiden Seiten der Grenze holten ihre leitenden Angestellten zurück, und in allen Ländern der Ersten Welt wurden Reisehinweise ausgegeben, worin den Bürgern geraten wurde, nicht unbedingt notwendige Reisen in unsere Region zu verschieben. Anscheinend war das Wetter der einzige Faktor, der den offiziellen Beginn von Kampfhandlungen verzögerte: Erst war die Hitze zu groß für eine indische Offensive in der Wüste, dann machte der Monsunregen das Gelände im Punjab für die indischen Panzer tückisch. Der September galt als der beste Monat für eine Schlacht, da die Gebirgspässe in Kaschmir wohl schon Anfang Oktober vom Schnee geschlossen sein würden. Also warteten wir ab, während unser September verging – kaum bemerkt von den Medien Ihres Landes, deren Aufmerksamkeit zu der Zeit auf den ersten Jahrestag der Angriffe auf New York und Washington gerichtet war –, und dann wurden die Tage zunehmend kürzer, die Verhandlungen machten Fortschritte, und die Wahrscheinlichkeit einer Katastrophe, die Dutzende Millionen Menschen das Leben hätte kosten können, wurde geringer. Natürlich war die Atempause für die Menschheit nur kurz: Ein halbes Jahr später begann die Invasion des Irak.
Durch diese Konflikte schien sich ein roter Faden zu ziehen, und der bestand im Aufstieg einer kleinen Gruppe mit ihren eigenen Ideen von amerikanischen Interessen. Sie agierte unter dem Deckmantel des Kampfes gegen den Terrorismus, worunter man explizit nur den organisierten und politisch motivierten Mord an Zivilisten durch Killer verstand, die keine Soldatenuniform trugen. Wenn das die einzige, wichtigste Priorität unserer Spezies war, dann, so wurde mir klar, war das Leben derjenigen, die in Ländern lebten, in denen auch solche Killer lebten, ohne Bedeutung, es sei denn als Kollateralschaden. Daher, folgerte ich, fühlte sich Amerika auch berechtigt, so viel Tod nach Afghanistan und in den Irak zu tragen, daher fühlte sich Amerika auch berechtigt, so viele weitere Tote zu riskieren, indem es stillschweigend Indien benutzte, um Druck auf Pakistan auszuüben.
Unterdessen hatte ich eine Stelle als Lektor an der Universität bekommen, und ich machte es zu meiner Aufgabe, auf dem Campus für eine Loslösung meines Landes von Ihrem zu werben. Ich war bei meinen Studenten beliebt – vielleicht, weil ich jung war, vielleicht auch, weil sie erkannten, welchen praktischen Wert die Kenntnisse eines Ex-Janitscharen hatten, die ich in meinen Finanzseminaren an sie weitergab –, und es war nicht schwierig, sie davon zu überzeugen, wie wichtig es war, an Demonstrationen für eine größere Unabhängigkeit Pakistans innerer und äußerer Angelegenheiten teilzunehmen. Demonstrationen, die in der ausländischen Presse wenig später, nachdem unsere Versammlungen nachrichtenwürdige Ausmaße angenommen hatten, als antiamerikanisch etikettiert wurden.
Der erste unserer Proteste, der größere Aufmerksamkeit erregte, fand nicht weit von hier statt. Der Botschafter Ihres Landes war in der Stadt, und wir bildeten einen Ring um das Gebäude, in dem er sprach, skandierten und hielten Plakate hoch. Wir waren Tausende, alle erdenklichen Richtungen waren vertreten – Kommunisten, Kapitalisten, Feministinnen, religiöse Fundamentalisten –, und dann lief die Sache aus dem Ruder. Puppen wurden verbrannt und Steine geworfen, und darauf gingen zahlreiche Polizisten auf uns los, in Uniform und Zivil. Es kam zu Rangeleien, ich wollte eine schlichten, mit dem Ergebnis, dass ich eine Nacht mit blutender Lippe und aufgeschrammten Knöcheln im Gefängnis verbrachte.
In meiner Arbeitszeit fanden bald so viele Treffen mit politisch interessierten Jugendlichen statt, dass ich oft gezwungen war, bis weit nach dem Abendessen zu bleiben, um den universitären und außeruniversitären Ansprüchen all derer, die mich aufsuchten, auch gerecht zu werden. Naturgemäß wurde ich zum Mentor für viele dieser Männer und Frauen: Ich beriet sie nicht nur bei ihren Referaten und Kundgebungen, sondern auch in Herzensangelegenheiten und einer breiten Palette anderer Themen: von Drogenrehabilitation und Familienplanung über Frauenhäuser bis zu den Rechten von Gefangenen.
Ich will Ihnen nicht vormachen, dass alle meine Studenten Engel waren; manche, und da bin ich der Erste, der das zugibt, waren nicht besser als gemeine Schläger. Aber im Laufe der Jahre hatte ich die Fähigkeit entwickelt, einen Menschen schnell einzuschätzen – eine Fähigkeit, die, und dies nicht zu unterstreichen wäre nachlässig, in beträchtlichem Maße der meines damaligen Mentors Jim nachgebildet war –, und auch wenn ich mich nicht für unfehlbar halte, darf ich wohl sagen, dass meine Menschenkenntnis im Allgemeinen sehr gut ist. Beispielsweise weiß ich zumeist, wer in einer Menschenmenge am ehesten Gewalt provoziert oder wer von meinen Kollegen am ehesten den Rektor bedrängt, mich in meine Schranken zu weisen, bevor meine Aktivitäten außer Kontrolle geraten.