Paulo Coelho
Der Fünfte Berg
Prolog
Zu Beginn des Jahres 870 v. Chr. genoß ein Gebiet, das als Phönizien bekannt war und das die Israeliten Libanon nannten, seit fast drei Jahrhunderten Frieden. Seine Bewohner konnten stolz sein. Um in einer Welt zu überleben, die unter ständigen Kriegen litt, hatten sie aus ihrer politischen Schwäche heraus notgedrungen beneidenswert geschickte Verhandlungstechniken entwickelt. Um 1000 v. Chr. schlossen sie eine Allianz mit König Salomo, was ihnen auch erlaubte, ihre Handelsflotte zu modernisieren und ihren Handel weiter auszudehnen.
Die phönizischen Seefahrer waren bis an so ferne Gestade wie das heutige Spanien und den Atlantischen Ozean gekommen, und gewissen bisher unbestätigten Theorien zufolge mußten sie im Süden und im Nordosten des heutigen Brasilien Inschriften hinterlassen haben. Sie beförderten Glas, Zedernholz, Waffen, Eisen und Elfenbein. Die Bewohner der großen Städte wie Sidon, Tyrus und Byblos kannten die Zahlen, astronomische Berechnungen, kelterten Wein und benutzten seit etwa zweihundert Jahren zum Schreiben ein System von Buchstaben, das die Griechen später Alphabet nannten.
Zu Beginn des Jahres 870 v. Chr. trat an einem fernen Ort namens Ninive ein Kriegsrat zusammen. Eine Gruppe assyrischer Generäle hatte beschlossen, ihre Truppen in einen Eroberungskrieg gegen die an der Mittelmeerküste niedergelassenen Völker zu führen. Ihr erstes Ziel war Phönizien. Auch zu Beginn des Jahres 870 v. Chr. warteten in einem Pferdestall in Gilead, in Israel, zwei Männer darauf, in den nächsten Stunden zu sterben.
Erster Teil
Ich diente einem Herrn, der mich jetzt meinen Feinden ausliefert«, sagte Elia.
»Gott ist Gott«, antwortete der Levit. »Er hat Mose nicht gesagt, ob er gut oder böse ist. Er sagte nur: Ich bin, der ich bin. Und er ist alles, was es unter der Sonne gibt – der Donner, der das Haus zerstört, und die Hand des Menschen, die es wieder aufbaut.« Sie unterhielten sich, um ihre Angst zu vergessen. Jeden Augenblick konnten Soldaten die Tür des Pferdestalles aufstoßen, in dem die beiden sich befanden, sie entdecken und sie vor die einzig mögliche Wahl stellen: entweder den heidnischen Gott anzubeten, ihrem Gott abzuschwören, oder hingerichtet zu werden.
Würde der Levit seinen Glauben verraten und sein Leben retten, überlegte Elia. Er selbst hatte keine Wahl. Alles war seine Schuld, und Königin Isebel wollte seinen Kopf, um jeden Preis.
»Ein Engel des Herrn hat mich gezwungen, mit König Ahab zu sprechen, ich habe ihn gewarnt: Es wird so lange nicht mehr regnen, wie die Israeliten Baal anbeten«, und es klang fast so, als wollte er um Vergebung bitten dafür, daß er dem Engel gehorcht hatte. »Doch Gott handelt langsam. Wenn die Dürre unerträglich wird, hat Isebel längst alle vernichtet, die Gott treu blieben.« Der Levit sagte nichts.
»Wer aber ist Gott?« fuhr Elia fort. »Führt er die Hand des Soldaten, der mit seinem Schwert die hinrichtet, die den Glauben unserer Väter nicht verraten? Hat er eine fremde Prinzessin auf den Thron unseres Landes gesetzt, auf daß all dieses Unglück gerade jetzt geschehen konnte? Tötet Gott die Getreuen, die Unschuldigen, diejenigen, die die Gesetze Mose befolgen?« Der Levit traf seine Entscheidung. Er wollte lieber sterben. Der Gedanke an den Tod schreckte ihn nicht mehr. Er wandte sich an den jungen Propheten an seiner Seite und versuchte ihn zu beruhigen: »Frage Gott, denn an Seinen Entschlüssen zweifelst du«, sagte er. »Ich füge mich in mein Schicksal.« »Der Herr kann nicht wollen, daß wir gnadenlos dahingeschlachtet werden«, beharrte Elia.
»Gott kann alles. Würde Er nur das tun, was wir das Gute nennen, könnten wir Ihm nicht den Namen >der Allmächtige< geben. Er würde dann nur einen Teil des Universums beherrschen, und es gäbe jemanden, der mächtiger wäre als Er und der Sein Handeln überwacht und beurteilt. Wäre es so, dann würde ich dieses noch mächtigere Wesen anbeten.« »Wenn Er alles kann, warum verschont Er nicht jene vom Leiden, die ihn lieben? Warum rettet er sie nicht und gibt Seinen Feinden den Ruhm und die Macht?« »Ich weiß es nicht«, antwortete der Levit, »doch es gibt einen Grund, und ich hoffe ihn bald zu erfahren.« »Ihr habt keine Antwort auf diese Frage.« »Nein.« Beide schwiegen. Elia brach der kalte Schweiß aus.
»Ihr zittert vor Angst, ich aber habe mich in mein Schicksal gefügt«, meinte der Levit. »Ich werde hinausgehen und dieser Qual ein Ende bereiten. Jedesmal, wenn ich von draußen einen Schrei höre, muß ich an mein eigenes bevorstehendes Ende denken. Seit wir hier eingeschlossen sind, bin ich schon hundert Tode gestorben und müßte doch nur einmal sterben.
Wenn ich schon geköpft werden soll, dann so schnell wie möglich.« Auch Elia hörte die Schreie und auch er litt Todesängste.
»Ich gehe mit Euch. Ich bin es leid, um ein paar Lebensstunden mehr zu kämpfen.« Er erhob sich und öffnete die Stalltür.
Der Levit faßte ihn am Arm, und zusammen machten sie sich auf den Weg. Wären da nicht von Zeit zu Zeit die Schreie gewesen, man hätte diesen Tag für einen beliebigen Tag in einer beliebigen Stadt halten können: Die Sonne brannte nicht auf der Haut, weil eine milde Brise vom fernen Meer her durch die staubigen Straßen mit ihren Lehmziegelhäusern wehte.
»Unsere Seelen sind dem Schrecken und dem Tode verhaftet, und dennoch ist es ein so schöner Tag«, sagte der Levit.
»Früher, als ich mit der Welt und mit Gott im reinen war, war es oft unerträglich heiß, ließ der Wüstenwind meine Augen tränen, und ich konnte kaum die Hand vor Augen sehen. Nicht immer paßt der Plan Gottes zu dem, was wir erleben und wie wir uns fühlen. Doch bin ich mir sicher, daß Er für all dies einen Grund hat.« »Ich bewundere Euren Glauben.« Der Levit blickte nachdenklich zum Himmel. Dann wandte er sich an Elia.
»Wundert Euch nicht über mich: Es war eine Wette, die ich mit mir selbst geschlossen habe. Ich habe gewettet, daß Gott existiert.« »Ihr seid ein Prophet«, entgegnete Elia. »Auch Ihr hört Stimmen und wißt, daß es jenseits dieser Welt eine andere Welt gibt.« »Vielleicht bilde ich mir das alles nur ein.« »Ihr habt Gottes Zeichen schon gesehen«, beharrte Elia, den die Bemerkungen seines Gefährten beunruhigten.
»Vielleicht bilde ich mir das alles nur ein«, war wieder die Antwort. »Für mich zählt nur meine Wette: Ich habe mir gesagt, daß all dies vom Allerhöchsten kommt.« Die Straße war menschenleer. Die Leute warteten in ihren Häusern darauf, daß die Soldaten von Ahab taten, was die fremde Prinzessin verlangte, und die Propheten Israels hinrichteten. Elia schritt mit dem Leviten dahin, wähnte hinter jedem Fenster, hinter jeder Tür jemanden, der ihn beobachtete – und ihn für das verantwortlich machte, was geschah.
»Ich wollte nicht Prophet werden. Aber vielleicht bilde ich es mir nur ein«, überlegte Elia.
Doch nach dem, was in der Tischlerei geschehen war, wußte er, daß das nicht stimmte.
Von klein auf hatte er Stimmen gehört und mit den Engeln gesprochen. Damals hatten ihn seine Eltern gedrängt, einen Priester Israels aufzusuchen, der – nachdem er viele Fragen gestellt hatte – befand, daß er ein nabi, ein Prophet, sei, ein »Mann des Geistes«, aus dem »die Stimme Gottes spricht«.
Nachdem er viele Stunden mit ihm gesprochen hatte, sagte der Priester zu Elias Eltern, daß alles, was der Junge in Zukunft sagen würde, ernst zu nehmen sei.
Als sie von dort weggingen, verlangten die Eltern von Elia, daß er niemandem je sagen dürfe, was er sah oder hörte, denn Prophet sein bedeutete, mit den Regierenden verbunden zu sein, und das sei immer gefährlich.
Nun hörte Elia jedoch nie etwas, was die Priester oder die Könige hätte interessieren können. Er redete nur mit seinem Schutzengel, hörte auf dessen Ratschläge für sein eigenes Leben. Manchmal hatte er Visionen, die er nicht verstand – von fernen Ozeanen, von Bergen, in denen fremdartige Wesen lebten, von geflügelten Rädern mit Augen. Wenn diese Visionen verschwanden, tat er alles, um sie so schnell wie möglich zu vergessen, ganz wie seine Eltern ihn geheißen hatten. Daher wurden die Stimmen und Visionen immer seltener. Seine Eltern waren froh darüber und redeten nicht mehr davon. Als er alt genug war, um sich selbst zu ernähren, liehen sie ihm Geld, damit er eine kleine Tischlerei aufmachte.
Hin und wieder sah er voller Ehrfurcht auf die anderen Propheten, die in ihren mit Ledergürteln zusammengehaltenen Fellumhängen durch die Straßen von Gilead wanderten und sagten, der Herr habe sie dazu auserkoren, das auserwählte Volk zu führen. Nun, sein Schicksal war das nicht. Nie würde er sich durch Tänze und Selbstkasteiung in Trance versetzen können, was unter den »von der Stimme Gottes Ergriffenen« der Brauch war – dazu fürchtete er Schmerzen zu sehr. Niemals würde er durch die Straßen von Gilead gehen und stolz die Wunden vorzeigen, die er sich in seiner Ekstase zugefügt hatte – dazu war er viel zu schüchtern.
Elia hielt sich für einen ganz gewöhnlichen Menschen, der sich wie alle anderen kleidete und dessen Seele mit genau denselben Ängsten und Versuchungen kämpfte wie die aller anderen Sterblichen auch. Je mehr er in seiner Arbeit als Tischler aufging, desto seltener hörte er Stimmen, bis sie ganz ausblieben. Denn Erwachsene und solche, die ihr Leben mit Arbeit verdienen, haben keine Zeit für solche Dinge. Seine Eltern waren zufrieden mit ihrem Sohn, und das Leben verlief harmonisch und friedlich.
Das Gespräch, das er als Kind mit dem Priester geführt hatte, war nur noch eine ferne Erinnerung. Elia konnte nicht glauben, daß Gott der Allmächtige zu den Menschen sprechen mußte, um seine Befehle durchzusetzen. Was in seiner Kindheit geschehen war, konnten nur die Phantasien eines Jungen gewesen sein, der nichts Besseres zu tun hatte. In Gilead, seiner Heimatstadt, gab es einige sogenannte >Verrückte<. Sie verbrachten ihr Leben auf der Straße, predigten das Ende der Welt und lebten von Almosen. Dennoch hatte sie nie ein Priester »von Gott Ergriffene« genannt.