Einstweilen würde er es auf gar keinen Fall zulassen, daß sein Volk vom Geld verraten würde.
»Schick mich nach Israel zurück, Herr«, flehte Elia immer und immer wieder, wenn er nachmittags durch das Tal wanderte.
»Laß nicht zu, daß mein Herz hier in Akbar gefangengehalten wird.« Einem Brauch der Propheten folgend, den er aus seiner Kindheit kannte, geißelte er sich jedesmal, wenn er an die Witwe dachte. Von der Peitsche waren seine Schultern bald nur noch rohes Fleisch, und er fiel zwei Tage lang in ein fiebriges Delirium. Als er wieder erwachte, war das erste, was er sah, das Gesicht der Frau. Sie behandelte seine Wunden, rieb sie mit Olivenöl ein. Da er zu schwach war, um in den Wohnraum hinunterzusteigen, brachte sie ihm sein Essen hinauf.
Sobald er wieder gesund war, nahm er seine Wanderungen im Tal wieder auf.
»Schick mich nach Israel zurück, Herr«, flehte er erneut. »Mein Herz ist schon in Akbar gefangen, doch mein Körper kann die Reise noch antreten.« Der Engel erschien. Es war nicht der Engel des Herrn, den er oben auf dem Berg gesehen hatte, sondern sein Schutzengel, an dessen Stimme er schon gewohnt war.
»Der Herr erhört die Gebete derer, die den Haß vergessen wollen. Doch sein Ohr ist taub für die, die der Liebe entrinnen wollen.« Sie nahmen das Abendessen immer zu dritt ein. Wie der Herr versprochen hatte, mangelte es nie an Mehl im Topf und an Öl im Krug.
Während der Mahlzeiten wurde nur selten gesprochen. An einem Abend jedoch fragte der Junge: »Was ist ein Prophet?« »Jemand, der immer dieselben Stimmen hört, die er schon als Kind gehört hat. Und der noch an sie glaubt. So kann er erfahren, was die Engel denken.« »Ja, ich weiß, wovon Ihr redet«, sagte der Junge. »Ich habe Freunde, die niemand sonst sieht.« »Vergiß sie nie, auch wenn die Erwachsenen sagen, daß dies Unsinn sei. So wirst du immer wissen, was Gott will.« »Ich werde die Zukunft kennen wie die Weissager von Babylon«, sagte der Junge.
»Die Propheten kennen die Zukunft nicht. Sie geben nur die Worte wieder, die ihnen der Herr im Augenblick eingibt.
Deshalb bin ich hier, ohne zu wissen, wann ich in mein Land zurückkehre. Er wird es mir nicht sagen, bevor es notwendig ist.« Die Augen der Frau trübten sich. Ja, eines Tages würde er gehen.
Elia rief den Herrn nicht mehr an. Er hatte beschlossen, daß er die Witwe und ihren Sohn mit sich nehmen würde, wenn der Augenblick kam, Akbar zu verlassen. Er würde nichts darüber sagen, bis die Stunde gekommen war.
Vielleicht wollte sie ja gar nicht weggehen. Vielleicht hatte sie gar nicht gespürt, was er für sie empfand – schließlich hatte er selbst lange gebraucht, es zu begreifen. In dem Fall könnte er sich ganz der Vertreibung Isebels und dem Aufbau Israels widmen. Seine Gedanken wären viel zu sehr in Anspruch genommen, als daß er an Liebe denken könnte.
»Der Herr ist mein Hirte«, sagte er, indem er sich an das alte Gebet König Davids erinnerte. »Er führet mich zum frischen Wasser. Er erquicket meine Seele. Und er wird mich den Sinn meines Lebens nicht verlieren lassen«, schloß er mit eigenen Worten.
Eines Nachmittags, als er früher als gewohnt nach Hause kam, traf er die Witwe auf der Schwelle des Hauses sitzend an.
»Was tut Ihr?« »Ich habe nichts zu tun«, antwortete sie.
»Dann lernt etwas. Zur Zeit haben viele Menschen ihr Leben aufgegeben. Sie langweilen sich nicht, sie weinen nicht, sie lassen nur die Zeit verstreichen. Sie nehmen die Herausforderungen des Lebens nicht an, und das Leben fordert sie nicht mehr heraus. Ihr lauft diese Gefahr. Tut etwas, stellt Euch dem Leben, gebt Euch nicht auf.« »Mein Leben hat wieder einen Sinn erhalten«, sagte sie, und blickte zu Boden. »Seit Ihr gekommen seid.« Für den Bruchteil einer Sekunde spürte er, daß er ihr sein Herz öffnen konnte. Doch er beschloß, es nicht zu riskieren – sie meinte sicher etwas ganz anderes.
»Tut etwas, unternehmt etwas«, sagte er, indem er das Thema wechselte. »So wird die Zeit zu Eurem Verbündeten und nicht zu Eurem Feind.« »Was könnte ich lernen?« Elia überlegte kurz.
»Die Schrift von Byblos. Sie wird nützlich sein, wenn Ihr eines Tages reisen müßt.« Die Frau beschloß, sich mit Herz und Seele diesem Studium zu verschreiben. Sie hatte nie daran gedacht, Akbar zu verlassen, doch so wie er redete, könnte es bedeuten, daß er sie mit sich nehmen wollte.
Sie fühlte sich abermals frei. Wieder erwachte sie im Morgengrauen und ging lächelnd durch die Straßen der Stadt.
»Elia lebt immer noch«, sagte zwei Monate später der Kommandant zum Priester. »Du hast es nicht geschafft, ihn umzubringen.« »Es gibt in ganz Akbar keinen Mann, der sich dafür hergibt. Der Israeli! hat die Kranken getröstet, die Gefangenen besucht, die Hungernden gespeist. Wenn jemand einen Streit mit dem Nachbarn hat, kommt er zu ihm, und alle nehmen seinen Richtspruch an, weil er gerecht ist. Der Stadthauptmann benutzt ihn im stillen, um seine eigene Beliebtheit zu vergrößern.« »Die Kaufleute wollen keinen Krieg. Wenn der Stadthauptmann weiterhin so beliebt ist und es ihm sogar gelingt, die Bevölkerung davon zu überzeugen, daß ein Frieden vorzuziehen ist, gelingt es uns niemals, die Assyrer von hier zu vertreiben. Daher muß Elia sterben.« Der Priester wies auf den Fünften Berg, dessen Gipfel wie immer in Wolken gehüllt war.
»Die Götter werden nicht zulassen, daß ihr Land von einer fremden Macht erniedrigt wird. Sie werden schon etwas tun: Es wird irgend etwas geschehen, und das werden wir uns zunutze machen.« »Was denn?« »Ich weiß es nicht. Aber ich werde die Zeichen aufmerksam beobachten. Gebt keine genauen Informationen über die Zahl der fremden Soldaten heraus. Wenn Euch jemand fragt, sagt einfach, das Verhältnis sei immer noch vier zu eins. Und laßt Eure Truppen weiter üben.« »Warum soll ich das tun? Wenn das Verhältnis fünf zu eins steht, sind wir verloren.« »Nein: Wir wären gleich stark. Wenn die Schlacht stattfinden sollte, werdet Ihr nicht gegen einen unterlegenen Feind kämpfen, und man wird Euch nicht für einen Feigling halten, der die Schwächeren mißbraucht. Das Heer von Akbar wird sich einem Gegner stellen, der genauso mächtig ist wie es selbst.
Und es wird die Schlacht gewinnen, weil sein Kommandant die bessere Strategie entwickelt haben wird.« Bei seiner Eitelkeit gepackt, willigte der Kommandant in den Vorschlag ein. Und von diesem Augenblick an begann er dem Stadthauptmann und Elia Informationen zu verheimlichen.
Weitere zwei Monate vergingen. Eines Morgens hatte das assyrische Heer das Verhältnis von fünf zu eins erreicht. Es konnte jeden Augenblick angreifen.
Seit einiger Zeit schon hatte Elia das ungute Gefühl, daß der Kommandant log, was die Kräfte des feindlichen Heeres betraf, doch letztlich würde sich das zu seinen Gunsten auswirken: Wenn das Verhältnis seinen kritischen Punkt erreicht haben würde, wäre es einfach, die Bevölkerung davon zu überzeugen, daß der Friede die einzige Lösung sei.
Er dachte darüber nach, als er sich zu der Stelle des Marktplatzes begab, an dem er einmal in der Woche den Bewohnern half, ihre Streitigkeiten zu schlichten. Im allgemeinen waren es Nichtigkeiten: Streit zwischen Nachbarn, alte Leute, die keine Steuern mehr zahlen wollten, Kaufleute, die glaubten, bei ihren Geschäften benachteiligt zu werden.
Der Stadthauptmann war auch anwesend. Er pflegte hin und wieder zu erscheinen, um ihm zuzuschauen. Die Abneigung, die Elia gegen ihn gehegt hatte, war gewichen, und der Stadthauptmann entpuppte sich als ein weiser Mann, dem daran gelegen war, Konflikte schon im Vorfeld zu lösen – wenngleich er nicht an die spirituelle Welt glaubte und sich sehr davor fürchtete zu sterben. Mehr als einmal hatte er seine Autorität ins Spiel gebracht, um einer Entscheidung von Elia die Kraft eines Urteils zu verleihen. Manchmal war er auch mit einem Richtspruch nicht einverstanden gewesen, und im nachhinein hatte Elia dem Stadthauptmann recht geben müssen.
Akbar wurde allmählich zu einer phönizischen Musterstadt. Der Stadthauptmann hatte ein gerechteres Steuersystem geschaffen, die Straßen in der Stadt verbessert, er wußte die Einnahmen, die die Stadt aus den Steuern auf die Waren erhielt, klug zu verwalten. Es gab eine Zeit, da hatte ihn Elia gebeten, das Trinken von Wein und Bier zu verbieten, weil die meisten Streitigkeiten, die er zu schlichten hatte, von Betrunkenen ausgelöst worden waren. Der Stadthauptmann hatte jedoch eingewandt, so etwas gehöre zum Leben einer Stadt und es hätte immer geheißen, daß die Götter sich freuten, wenn die Menschen sich nach einem Arbeitstag vergnügten, und daß sie die Betrunkenen beschützten. Zudem sei die Region berühmt dafür, weltweit einen der besten Weine herzustellen. Und die Fremden würden mißtrauisch werden, wenn man in Akbar den eigenen Wein verschmähte.
Elia respektierte die Entscheidung des Stadthauptmanns und stimmte mit ihm darin überein, daß fröhliche Menschen mehr produzieren.
»Ihr braucht Euch nicht so sehr zu mühen«, sagte der Stadthauptmann, bevor Elia sich an die Arbeit dieses Tages machte. »Ein Helfer hilft der Regierung nur mit seiner Meinung.« »Ich habe Heimweh und möchte gern in mein Land zurück.
Doch solange ich mich hier nützlich mache, kann ich vergessen, daß ich hier fremd bin«, entgegnete er. >Und ich kann meine Liebe zu ihr besser unter Kontrolle behalten<, dachte er bei sich.
Das Gericht des Volkes hatte ein zahlreiches und aufmerksames Publikum bekommen. Die Leute strömten herbei: Viele alte Leute waren darunter, die nicht mehr draußen auf den Feldern arbeiten konnten und nun herkamen, um die Richtsprüche Elias abwechselnd zu beklatschen und auszubuhen; andere waren am Schiedsspruch direkt interessiert, weil er entweder Profit oder einen Verlust für sie bedeutete; auch Frauen und Kinder fanden sich ein, die keine Arbeit hatten und so die Zeit totschlugen.
Elia legte kurz die Fälle dar, die an diesem Morgen anstanden: Der erste Fall war der eines Hirten, der von einem Schatz träumte, welcher in der Nähe der Pyramiden versteckt lag, und der Geld brauchte, um dahin zu gelangen. Elia war nie in Ägypten gewesen, doch er wußte, daß es weit weg lag, und sagte dem Hirten, daß er die Mittel für die Reise kaum zusammenbekommen würde – es sei denn, er verkaufte seine Schafe und bezahlte den Preis für seinen Traum: Dann würde er ganz gewiß finden, was er suchte. Anschließend kam eine Frau, die die magischen Künste Israels lernen wollte. Elia sagte, er sei kein Meister der Magie, sondern nur ein Prophet.