Kurz vor Einbruch der Nacht ließ sich ein Rabe – derselbe? – auf dem Ast nieder, auf dem er ihn schon am Morgen gesehen hatte. In seinem Schnabel hielt er ein kleines Stück Fleisch, das er plötzlich fallen ließ.
Für Elia war es ein Wunder. Er lief zum Baum, griff sich das Stückchen und aß es. Er wußte nicht, woher es kam, und wollte es auch nicht wissen. Hauptsache, er konnte seinen Hunger ein wenig stillen.
Seine jähe Bewegung hatte den Vogel nicht verscheucht.
>Dieser Vogel weiß, daß ich hier Hungers sterben werde<, dachte Elia. >Er ernährt seine Beute, um später ein üppigeres Mahl zu haben.< Isebel gab mit Elias Flucht auch dem Glauben an Baal neue Nahrung.
Geraume Zeit beäugten der Mensch und der Vogel einander.
»Ich würde mich gern mit dir unterhalten, Rabe. Heute morgen dachte ich, daß die Seelen Nahrung brauchen. Wenn meine Seele noch nicht Hungers gestorben ist, dann nur, weil sie noch etwas zu sagen hat.« Der Rabe regte sich noch immer nicht.
»Und wenn sie etwas zu sagen hat, dann muß ich ihr stumm zuhören, weil ich sonst niemanden habe, mit dem ich sprechen kann«, fuhr Elia fort.
Elia verwandelte sich in Gedanken in den Raben.
»Was erwartet Gott von dir«, fragte er sich, als wäre er der Rabe.
»Er erwartet von mir, daß ich Prophet bin.« »Das haben die Priester gesagt. Doch vielleicht ist es überhaupt nicht das, was Gott will.« »Doch, genau das will Er. Denn ein Engel ist in der Tischlerwerkstatt erschienen und hat mich gebeten, daß ich mit Ahab rede. Die Stimmen, die ich in meiner Jugend hörte…« »…die alle Menschen in ihrer Jugend hören«, unterbrach ihn der Rabe.
»Doch nicht alle sehen einen Engel«, sagte Elia.
Darauf sagte der Rabe nichts. Nach einer Weile brach der Vogel das Schweigen – oder vielmehr Elias eigene Seele, die wegen der Sonne und der Einsamkeit der Wüste delirierte.
»Erinnerst du dich an die Frau, die Brot backte?« fragte er sich.
Elia erinnerte sich wohl. Sie war zu ihm gekommen, um ihn zu bitten, ein paar Tabletts zu machen. Während Elia tat, worum sie ihn gebeten hatte, hörte er, wie sie sagte, daß die Art, wie er seine Arbeit machte, irgendwie Gottes Gegenwart ausdrückte.
»Wenn ich sehe, wie du die Tabletts machst, ist mir klar, daß du es auch so siehst«, fuhr sie fort. »Denn du lächelst bei der Arbeit.« Die Frau teilte die Menschen in zwei Gruppen. Die, die sich an dem freuten, was sie taten, und die, die sich darüber beklagten.
Letztere bewiesen, daß für sie der Fluch Gottes über Adam die einzige Wahrheit war: »Verflucht sei der Acker um deinetwillen!
Mit Mühsal sollst du dich von ihm nähren dein Leben lang.« Sie hatten keine Freude an der Arbeit, und langweilten sich an den heiligen Tagen, weil sie ausruhen mußten. Sie benutzten die Worte Gottes als eine Entschuldigung für ihr unnützes Leben und vergaßen, daß er zu Mose auch gesagt hatte: »Der Herr, dein Gott segnet dich in deinem Lande, das Er dir als Erbe gibt, damit du es besitzest.« »Ja, ich erinnere mich an diese Frau. Sie hatte recht. Ich liebte meine Arbeit in der Tischlerwerkstatt. Jeder Tisch, den ich baute, jeder Stuhl, den ich mit Schnitzwerk versah, ließen mich das Leben verstehen und lieben – obwohl ich es erst jetzt begreife. Sie sagte, ich würde mit den Dingen sprechen, die ich herstellte, und mich wundern, wenn ich sehen würde, daß die Tische und die Stühle fähig waren zu antworten, weil ich in sie das Beste meiner Seele hineinlegte – und ich würde als Gegenleistung die Weisheit erlangen.« »Hättest du nicht als Tischler gearbeitet, wärest du auch nicht fähig gewesen, deine Seele aus dir heraustreten zu lassen, dir vorzustellen, du seist ein sprechender Rabe, und zu begreifen, daß du besser und weiser bist, als du denkst«, war die Antwort.
»Weil du im Tischlern das Heilige entdeckt hast, das überall ist.« »Es hat mir schon immer gefallen, so zu tun, als spräche ich mit den Tischen und Stühlen, die ich baute. Ist das nicht ausreichend? Die Frau hatte recht, denn wenn ich mit ihnen sprach, kam ich auf Gedanken, die mir nie zuvor in den Sinn gekommen waren. Doch als ich begriff, daß ich Gott auf diese Weise dienen könnte, da erschien der Engel, und ich… nun ja – das Ende der Geschichte kennst du.« »Der Engel ist erschienen, weil du für ihn bereit warst«, entgegnete der Rabe.
»Ich war ein guter Tischler.« »Das war Teil deiner Lehrzeit. Wenn ein Mensch seinem Schicksal entgegengeht, muß er häufig die Richtung wechseln.
Manchmal sind die äußeren Umstände stärker und er muß feige nachgeben. Das alles gehört mit zur Lehrzeit.« Elia hörte seiner Seele aufmerksam zu.
»Doch niemand darf aus den Augen verlieren, was er wirklich will. Selbst wenn er manchmal glaubt, die Welt und die anderen seien stärker. Das Geheimnis ist, nicht aufzugeben.« »Ich wollte nie ein Prophet sein«, sagte Elia.
»Das wolltest du schon, aber du warst überzeugt, es sei unmöglich oder gefährlich, undenkbar.« »Warum sage ich mir Dinge, die ich nicht hören will?« rief Elia und erhob sich abrupt.
Erschrocken flog der Vogel davon.
Der Rabe kehrte am nächsten Morgen zurück. Anstatt das Gespräch wieder aufzunehmen, beobachtete ihn Elia, denn das Tier hatte immer etwas zu essen und ließ ihm immer irgendwelche Reste da.
Eine geheimnisvolle Freundschaft entwickelte sich zwischen ihnen, und Elia begann den Vogel zu beobachten und von ihm zu lernen. Wenn es diesem gelang, in der Wüste Eßbares zu finden, dann würde er auch einige Tage überleben können.
Wenn der Rabe seine Kreise zu fliegen begann, dann wußte er, daß Beute in der Nähe war, und lief hin und versuchte sie zu fangen. Anfangs entwischten ihm die kleinen Wüstentiere regelmäßig, doch mit der Zeit stellte er sich geschickter an, benutzte Zweige als Speere, grub Fallen, die er unter einer feinen Schicht Kiesel und Sand verbarg. Wenn die Beute dort hineinfiel, teilte Elia sie mit dem Raben und behielt ein Stückchen als Köder übrig.
Doch die Einsamkeit lastete auf ihm, und er nahm das >Gespräch< mit dem Vogel wieder auf.
»Wer bist du?« fragte er den Vogel.
»Ich bin ein Mann, der Frieden gefunden hat«, antwortete Elia.
»Ich kann in der Wüste leben, selbst für mich sorgen und die unendliche Schönheit von Gottes Schöpfung betrachten. Ich habe herausgefunden, daß ich eine Seele in mir habe, die besser ist, als ich dachte.« Die beiden jagten noch mehr als einen Mond lang zusammen.
Als eines Nachts seine Seele von Trauer erfüllt war, beschloß er erneut zu fragen: »Wer bist du?« »Ich weiß es nicht.« Ein weiterer Mond starb und wurde am Himmel wiedergeboren.
Elia fühlte, daß sein Körper jetzt stärker war, sein Geist klarer.
In dieser Nacht wandte er sich an den Raben, der wieder auf seinem gewohnten Zweig saß. Und er wiederholte die Frage, die er vor einiger Zeit schon einmal gestellt hatte.
»Ich bin ein Prophet. Ich habe einen Engel gesehen, während ich arbeitete, und ich kann nicht an dem zweifeln, was ich zu tun in der Lage bin, selbst wenn die Menschen das Gegenteil behaupten. Ich habe ein Massaker in meinem Land hervorgerufen, weil ich die Geliebte meines Königs herausgefordert habe. Ich bin in der Wüste – wie ich vorher in einer Tischlerwerkstatt war –, weil meine Seele mir gesagt hat, daß ein Mensch verschiedene Etappen durchlaufen muß, bevor er sein Schicksal erfüllen kann.« »Ja, jetzt weißt du, wer du bist«, meinte der Rabe.
Als Elia in jener Nacht von der Jagd zurückkam, wollte er ein wenig Wasser trinken. Und da sah er, daß der Bach Krith vertrocknet war. Doch er war so müde, daß er beschloß zu schlafen.
Im Traum erschien ihm sein Schutzengel, den er so lange nicht mehr gesehen hatte.
»Der Engel des Herrn hat mit deiner Seele gesprochen«, sagte der Schutzengel, »und er befahl dir: Geh weg von hinnen und wende dich gegen Morgen und verbirg dich am Bach Krith, der gegen den Jordan fließt; und sollst vom Bach trinken; und ich habe den Raben geboten, daß sie dich daselbst sollen versorgen.« »Meine Seele hat es gehört«, sagte Elia im Traum.
»Dann wach auf, denn der Engel des Herrn bittet mich, daß ich mich entfernen möge, und will mit dir sprechen.« Mit einem Satz sprang Elia auf. Was war geschehen?
Obwohl es Nacht war, erfüllte sich der Ort mit Licht, und der Engel des Herrn erschien.
»Was hat dich hierher geführt?« fragte der Engel.
»Du hast mich hierhergeführt.« »Nein. Isebel und ihre Soldaten sind der Grund für deine Flucht.
Vergiß das nie, denn deine Mission ist es, Gott, deinen Herrn, zu rächen.« »Ich bin ein Prophet, weil du vor mir stehst und ich deine Stimme höre«, sagte Elia. »Ich habe viele Male die Richtung meines Wegs geändert, weil alle Menschen dies tun. Doch ich bin bereit, nach Samaria zu gehen und Isebel zu zerstören.« »Du hast deinen Weg gefunden, doch du kannst nichts zerstören, solange du nicht gelernt hast, etwas aufzubauen. Ich befehle dir: Mach dich auf und gehe gen Zarpat, welches bei Sidon liegt, und bleibe daselbst; denn ich habe daselbst einer Witwe geboten, daß sie dich versorge.« Am nächsten Morgen suchte Elia den Raben, um sich von ihm zu verabschieden. Aber zum ersten Mal, seit Elia am Ufer des Baches Krith angekommen war, blieb der Vogel aus.
Elia war tagelang unterwegs, bis er in das Tal gelangte, in dem die Stadt Zarpat lag, die ihre Bewohner Akbar nannten. Als er am Ende seiner Kräfte angelangt war, sah er eine schwarz gekleidete Frau, die Brennholz sammelte. Es gab nur niedriges Buschwerk, und daher mußte sie sich mit kleinen trockenen Zweigen begnügen.
»Wer seid Ihr?« fragte er.
Die Frau blickte den Fremden an, ohne recht zu verstehen, was er sagte.
»Bringt mir einen Krug Wasser zum Trinken«, sagte Elia. »Und bringt mir auch ein Stückchen Brot.« Die Frau legte das Brennholz ab, sagte aber nichts.