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»Ihr werdet auf den Fünften Berg steigen«, sagte der Priester.

»Dort werdet Ihr die erzürnten Götter um Vergebung bitten. Sie werden das Feuer des Himmels auf Euch herabsenden und Euch töten. Tun sie es nicht, so ist es ihr Wille, daß die Gerechtigkeit durch uns wiederhergestellt werde. Wir werden am Fuß des Berges auf Euch warten und Euch morgen hinrichten.« Elia kannte die rituellen Hinrichtungen sehr wohclass="underline" Dem Verurteilten wurde das Herz aus dem Leib gerissen und der Kopf abgeschlagen. Nach phönizischem Glauben kam ein Mensch ohne Herz nicht ins Paradies.

»Warum hast Du mich hierzu auserwählt, Herr?« rief Elia laut, weil die Menschen um ihn herum nicht verstehen konnten, wofür Gott ihn bestimmt hatte. »Siehst Du denn nicht, daß ich unfähig bin zu erfüllen, was Du verlangt hast.« Doch er erhielt keine Antwort.

Die Männer und Frauen von Akbar zogen hinter der Gruppe der Wachsoldaten her, die den Israeliten zum Fünften Berg brachten. Sie beschimpften ihn laut und bewarfen ihn mit Steinen. Die Soldaten konnten die zornige Menge nur mit Mühe in Schach halten. Nach einer halben Stunde Fußmarsch gelangten sie an den Fuß des Berges.

Die Gruppe blieb vor den steinernen Altären stehen, wo sonst die Opfergaben dargebracht und die Gebete gesprochen wurden. Alle wußten von den legendären Riesen, die an diesem Ort lebten und die alle, die gegen das Gesetz verstoßen hatten, mit dem Feuer des Himmels bestraften. Reisende, die nachts durch das Tal kamen, wollten das Gelächter der Götter und Göttinnen gehört haben, und darum wagte keiner, den Göttern zu trotzen.

»Los jetzt«, sagte ein Soldat und schubste Elia mit der Spitze seiner Lanze an. »Wer ein Kind tötet, verdient die schlimmste aller Strafen.« Elia betrat das verbotene Gelände und begann den Hang hinaufzusteigen. Nachdem er eine Weile gewandert war, konnte er das Geschrei der Leute von Akbar nicht mehr hören.

Er setzte sich auf einen Stein und weinte: Seit jenem Nachmittag in der Tischlerwerkstatt, als er die von glänzenden Lichtpunkten durchflirrte Dunkelheit sah, hatte er nur Unglück über andere gebracht.

Der Herr hatte seine Fürsprecher in Israel verloren, und die phönizischen Götter hatten sich durchgesetzt. In seiner ersten Nacht am Bach Krith hatte Elia gedacht, Gott habe auch ihn, wie viele Propheten vor ihm, dazu auserwählt, ein Märtyrer zu werden.

Aber der Herr hatte einen Raben – einen weissagenden Vogel – geschickt, der Elia ernährte, bis der Bach Krith ausgetrocknet war. Warum Raben und keine Taube oder einen Engel? Oder war dies alles am Ende nur eine Wahnvorstellung von jemandem, der zu lange in der Sonne gewesen war oder sich seine Angst nicht eingestehen wollte? Elia besaß jetzt keine Gewißheiten mehr: Vielleicht hatte das Böse sein Werkzeug gefunden – und er war dieses Werkzeug. Warum hatte ihn Gott nach Akbar geschickt anstatt zurück nach Israel, um der Prinzessin ein Ende zu bereiten, die seinem Volk so viel Leid zufügte.

Er hatte gehorcht, obschon er sich dabei feige vorgekommen war. Er hatte gekämpft, um sich an dieses fremde freundliche Volk und seine vollkommen andere Kultur anzupassen. Gerade als er meinte, sein Schicksal erfüllt zu haben, war der Sohn der Witwe gestorben.

»Warum ich?« Er erhob sich, wanderte weiter, bis er in den Nebel kam, der den Gipfel des Berges bedeckte. Er könnte die schlechte Sicht ausnutzen und seinen Verfolgern entwischen, doch wozu? Er war es leid zu fliehen, er wußte, daß er nirgends in der Welt heimisch werden würde. Selbst wenn ihm die Flucht jetzt gelänge, den Fluch würde er dadurch nicht los, er würde ihn begleiten, und in anderen Städten würde es andere Tragödien geben. Er würde den Schatten dieser Toten mit sich tragen, wohin er auch ginge. Es war besser, daß man ihm das Herz aus dem Leibe riß, seinen Kopf abschlug.

Er setzte sich abermals nieder, diesmal mitten im Nebel. Er hatte beschlossen, etwas zu warten, damit die Leute unten dachten, daß er bis zum Gipfel des Berges hinaufgestiegen sei.

Anschließend würde er nach Akbar zurückkehren und sich seinen Häschern stellen.

»Das Feuer des Himmels.« Vielen Menschen hatte es schon den Tod gebracht, obwohl Elia bezweifelte, daß es vom Herrn geschickt war. In mondlosen Nächten irrlichterte es am Firmament, blitzte auf und verschwand plötzlich wieder.

Vielleicht verbrannte es. Vielleicht tötete es sofort, schmerzlos.

Die Nacht brach herein, und der Nebel hob sich. Er konnte ins Tal hinunter sehen, zu den Lichtern von Akbar und den assyrischen Lagerfeuern; er hörte Hundegebell und die Kriegsgesänge der Soldaten.

»Ich bin bereit«, sagte er zu sich selbst. »Ich habe akzeptiert, ein Prophet zu sein, und habe mein Bestes gegeben… Doch ich habe versagt, und jetzt braucht Gott einen anderen.« In diesem Augenblick kam ein Licht auf ihn hernieder.

»Das Feuer des Himmels!« Das Licht blieb jedoch vor ihm stehen. Und eine Stimme sprach: »Ich bin ein Engel des Herrn.« Elia kniete nieder und berührte mit dem Gesicht die Erde.

»Ich habe Euch schon mehrfach gesehen und habe dem Engel des Herrn gehorcht«, antwortete Elia, ohne den Kopf zu heben.

»Ihr laßt mich Unheil säen, wohin ich komme.« Doch der Engel fuhr fort: »Wenn du in die Stadt zurückkehrst, bitte dreimal, daß der Junge wieder lebendig wird. Beim dritten Mal wird der Herr dich erhören.« »Warum soll ich das tun?« »Um der Größe Gottes willen.« »Auch wenn ich dieses tun würde, so habe ich doch schon an mir selbst gezweifelt. Ich bin meiner Aufgabe nicht würdig«, entgegnete Elia.

»Jeder Mensch hat das Recht, an seiner Aufgabe zu zweifeln und sie hin und wieder aufzugeben; was er allerdings nicht tun darf, ist, sie zu vergessen. Wer nicht an sich selbst zweifelt, ist unwürdig, weil er seiner Fähigkeit blind vertraut und sich aus Stolz versündigt. Gesegnet sei der, der Augenblicke der Unentschlossenheit durchlebt.« »Ihr seht doch selbst, daß ich mir eben noch nicht einmal sicher war, ob Ihr ein Gesandter Gottes seid.« »Geh und tu, was ich dir sage.« Eine geraume Weile verstrich, bis Elia den Berg wieder hinabstieg. Die Wachsoldaten warteten bei den Opferaltären auf ihn, die Menschenmenge aber war nach Akbar zurückgekehrt.

»Ich bin bereit zu sterben«, sagte er. »Ich habe die Götter des Fünften Berges um Vergebung gebeten, und sie verlangen nun von mir, daß ich, bevor meine Seele den Körper verläßt, bei der Witwe, die mich aufgenommen hat, vorbeigehe und sie darum bitte, Erbarmen mit meiner Seele zu haben.« Die Soldaten führten ihn zurück und begaben sich zum Priester.

Dort gaben sie die Bitte des Israeliten weiter.

»Ich werde tun, worum Ihr gebeten habt«, sagte der Priester zum Gefangenen. »Ihr habt die Götter um Vergebung gebeten, nun müßt Ihr auch die Witwe um Vergebung bitten. Damit Ihr nicht auf die Idee kommt zu fliehen, lasse ich Euch von vier bewaffneten Soldaten begleiten. Doch glaubt nur ja nicht, daß Ihr die Witwe dazu bringen könnt, um Gnade für Euer Leben zu bitten. Im Morgengrauen werden wir Euch mitten auf dem Platz hinrichten.« Der Priester wollte noch wissen, was er dort oben gesehen habe. Doch in Gegenwart der Soldaten traute er sich nicht zu fragen, aus Angst, daß die Antwort ihn vielleicht in Verlegenheit bringen könnte. Daher schwieg er. Elia öffentlich um Vergebung bitten zu lassen, schien ihm eine gute Idee. So würde niemand mehr an der Macht der Götter des Fünften Berges zu zweifeln wagen.

Elia und die Soldaten bogen in die ärmliche Gasse ein, in der er einige Monate lang gelebt hatte. Türen und Fenster des Hauses der Witwe standen offen, damit – wie es der Brauch wollte – die Seele ihres Sohnes hinausgelangen konnte, um bei den Göttern zu wohnen. Der Leichnam lag mitten im kleinen Wohnraum, und um ihn herum kauerten die Nachbarn und hielten Totenwache.

Sie erschraken, als sie den Israeliten sahen.

»Werft ihn hinaus!« schrien sie voller Entsetzen den Soldaten zu. »Hat er denn nicht schon genug Unheil über uns gebracht?

Er ist so verdorben, daß sogar die Götter des Fünften Berges ihre Hände nicht mit seinem Blut beflecken wollen!« »Überlaßt ihn uns«, schrie ein anderer. »Wir werden ihn jetzt töten und nicht die rituelle Hinrichtung abwarten.« Elia wurde gestoßen und geschlagen, doch er entwand sich und lief zur Witwe, die in einem Winkel saß und weinte.

»Ich kann ihn von den Toten zurückholen. Gebt mir Euren Sohn«, sagte er. »Nur für einen Augenblick.« Die Witwe hob nicht einmal den Kopf.

»Bitte, bitte. Und wenn es das letzte ist, was Ihr in diesem Leben für mich tut. Gebt mir eine Chance, Eure Großzügigkeit zu entlohnen.« Einige Männer packten ihn, um ihn abzuführen. Doch Elia entwand sich erneut und bettelte und flehte, daß die Witwe ihn das tote Kind berühren lasse.

Doch sein ganzer jugendlicher Kampfesmut half nichts, und schließlich wurde er zur Haustür gedrängt. »Engel des Herrn, wo bist du?« rief er zum Himmel.

Da plötzlich hielten alle inne. Die Witwe hatte sich erhoben und kam auf ihn zu. Sie nahm ihn bei der Hand, führte ihn zum Leichnam des Sohnes und zog das Tuch weg, das ihn bedeckte.

»Hier liegt das Blut meines Blutes«, sagte sie. »Möge es auf das Haupt Eurer Verwandten herabkommen, wenn Euch nicht gelingt, was Ihr zu tun wünscht.« Elia trat an die Leiche heran und berührte sie.

»Wartet«, sagte die Witwe. »Zuvor bittet Euren Gott, daß sich mein Fluch erfüllen möge.« Elia klopfte das Herz bis zum Hals. Doch er glaubte an die Worte des Engels.

»Möge das Blut dieses Knaben auf meine Eltern und Geschwister und auf die Söhne und Töchter meiner Geschwister herabkommen, wenn mir nicht gelingt, was ich versprach.« Und obwohl er voller Zweifel, voller Schuld und Angst war, nahm er ihn und ging hinauf ins Obergemach, wo er wohnte, und legte ihn auf sein Bett und rief den Herrn an und sprach: »Herr, mein Gott, tust Du sogar der Witwe, bei der ich ein Gast bin, so Böses an, daß Du ihren Sohn tötest?« Und er legte sich dreimal auf das Kind und rief den Herrn an und sprach: »Herr mein Gott, laß sein Leben in dies Kind zurückkehren.« Einige Augenblicke lang geschah nichts. Elia sah sich wieder in Gilead vor dem Soldaten mit dem Bogen stehen, der auf sein Herz zielte, und wußte, daß das Schicksal eines Menschen häufig nichts mit dem zu tun hat, woran er glaubt oder wovor er sich fürchtet. Er fühlte sich ruhig und zuversichtlich wie an jenem Nachmittag, weil er wußte, daß es ungeachtet des Ergebnisses einen Grund dafür gab, daß dies alles geschah.