Heute redet die ganze Stadt darüber, doch schon morgen werden sie sich daran erinnern, daß die Götter nah sind und hören können, was sie sagen. Dann werden sie wieder verstummen. Ich muß jetzt gehen, denn die Assyrer bereiten sich zur Schlacht.« »Hört, was ich Euch zu sagen habe: Nach dem Wunder von gestern abend habe ich außerhalb der Stadtmauern geschlafen, denn ich brauchte etwas Ruhe. Da erschien mir wieder der Engel, den ich schon oben auf dem Fünften Berg gesehen hatte. Und er sagte zu mir: Akbar wird vom Krieg zerstört werden.« »Städte können zerstört werden«, sagte der Priester. »Sie werden siebenundsiebzig Mal wieder aufgebaut, denn die Götter wissen, wohin sie sie gebaut haben, und wollen sie an diesem bestimmten Ort haben.« Der Stadthauptmann kam von einer Gruppe Höflingen begleitet heran und fragte: »Was sagt Ihr da?« »Ihr sollt den Frieden suchen«, antwortete Elia.
»Wenn Ihr Angst habt, so geht doch dahin zurück, woher Ihr gekommen seid«, entgegnete der Priester barsch.
»Isebel und ihr König warten auf die geflohenen Propheten, um sie zu töten«, sagte der Stadthauptmann. »Doch ich möchte gern, daß Ihr mir berichtet, wie es Euch gelungen ist, auf den Fünften Berg zu steigen, ohne vom Feuer vernichtet zu werden.« Der Priester mußte diese Unterhaltung unterbrechen. Der Stadthauptmann schien mit den Assyrern verhandeln und Elia für seine Zwecke benutzen zu wollen.
»Hört nicht auf ihn«, sagte er. »Gestern, vor Gericht, sah ich ihn vor Angst weinen.« »Meine Tränen galten dem Bösen, das ich meinte, über Euch gebracht zu haben. Ich fürchte nur zweierlei: den Herrn und mich selbst. Ich bin nicht aus Israel geflohen und bin bereit, dorthin zurückzukehren, sobald es mir der Herr gestattet. Dann werde ich dem Treiben der schönen Prinzessin ein Ende bereiten, und der Glaube Israels ist gerettet.« »Man muß ein steinernes Herz haben, um dem Zauber Isebels zu widerstehen«, höhnte der Priester. »Und sonst schicken wir Euch eben eine noch schönere Frau, so wie wir es schon vor Isebel getan haben.« Der Priester hatte recht. Vor zweihundert Jahren hatte eine Prinzessin aus Sidon den weisesten aller Herrscher Israels, den König Salomo, verführt. Sie hatte ihn dazu gebracht, einen Altar zu Ehren der Göttin Astarte zu errichten.
Wegen dieser Gotteslästerung hatte der Herr die Heere aller benachbarten Völker sich erheben lassen, und Salomo war entthront worden.
>Dasselbe wird mit Ahab, dem Ehemann von Isebel, geschehen<, dachte Elia, denn er selbst würde dafür sorgen, sobald der Herr die Stunde für gekommen hielt. Was brachte es schon, diese beiden Männer zu überzeugen? Sie waren wie jene, die er vergangene Nacht auf dem Boden im Hause der Witwe hatte knien und die Götter des Fünften Berges loben sehen. Sie würden niemals umdenken lernen, die Tradition war stärker.
»Schade, daß wir das Gesetz der Gastfreundschaft respektieren müssen«, sagte der Stadthauptmann, der Elias Bemerkungen über den Krieg scheinbar vergessen hatte.
»Sonst würden wir Isebel helfen, den Propheten den Garaus zu machen.« »Dies ist nicht der Grund, weshalb Ihr mein Leben schont. Ihr wißt, daß ich eine wertvolle Ware bin, und Ihr wollt Isebel Gelegenheit geben, mich eigenhändig zu töten. Dennoch – seit gestern schreibt mir das Volk magische Kräfte zu. Es denkt, ich hätte die Götter dort oben auf dem Fünften Berg getroffen. Ihr würdet zwar nicht zögern, Eure Götter zu beleidigen, wollt aber die Einwohner nicht beunruhigen.« Der Stadthauptmann und der Priester ließen Elia allein weiterreden und setzten ihren Weg Richtung Stadtmauer fort.
Dies war der Augenblick, als der Priester beschloß, den Israeliten bei der ersten besten Gelegenheit zu töten. Was bisher nur eine Tauschware gewesen war, hatte sich zur Bedrohung ausgewachsen.
Elia blickte ihnen nach. Was könnte er tun, fragte er sich verzweifelt, um dem Herrn zu dienen? Plötzlich begann er mitten auf dem Platz zu rufen: »Volk von Akbar! Gestern abend bin ich auf den Fünften Berg gestiegen und habe dort mit den Göttern gesprochen. Kaum war ich wieder zurück, konnte ich einen Jungen aus dem Reich der Toten zurückholen!« Die Leute umringten ihn. Die Geschichte war bereits stadtbekannt. Der Stadthauptmann und der Priester blieben auf halbem Weg stehen und machten kehrt, um zu sehen, was geschah. Der israelitische Prophet erzählte, er habe gesehen, wie die Götter des Fünften Berges einen höheren Gott anbeteten.
»Ich lasse ihn umbringen«, sagte der Priester.
»Damit sich das Volk gegen uns erhebt?!« entgegnete der Stadthauptmann, der wissen wollte, was der Fremde sagte. »Es ist besser, wir warten, bis er einen Fehler macht.« »Bevor ich vom Berg herabstieg, haben mich die Götter damit beauftragt, dem Stadthauptmann zu helfen, mit den Assyrern fertig zu werden!« fuhr Elia fort. »Ich weiß, er ist ein ehrenhafter Mann und möchte mich anhören, doch es gibt Leute, die mich bewußt von ihm fernhalten, weil sie an einem Krieg interessiert sind.« »Der Israelit ist ein heiliger Mann«, sagte ein Alter zum Stadthauptmann. »Niemand kann auf den Fünften Berg steigen, ohne vom Feuer des Himmels erschlagen zu werden, doch diesem Mann ist es gelungen – und jetzt erweckt er sogar Tote zum Leben.« »In Tyrus, Sidon und allen anderen phönizischen Städten herrscht die Tradition des Friedens«, sagte ein anderer Alter.
»Wir haben schon andere, schlimmere Bedrohungen erlebt und durchgestanden.« Einige Kranke und Krüppel kamen heran und bahnten sich einen Weg durch die Menge, berührten Elias Kleider und baten ihn, sie von ihren Leiden zu heilen.
»Bevor Ihr dem Stadthauptmann Ratschläge erteilt, heilt erst einmal die Kranken«, sagte der Priester, »dann werden wir glauben, daß die Götter des Fünften Berges mit Euch sind.« Elia erinnerte sich an die Worte des Engels in der Nacht: Nur die Kraft gewöhnlicher Menschen würde ihm gestattet sein.
»Die Kranken bitten um Hilfe«, beharrte der Priester. »Wir warten alle.« »Zuvor laßt uns den Krieg verhindern. Es wird noch mehr Gebrechliche und Kranke geben, wenn uns das nicht gelingt.« Da schaltete sich der Stadthauptmann ein.
»Elia wird mit uns gehen. Er ist von den Göttern erleuchtet.« Obwohl er nicht glaubte, daß es Götter auf dem Fünften Berg gab, brauchte der Stadthauptmann einen Verbündeten, der ihm dabei half, das Volk davon zu überzeugen, daß ein Friede mit den Assyrern der einzige Weg war.
Auf dem Weg zum Kommandanten meinte der Priester zu Elia: »Ihr glaubt nichts von dem, was Ihr gesagt habt.« »Ich glaube, daß der Friede der einzige Weg ist. Doch ich glaube nicht, daß auf dem Gipfel des Berges Götter wohnen.
Ich war dort.« »Und was habt Ihr gesehen?« »Einen Engel des Herrn. Ich habe diesen Engel schon zuvor an anderen Orten, durch die ich gekommen bin, gesehen«, entgegnete Elia. »Und es gibt nur einen Gott.« Der Priester lachte.
»Soll das heißen, daß Eurer Meinung nach derselbe Gott den Sturm und das Getreide geschaffen hat, obwohl dies vollkommen verschiedene Dinge sind?« »Seht Ihr den Fünften Berg?« fragte Elia. »Von allen Seiten sieht er anders aus, obwohl es immer derselbe Berg ist. So ist es mit allem, was geschaffen wurde: viele Gesichter des einen Gottes.« Sie stiegen auf die Stadtmauer hinauf, von wo aus man in der Ferne das feindliche Lager sah. Im wüstenartigen Tal sprangen die weißen Zelte ins Auge.
Vor einiger Zeit, als die Wachen die Anwesenheit der Assyrer am Taleingang meldeten, hatten Späher gesagt, es seien nur Kundschafter. Der Kommandant hatte vorgeschlagen, sie gefangenzunehmen und als Sklaven zu verkaufen. Der Stadthauptmann hatte sich für eine andere Strategie entschieden – nichts zu tun. Er setzte darauf, daß sich ein neuer Markt für die in Akbar hergestellten Glaswaren erschließen würde, wenn man gute Beziehungen zu ihnen aufbauen könnte. Selbst wenn sie nur dort waren, um einen Krieg vorzubereiten, so wußten die Assyrer durchaus, daß die kleinen Städte immer auf der Seite der Sieger waren. Daher lag den assyrischen Generälen nur daran, auf dem Weg nach Tyrus und Sidon ungehindert durchzumarschieren. Denn das waren die Städte, welche Schätze und Wissen bargen.
Die Patrouillen hatten am Taleingang kampiert, und ganz allmählich war Verstärkung nachgerückt. Der Priester behauptete zu wissen warum: Die Stadt besaß einen Brunnen, den einzigen Brunnen im Umkreis mehrerer Tagesreisen durch die Wüste. Wenn die Assyrer Tyrus und Sidon erobern wollten, dann brauchten sie dieses Wasser für ihre Soldaten.
Am Ende des ersten Monats hätte man sie noch vertreiben können; am Ende des zweiten Monats hätte man sie noch leicht besiegen und einen ehrenvollen Rückzug mit den assyrischen Truppen aushandeln können.
Sie warteten auf die Schlacht, doch niemand griff an. Am Ende des fünften Monats hätte man die Assyrer noch zurückwerfen können. >Sie werden bald angreifen, denn sie haben sicher Durst<, dachte der Stadthauptmann. Er bat den Kommandanten, eine Abwehrstrategie auszuarbeiten und seine Leute kampfbereit zu halten, damit sie auf einen Überraschungsangriff reagieren könnten.
Doch er selbst konzentrierte sich auf die Vorbereitung des Friedens.
Ein halbes Jahr war bereits verstrichen, und das assyrische Heer hatte sich nicht von der Stelle bewegt. Die Anspannung in Akbar, die während der ersten Wochen der Besetzung gewachsen war, hatte ganz und gar nachgelassen. Die Leute kehrten zu ihrem gewohnten Leben zurück, die Bauern gingen auf ihre Felder, die Handwerker machten Wein, Glas und Seife, die Kaufleute verkauften und kauften ihre Waren. Da Akbar seine Feinde nicht angriff, glaubten alle, daß die Krise schon bald mit Verhandlungen behoben würde. Alle wußten, daß der Stadthauptmann von den Göttern bestimmt worden war und immer wußte, was am besten zu tun sei.
Als Elia in die Stadt kam, hatte der Stadthauptmann Gerüchte über den Fluch ausstreuen lassen, den der Fremde mit sich brachte. So konnte er, im Falle einer akuten Kriegsgefahr, den Fremden zum Sündenbock für alles Unheil machen, das über die Stadt hereinbrach. Die Bewohner Akbars wären bestimmt leicht davon zu überzeugen, daß mit dem Tod des Israeliten das Universum wieder ins Gleichgewicht kam. Der Stadthauptmann brauchte dann nur zu erklären, daß es nun zu spät sei, die Assyrer zum Abzug zu bewegen, Elia töten zu lassen und seinem Volk zu erklären, daß der Friede die beste Lösung sei. Die Kaufleute, die ebenfalls den Frieden wollten, würden das Volk auf ihre Seite bringen.