509 hörte, wie der Turm in der Stadt ganz zusammenstürzte. Eine Feuergarbe schoß empor und zerflatterte. Dann kamen die fernen Signale der Feuerwehr herüber.
Er wußte nicht, wie lange er gewartet hatte; Zeit war im Lager ein belangloser Begriff. Aber plötzlich hörte er durch das unruhige Dunkel Stimmen und dann Schritte. Er kroch unter dem Mantel Lebenthals hervor näher an den Draht heran und horchte. Es waren leichte Schritte, die von links kamen. Er blickte zurück; das Lager war sehr dunkel, und er konnte nicht einmal mehr die Muselmänner sehen, die zur Latrine stolperten. Dafür hörte er, wie einer der Posten den Mädchen etwas nachrief:»Werde um zwölf abgelöst. Treffe euch doch noch, was?«
»Klar, Arthur.«
Die Schritte kamen näher. Es dauerte noch eine Weile, bis 509 die Umrisse der Mädchen vage gegen den Himmel erkennen konnte. Er sah nach den Maschinengewehrtürmen hinüber. Es war so diesig und dunkel, daß er die Posten nicht sehen konnte – und sie ihn deshalb auch nicht. Vorsichtig begann er zu zischen.
Die Mädchen blieben stehen. »Wo bist du?« flüsterte eine.
509 hob den Arm und winkte.
»Ach da. Hast du das Geld?«
»Ja. Was habt ihr?«
»Gib erst den Zaster her. Drei Mark.«
Das Geld war mit einem langen Stock in einem Beutel, an dem sich ein Bindfaden befand, unter dem Stacheldraht hinweg auf den Weg geschoben worden. Eines der Mädchen bückte sich, nahm es heraus und zählte es rasch. Dann sagte es:»Hier, paß auf!«
Die beiden holten Kartoffeln aus den Taschen ihrer Mäntel und warfen sie durch den Draht. 509 versuchte, sie in Lebenthals Mantel aufzufangen. »Jetzt kommt das Brot«, sagte das dickere Mädchen.
509 sah, wie die Scheiben durch den Draht segelten. Er fischte sie rasch zusammen.
»So, das ist alles.« Die Mädchen wollten weitergehen.
509 zischte. »Was?« fragte die Dickere.
»Könnt ihr mehr bringen?«
»Nächste Woche.«
»Nein. Wenn ihr von der Kaserne zurückkommt. Die geben euch doch dort, was ihr wollt.« »Bist du derselbe, wie immer?« fragte das dickere Mädchen und beugte sich vor.
»Die sehen doch alle gleich aus, Fritzi«, sagte die andere.
»Ich kann hier warten«, flüsterte 509. »Ich habe noch Geld.«
»Wieviel?«
»Drei.«
»Wir müssen los, Fritzi«, sagte das andere Mädchen. Sie markierten während der Zeit Schritte auf der Stelle, damit die Posten nicht hören sollten, daß beide nicht weitergingen.
»Ich kann die ganze Nacht warten. Fünf Mark.«
»Du bist ein Neuer, was?« fragte Fritzi. »Wo ist der andere? Tot?«
»Krank. Hat mich hergeschickt. Fünf Mark. Vielleicht auch mehr.«
»Los, Fritzi. Wir können nicht so lange hier stehenbleiben.«
»Schön. Wir werden sehen. Warte meinetwegen hier.«
Die Mädchen gingen weiter. 509 hörte ihre Röcke rascheln. Er kroch zurück, zog den Mantel hinter sich her und legte sich erschöpft nieder. Er hatte das Gefühl zu schwitzen; aber er war ganz trocken.
Als er sich umdrehte, sah er Lebenthal. »Geklappt?« fragte Leo.
»Ja. Die Kartoffeln hier und das Brot.«
Lebenthal beugte sich nieder. »Diese Biester«, sagte er dann. »Was für Blutsauger! Das sind ja fast Preise wie hier im Lager! Eine Mark fünfzig wäre genug gewesen. Für drei Mark hätte Wurst dabei sein müssen. Das kommt davon, wenn man so was nicht selber macht!« 509 hörte nicht zu.
»Laß uns teilen, Leo«, sagte er.
Sie krochen hinter die Baracke und legten die Kartoffeln und das Brot auseinander.
»Die Kartoffeln brauche ich«, sagte Lebenthal. »Zum Handel, morgen.«
»Nein. Wir brauchen jetzt alles selbst.«
Lebenthal blickte auf. »So? Und woher soll ich Geld für das nächstemal kriegen?«
»Du hast doch noch was.«
»Was du nicht alles weißt!«
Sie hockten sich plötzlich wie Tiere auf allen vieren gegenüber und sahen sich in die eingesunkenen Gesichter.
»Sie kommen heute abend zurück und bringen mehr«, sagte 509. »Sachen von drüben, mit denen du leichter handeln kannst. Ich habe ihnen gesagt, wir hätten noch fünf Mark.«
»Hör mal -« begann Lebenthal. Dann hob er die Schultern. »Wenn du das Geld hast, ist es deine Sache.« 509 starrte ihn an. Schließlich blickte Lebenthal weg und ließ sich auf die Ellenbogen sinken. »Du machst mich kaputt«, jammerte er leise. »Was willst du eigentlich? Wozu mischst du dich auf einmal in alles ein?« 509 widerstand der Gier, eine Kartoffel in den Mund zu stopfen und noch eine, rasch, alle, ehe ihm jemand zuvorkam. »Wie stellst du dir das vor?« flüsterte Lebenthal weiter. »Alles auffressen, das Geld ausgeben wie Idioten – wie sollen wir dann Neues kriegen?«
Die Kartoffeln. 509 roch sie. Das Brot. Seine Hände wollten dem Denken plötzlich nicht mehr folgen. Sein Magen war nichts mehr als Gier. Essen! Essen! Schlingen! Rasch! Rasch!
»Wir haben den Zahn«, sagte er mühsam und drehte den Kopf weg.
»Was ist mit dem Zahn? Wir kriegen doch etwas dafür. Was ist damit?«
»Da war heute wenig zu machen. Das dauert noch. Ist auch nicht sicher. Man hat erst, was man in der Hand hat.«
Ist er nicht hungrig? dachte 509. Was redet er? Zerreißt es ihm nicht den Magen?
»Leo«, sagte er mit dicker Zunge. »Denk an Lohmann. Wenn wir soweit sind, ist es zu spät. Jeder Tag zählt jetzt. Wir brauchen nicht mehr für Monate im voraus zu denken.«
Von der Richtung des Frauenlagers her kam ein dünner, hoher Schrei – wie von einem ängstlichen Vogel. Ein Muselmann stand dort auf einem Bein und streckte die Arme zum Himmel. Ein zweiter versuchte, ihn zu halten. Es sah aus, als ob beide einen grotesken »pas de deux« vor dem Horizont tanzten. Einen Moment später stürzten sie wie dürres Holz zu Boden, und der Schrei verstummte.
509 drehte sich wieder um. »Wenn wir erst sind wie die, nützt uns alles nichts mehr«, sagte er.
»Dann sind wir kaputt für immer. Wir müssen uns wehren, Leo.«
»Wehren – wie?«
»Wehren«, sagte 509 ruhiger. Der Anfall war vorüber. Er konnte wieder sehen. Der Brotgeruch machte ihn nicht mehr blind. Er näherte seinen Kopf Lebenthals Ohr.
»Für nachher -« sagte er fast lautlos. »Um uns zu rächen -«
Lebenthal fuhr zurück. »Damit will ich nichts zu tun haben.«
509 lächelte schwach. »Das sollst du auch nicht. Sorge du nur fürs Fressen.«
Lebenthal schwieg eine Zeitlang. Dann griff er in seine Tasche, zählte Geldstücke dicht vor seinen Augen und gab sie 509. »Hier sind drei Mark. Die letzten. Bist du nun zufrieden?«
509 nahm das Geld, ohne zu antworten.
Lebenthal legte das Brot und die Kartoffeln auseinander. »Zwölf Teile. Verflucht wenig dafür.« Er begann abzuzählen.
»Elf. Lohmann will nichts mehr. Braucht auch nichts mehr.«
»Gut. Elf.«
»Bring es hinein zu Berger, Leo. Sie warten.«
»Ja. Hier ist deins. Willst du hierbleiben, bis die beiden zurückkommen?«
»Ja.«
»Du hast noch Zeit. Sie kommen nicht vor eins oder zwei.«
»Das macht nichts. Ich bleibe hier.«
Lebenthal zuckte die Achseln. »Wenn sie nicht mehr bringen als vorher, brauchst du überhaupt nicht zu warten. Dafür kann ich auch was im Großen Lager kriegen. Wucherpreise, die Biester!«
»Ja, Leo. Ich werde aufpassen, daß ich mehr kriege.«
509 kroch wieder unter den Mantel. Ihn fror. Die Kartoffeln und sein Stück Brot hielt er in der Hand. Er steckte das Brot in die Tasche. Ich werde heute nacht nichts essen, dachte er. Ich werde bis morgen warten. Wenn ich das fertigbringe, dann – er wußte nicht, was dann sein würde. Irgend etwas. Etwas Wichtiges. Er versuchte es auszudenken. Es ging nicht. Er hatte noch die Kartoffeln in der Hand. Eine große und eine sehr kleine. Sie waren zu stark. Er aß sie. Er verschlang die kleine mit einem Bissen; die große kaute und kaute er. Er hatte nicht erwartet, daß der Hunger danach noch schlimmer werden würde. Er hätte es wissen müssen; es geschah immer wieder, aber man glaubte es jedesmal nicht. Er leckte seine Finger, und dann biß er in seine Hand, um sie von dem Brot in seiner Tasche fortzuhalten. Ich will das Brot nicht sofort herunterschlingen, wie früher, dachte er. Ich will es erst morgen essen.