Der Stubenälteste der Sektion war der frühere Arzt Dr. Ephraim Berger. Er war wichtig gegen den Tod, der die Baracke eng umstand. Im Winter, wenn die Skelette auf dem Glatteis gefallen waren und sich die Knochen gebrochen hatten, hatte er manche schienen und retten können. Das Hospital nahm niemand vom Kleinen Lager auf; es war nur da für Leute, die arbeitsfähig waren und für Prominente. Im Großen Lager war das Glatteis im Winter auch weniger gefährlich gewesen; man hatte die Straße während der schlimmsten Tage mit Asche aus dem Krematorium bestreut. Nicht aus Rücksicht auf die Gefangenen, sondern um brauchbare Arbeitskräfte zu behalten. Seit der Eingliederung der Konzentrationslager in den allgemeinen Arbeitseinsatz wurde mehr Wert darauf gelegt. Als Ausgleich arbeitete man die Häftlinge allerdings rascher zu Tode. Die Abgänge machten nichts aus; es wurden täglich genug Leute verhaftet. Berger war einer der wenigen Gefangenen, die Erlaubnis hatten, das Kleine Lager zu verlassen. Er wurde seit einigen Wochen in der Leichenhalle des Krematoriums beschäftigt. Stubenälteste brauchten im allgemeinen nicht zu arbeiten, aber Ärzte waren knapp; deshalb hatte man ihn kommandiert. Es war vorteilhaft für die Baracke. Über den Lazarettkapo, den Berger von früher kannte, konnte er so manchmal etwas Lysol, Watte, Aspirin und ähnliches für die Skelette bekommen. Er besaß auch eine Flasche Jod, die unter seinem Stroh versteckt war. Der wichtigste Veteran von allen jedoch war Leo Lebenthal. Er hatte geheime Verbindungen zum Schleichhandel des Arbeitslagers und, wie es hieß, sogar welche nach draußen. Wie er das machte, wußte keiner genau. Es war nur bekannt, daß zwei Huren aus dem Etablissement »Die Fledermaus«, das vor der Stadt lag, dazugehörten. Auch ein SS-Mann sollte beteiligt sein; doch davon wußte niemand wirklich etwas. Und Lebenthal sagte nichts. Er handelte mit allem. Man konnte durch ihn Zigarettenstummel bekommen, eine Mohrrübe, manchmal Kartoffeln, Abfälle aus der Küche, einen Knochen und hier und da eine Scheibe Brot. Er betrog niemanden; er sorgte nur für Zirkulation. Der Gedanke, heimlich für sich allein zu sorgen, kam ihm nie. Der Handel hielt ihn am Leben; nicht das, womit er handelte. 509 kroch durch die Tür. Die schräge Sonne hinter ihm schien durch seine Ohren. Sie leuchteten einen Augenblick wächsern und gelb zu beiden Seiten des dunklen Kopfes. »Sie haben die Stadt bombardiert«, sagte er keuchend. Niemand antwortete. 509 konnte noch nichts sehen; es war dunkel in der Baracke nach dem Licht draußen. Er schloß die Augen und öffnete sie wieder. »Sie haben die Stadt bombardiert«, wiederholte er. »Habt ihr es nicht gehört?« Auch diesmal sagte keiner etwas. 509 sah jetzt Ahasver neben der Tür. Er saß auf dem Boden und streichelte den Schäferhund. Der Schäferhund knurrte; er hatte Angst. Die verfilzten Haare hingen ihm über das vernarbte Gesicht, und dazwischen funkelten die erschreckten Augen. »Ein Gewitter«, murmelte Ahasver. »Nichts als ein Gewitter! Ruhig, Wolf – ruhig!« 509 kroch weiter in die Baracke hinein. Er begriff nicht, daß die anderen so gleichgültig waren. »Wo ist Berger?« fragte er. »Im Krematorium.« Er legte den Mantel und die Jacke auf den Boden. »Will keiner von euch 'raus?« Er sah Westhof und Bucher an. Sie erwiderten nichts. »Du weißt doch, daß es verboten ist«, sagte Ahasver schließlich. »Solange Alarm ist.« »Der Alarm ist vorbei.« »Noch nicht.« »Doch. Die Flieger sind fort. Sie haben die Stadt bombardiert.« »Das hast du nun schon oft genug gesagt«, knurrte jemand aus dem Dunkel. Ahasver blickte auf. »Vielleicht werden sie ein paar Dutzend von uns zur Strafe dafür erschießen.« »Erschießen?« Westhof kicherte. »Seit wann erschießen sie hier?«
Der Schäferhund bellte. Ahasver hielt ihn fest. »In Holland erschossen sie nach einem Luftangriff gewöhnlich zehn, zwanzig politische Gefangene. Damit sie keine falschen Ideen bekämen, sagten sie.«
»Wir sind hier nicht in Holland.«
»Das weiß ich. Ich habe auch nur gesagt, daß in Holland erschossen wurde.«
»Erschießen!« Westhof schnaubte verächtlich. »Bist du ein Soldat, daß du solche Ansprüche stellst? Hier wird erhängt und erschlagen.«
»Sie könnten es zur Abwechslung tun.«
»Haltet eure verdammten Schnauzen«, rief der Mann von vorher aus dem Dunkel. 509 hockte sich neben Bucher und schloß die Augen. Er sah noch immer den Rauch über der brennenden Stadt und spürte den dumpfen Donner der Explosionen.
»Glaubt ihr, daß wir heute abend Essen kriegen?« fragte Ahasver.
»Verdammt!« antwortete die Stimme aus dem Dunkel. »Was willst du noch? Erst willst du erschossen werden und dann fragst du nach Essen?«
»Ein Jude muß Hoffnung haben.«
»Hoffnung!« Westhof kicherte wieder.
»Was sonst?« fragte Ahasver ruhig.
Westhof verschluckte sich und begann plötzlich zu schluchzen. Er hatte seit Tagen Barackenkoller.
509 öffnete die Augen. »Vielleicht geben sie uns heute nichts zu essen«, sagte er. »Als Strafe für das Bombardement.«
»Du mit deinem verfluchten Bombardement«, schrie der Mann im Dunkeln. »Halt doch endlich deine Schnauze!«
»Hat einer hier noch irgendwas zu essen?« fragte Ahasver.
»O Gott!« Der Rufer im Dunkeln erstickte fast über diese neue Idiotie.
Ahasver achtete nicht darauf. »Im Lager von Theresienstadt hatte jemand einmal ein Stück Schokolade und wußte es nicht. Er hatte es versteckt, als er eingeliefert wurde, und hatte es vergessen. Milchschokolade aus einem Automaten. Ein Bild von Hindenburg war auch in dem Karton.«
»Was noch?« krächzte die Stimme aus dem Hintergrund. »Ein Paß?«
»Nein. Aber wir haben von der Schokolade zwei Tage gelebt.«
»Wer schreit da so?« fragte 509 Bucher.
»Einer von denen, die gestern angekommen sind. Ein Neuer. Wird schon ruhig werden.«