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Ahasver horchte plötzlich. »Es ist vorbei -«

»Was?«

»Draußen. Das war die Entwarnung. Das letzte Signal.«

Es wurde plötzlich sehr still. Dann hörte man Schritte. »Weg mit dem Schäferhund«, flüsterte Bucher.

Ahasver schob den Verrückten zwischen die Betten. »Kusch! Still!« Er hatte ihn so erzogen, daß er auf Kommandos hörte. Hätte die SS ihn gefunden, so wäre er als Verrückter sofort abgespritzt worden.

Bucher kam von der Tür zurück. »Es ist Berger.«

Doktor Ephraim Berger war ein kleiner Mann mit abfallenden Schultern und einem eiförmigen Kopf, der völlig kahl war. Seine Augen waren entzündet und tränten..

»Die Stadt brennt«, sagte er, als er hereinkam.

509 richtete sich auf. »Was sagen sie drüben dazu?«

»Ich weiß es nicht.«

»Wieso? Du mußt doch etwas gehört haben.«

»Nein«, erwiderte Berger müde. »Sie haben aufgehört zu verbrennen, als der Alarm kam.«

»Warum?«

»Wie soll ich das wissen? Es wird befohlen, fertig.«

»Und die SS? Hast du von der etwas gesehen?«

»Nein.«

Berger ging durch die Bretterreihen nach hinten. 509 sah ihm nach. Er hatte auf Berger gewartet, um mit ihm zu sprechen, und nun schien er ebenso teilnahmslos wie alle anderen. Er verstand es nicht. »Willst du nicht 'raus?« fragte er Bucher.

»Nein.«

Bucher war fünfundzwanzig Jahre alt und seit sieben Jahren im Lager. Sein Vater war Redakteur einer sozialdemokratischen Zeitung gewesen; das hatte genügt, den Sohn einzusperren. Wenn er hier wieder herauskommt, kann er noch vierzig Jahre leben, dachte 509. Vierzig oder fünfzig. Ich dagegen bin fünfzig. Ich habe vielleicht noch zehn, höchstens zwanzig Jahre. Er zog ein Stück Holz aus der Tasche und begann daran zu kauen. Wozu denke ich plötzlich an so was? dachte er.

Berger kam zurück. »Lohmann will mit dir sprechen, 509.«

Lohmann lag im hinteren Teil der Baracke auf einem unteren Bett ohne Stroh. Er hatte das so gewollt. Er litt an schwerer Dysenterie und konnte nicht mehr aufstehen.

Er glaubte, es sei so reinlicher. Es war nicht reinlicher. Aber alle waren es gewöhnt.

Fast jeder hatte mehr oder minder Durchfall. Für Lohmann war es eine Tortur. Er lag im Sterben und entschuldigte sich bei jedem Krampf seiner Eingeweide. Sein Gesicht war so grau, daß er ein blutloser Neger hätte sein können. Er bewegte eine Hand, und 509 beugte sich über ihn. Die Augenbälle Lohmanns glänzten gelblich.

»Siehst du das?« flüsterte er und öffnete seinen Mund weit.

»Was?« 509 sah auf den blauen Gaumen.

»Hinten rechts – da ist eine Goldkrone.«

Lohmann drehte den Kopf in die Richtung des schmalen Fensters. Die Sonne stand dahinter, und die Baracke hatte an dieser Seite jetzt ein schwaches, rosiges Licht.

»Ja«, sagte 509. »Ich sehe sie.« Er sah sie nicht.

»Nehmt sie 'raus.«

»Was?«

»Nehmt sie 'raus!« flüsterte Lohmann ungeduldig.

509 sah zu Berger hinüber. Berger schüttelte den Kopf.

»Sie sitzt doch fest«, sagte 509.

»Dann zieht den Zahn 'raus. Er sitzt nicht sehr fest. Berger kann es. Er macht es im Krematorium doch auch. Zu zweit könnt ihr es leicht.«

»Warum willst du sie 'raus haben?«

Lohmanns Augenlider hoben und senkten sich langsam. Sie waren wie die einer Schildkröte. Sie hatten keine Wimpern mehr. »Das wißt ihr doch selbst. Gold. Ihr sollt Essen dafür kaufen.

Lebenthal kann sie eintauschen.« 509 antwortete nicht. Eine Goldkrone zu tauschen war eine gefährliche Sache.

Goldplomben wurden im allgemeinen bei der Einlieferung ins Lager registriert und später im Krematorium ausgezogen und gesammelt. Stellte die SS fest, daß eine fehlte, die in den Listen verzeichnet war, so wurde die ganze Baracke ver antwortlich gemacht. Sie bekam kein Essen, bis die Plombe zurückgegeben war. Der Mann, bei dem man sie fand, wurde gehängt.

»Zieht sie 'raus!« keuchte Lohmann. »Es ist leicht! Eine Zange! Oder ein Draht ist schon genug.«

»Wir haben keine Zange.«

»Ein Draht! Biegt einen Draht zurecht.«

»Wir haben auch keinen Draht.«

Lohmanns Augen fielen zu. Er war erschöpft. Die Lippen bewegten sich, aber es kamen keine Worte mehr. Der Körper war bewegungslos und sehr flach, und nur das Gekräusel der dunklen, trockenen Lippen war noch da – ein winziger Strudel Leben, in den die Stille schon bleiern floß.

509 richtete sich auf und blickte Berger an. Lohmann konnte ihre Gesichter nicht sehen; die Bretter der Betten waren dazwischen. »Wie steht es mit ihm?«

»Zu spät für alles.« 509 nickte. Es war schon oft so gewesen, daß er wenig mehr empfand. Die schräge Sonne fiel auf fünf Leute, die wie dürre Affen im obersten Bett hockten. »Kratzt er bald ab?« fragte einer, der seine Armhöhlen rieb und gähnte.

»Warum?«

»Wir kriegen sein Bett. Kaiser und ich.«

»Du wirst es schon kriegen.« 509 schaute einen Augenblick in das schwebende Licht, das gar nicht zu dem stinkenden Raum zu gehören schien. Die Haut des Mannes, der gefragt hatte, sah darin aus wie die eines Leoparden; sie war übersät mit schwarzen Flecken. Der Mann begann faules Stroh zu essen. Ein paar Betten weiter zankten sich zwei Leute mit hohen, dünnen Stimmen. Man hörte kraftlose Schläge.

509 fühlte ein leichtes Zerren an seinem Bein; Lohmann zupfte an seiner Hose. Er beugte sich wieder herunter,»'rausziehen!« flüsterte Lohmann.

509 setzte sich auf den Bettrand. »Wir können nichts dafür tauschen. Es ist zu gefährlich. Keiner wird es riskieren.«

Lohmanns Mund zitterte. »Sie sollen ihn nicht haben«, stieß er mit Mühe hervor.

»Die nicht! Fünfundvierzig Mark habe ich dafür bezahlt. 1929. Die nicht! Zieht ihn 'raus!«

Er krümmte sich plötzlich und stöhnte. Die Haut seines Gesichts verzog sich nur an den Augen und an den Lippen – sonst waren keine Muskeln mehr da, um Schmerz anzuzeigen.

Nach einer Weile streckte er sich aus. Ein kläglicher Laut kam mit der ausgepreßten Luft aus seiner Brust. »Kümmere dich nicht darum«, sagte Berger zu ihm. »Wir haben noch etwas Wasser. Es tut nichts. Wir machen es weg.«

Lohmann lag einige Zeit still. »Versprecht mir, daß ihr ihn 'rausnehmt – bevor sie mich abholen«, flüsterte er dann. »Dann könnt ihr es doch.«

»Gut«, sagte 509. »Ist er nicht eingetragen worden, als du ankamst?«

»Nein. Versprecht es! Bestimmt!«

»Bestimmt.«

Lohmanns Augen verschleierten sich und wurden ruhig. »Was war das – vorhin – draußen?«

»Bomben«, sagte Berger. »Man hat die Stadt bombardiert. Zum ersten Male.

Amerikanische Flieger.«

»Oh -«

»Ja«, sagte Berger leise und hart. »Es kommt näher! Du wirst gerächt werden, Lohmann.« 509 blickte rasch auf. Berger stand noch, und er konnte sein Gesicht nicht sehen. Er sah nur seine Hände. Sie öffneten und schlossen sich, als würgten sie eine unsichtbare Kehle und ließen sie los und würgten sie wieder.

Lohmann lag still. Er hatte die Augen wieder geschlossen und atmete kaum. 509 wußte nicht, ob er noch verstanden hatte, was Berger gesagt hatte.

Er stand auf. »Ist er tot?« fragte der Mann auf dem oberen Bett. Er kratzte sich noch immer. Die anderen vier hockten neben ihm wie Automaten. Ihre Augen waren leer.

»Nein.« 509 wandte sich zu Berger. »Weshalb hast du es ihm gesagt?«

»Weshalb?« Bergers Gesicht zuckte. »Deshalb! Verstehst du das nicht?«

Das Licht hüllte seinen eiförmigen Kopf in eine rosa Wolke. In der verpesteten, dicken Luft sah es aus, als dampfe er. Die Augen glitzerten. Sie waren voll Wasser, doch das waren sie meistens; sie waren chronisch entzündet. 509 konnte sich denken, warum Berger es gesagt hatte. Aber was war es schon für ein Trost für einen Sterbenden, das noch zu wissen? Es konnte es ebensogut noch schwerer für ihn machen. Er sah, wie eine Fliege sich auf das schieferfarbene Auge eines der Automaten setzte. Der Mann blinkte nicht mit den Lidern. Vielleicht war es doch ein Trost, dachte 509. Vielleicht war es sogar der einzige Trost für einen untergehenden Mann.