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»Vorbei -« sie kaute weiter, als wären die Worte zu große Königsberger Klopse.

»Für wie – wie lange?«

»Für immer. Sie sind weg. Der Angriff ist abgeschlagen. Sie kommen nicht wieder.«

Selma Neubauer hielt ihren Morgenrock über der Brust fest. »Wer sagt das, Bruno?

Woher weißt du das?«

»Wir haben mindestens die Hälfte abgeschossen. Die werden sich hüten, wiederzukommen.«

»Woher weißt du das?«

»Ich weiß es. Sie haben uns diesmal überrascht. Das nächstemal werden wir ganz anders auf dem Posten sein.«

Die Frau hörte auf zu kauen. »Das ist alles?« fragte sie. »Das ist alles, was du uns sagen kannst?«

Neubauer wußte, daß es nichts war. »Ist es nicht genug?« fragte er deshalb barsch zurück.

Seine Frau starrte ihn an. Ihre Augen waren wässerig und hellblau. »Nein!« kreischte sie plötzlich.

»Das ist nicht genug! Das ist nichts als Quatsch! Es heißt gar nichts!

Was haben wir nicht alles schon gehört? Erst erzählt man uns, wir wären so stark, daß nie ein feindlicher Flieger nach Deutschland hereinkäme, und auf einmal kommen sie doch. Dann heißt es, sie kämen nicht wieder, wir schössen sie von nun an alle an den Grenzen ab, und statt dessen kommen zehnmal so viele zurück, und der Alarm geht andauernd. Und jetzt haben sie uns schließlich hier auch erwischt, und da kommst du großartig und sagst, sie würden nicht wiederkommen, wir würden sie schon kriegen! Und das soll ein vernünftiger Mensch glauben?«

»Selma!« Neubauer warf unwillkürlich einen Blick auf das Bild des Führers. Dann sprang er zur Tür und warf sie zu. »Verdammt! Nimm dich zusammen!« zischte er.

»Willst du uns alle ins Unglück bringen? Bist du verrückt geworden, so zu schreien?«

Er stand dicht vor ihr. Über ihren dicken Schultern blickte der Führer weiter kühn in die Landschaft von Berchtesgaden. Neubauer hatte einen Augenblick fast geglaubt, er hätte alles mit angehört.

Selma sah den Führer nicht. »Verrückt?« kreischte sie. »Wer ist verrückt? Ich nicht.

Wir hatten ein wunderbares Leben vor dem Kriege – und jetzt? Jetzt? Ich möchte wissen, wer da verrückt ist?«

Neubauer ergriff mit beiden Händen ihre Arme und schüttelte sie so, daß ihr Kopf hin- und herflog und sie nicht mehr schreien konnte. Ihr Haar löste sich, ein paar Kämme fielen heraus, sie verschluckte sich und hustete. Er ließ sie frei. Sie fiel wie ein Sack auf die Chaiselongue. »Was ist mit ihr los?« fragte er seine Tochter.

»Nichts weiter. Mutter ist sehr aufgeregt.«

»Warum? Es ist doch nichts passiert.«

»Nichts passiert?« begann die Frau wieder. »Dir natürlich nicht, da oben! Aber wir hier allein -«

»Ruhig! Verdammt! Nicht so laut! Habe ich dafür fünfzehn Jahre geschuftet, damit du mit deinem Geschrei alles auf einen Schlag wieder vernichtest? Meinst du, es warten nicht schon genug darauf, meinen Posten zu schnappen?«

»Es war das erste Bombardement, Vater«, sagte Freya Neubauer ruhig. »Bisher haben wir doch nur Alarme gehabt. Mutter wird sich schon gewöhnen.«

»Das erste? Natürlich das erste! Wir sollten froh sein, daß bisher noch nichts passiert ist, anstatt Unsinn zu schreien.«

»Mutter ist nervös. Sie wird sich schon gewöhnen.«

»Nervös!« Neubauer war irritiert durch die Ruhe seiner Tochter. »Wer ist nicht nervös? Meinst du, ich bin nicht nervös? Man muß sich beherrschen können. Was würde sonst passieren?«

»Dasselbe!« Seine Frau lachte. Sie lag auf der Chaiselongue, die plumpen Beine gespreizt. Ihre Füße steckten in rosa Seidenschuhen. Sie hielt Rosa und Seide für sehr elegant. »Nervös!

Gewöhnen! Du kannst gut reden!«

»Ich? Wieso?«

»Dir passiert nichts.«

»Was?«

»Dir passiert nichts. Aber wir sitzen hier in der Falle.«

»Das ist ja blühender Unsinn! Einer ist wie der andere. Wieso kann mir denn nichts passieren?«

»Du bist sicher, da oben in deinem Lager!«

»Was?« Neubauer warf seine Zigarre zu Boden und trampelte darauf. »Wir haben nicht solche Keller wie ihr hier.« Es war gelogen.

»Weil ihr keine braucht. Ihr seid außerhalb der Stadt.«

»Als ob das was ausmachte! Wo eine Bombe hinfällt, da fällt sie hin.«

»Das Lager wird nicht bombardiert werden.«

»So? Das ist ja ganz neu. Woher weißt du denn das? Haben die Amerikaner eine Nachricht darüber abgeworfen? Oder dir speziell Bescheid gesagt?«

Neubauer sah auf seine Tochter. Er erwartete Beifall für diesen Witz. Aber Freya zupfte an den Fransen einer Plüschdecke, die über den Tisch neben der Chaiselongue gebreitet war. Dafür antwortete seine Frau. »Sie werden ihre eigenen Leute nicht bombardieren.«

»Quatsch! Wir haben gar keine Amerikaner da. Auch keine Engländer. Nur Russen, Polen, Balkangesindel und deutsche Vaterlandsfeinde, Juden, Verräter und Verbrecher.«

»Sie werden keine Russen und Polen und Juden bombardieren«, erklärte Selma mit stumpfem Eigensinn.

Neubauer drehte sich scharf um. »Du weißt ja eine ganze Menge«, sagte er leise und sehr wütend.

»Aber jetzt will ich dir einmal etwas sagen. Die wissen überhaupt nicht, was für ein Lager da oben ist, verstanden? Sie sehen nur Baracken. Sie können sie glatt für Militärbaracken halten. Sie sehen Kasernen. Das sind unsere SS-Kasernen.

Sie sehen die Gebäude, in denen die Leute arbeiten. Das sind für sie Fabriken und Ziele. Da oben ist es hundertmal gefährlicher als hier. Deshalb wollte ich nicht, daß ihr da wohnt. Hier unten sind keine Kasernen und keine Fabriken in der Nähe. Begreifst du das endlich?« »Nein.«

Neubauer starrte seine Frau an. Selma war noch nie so gewesen. Er wußte nicht, was in sie gefahren war. Das bißchen Angst allein konnte es nicht sein. Er fühlte sich plötzlich von seiner Familie verlassen; gerade wenn sie hätten zusammenstehen sollen. Ärgerlich blickte er wieder zu seiner Tochter hinüber. »Und du?« sagte er. »Was meinst du dazu? Warum tust du den Mund nicht auf?« Freya Neubauer stand auf. Sie war zwanzig Jahre alt, dünn, hatte ein gelbliches Gesicht, eine hervorspringende Stirn und glich weder Selma noch ihrem Vater. »Ich glaube, Mutter hat sich beruhigt«, sagte sie. »Was? Wieso?« »Ich glaube, sie hat sich beruhigt.« Neubauer schwieg eine Weile. Er wartete darauf, daß seine Frau etwas sagen sollte. »Na schön«, erklärte er schließlich. »Können wir 'raufgehen?« fragte Freya. Neubauer warf einen mißtrauischen Blick auf Selma. Er traute ihr noch nicht. Er mußte ihr klarmachen, daß sie auf keinen Fall mit irgend jemand reden durfte. Auch nicht mit dem Dienstmädchen. Vor allem nicht mit dem Mädchen. Seine Tochter kam ihm zuvor. »Oben wird es besser sein, Vater. Mehr Luft.« Er stand immer noch unschlüssig. Wie ein Mehlsack liegt sie da, dachte er. Warum sagt sie nicht endlich etwas Vernünftiges?»Ich muß zum Rathaus 'rüber. Um sechs. Dietz hat angerufen, Sachlage soll besprochen werden.« »Es wird nichts passieren, Vater. Alles ist in Ordnung. Wir müssen das Abendessen auch noch fertig machen.« »Also gut.« Neubauer hatte sich entschlossen. Seine Tochter wenigstens hatte den Kopf oben behalten. Er konnte sich auf sie verlassen. Sein Fleisch und Blut. Er näherte sich seiner Frau. »Also gut. Wollen das hier vergessen, Selma, wie? Kann ja mal vorkommen. Spielt schließlich keine Rolle.« Er sah lächelnd, mit kalten Augen, auf sie hinunter. »Was?« wiederholte er. Sie antwortete nicht. Er umfaßte ihre fetten Schultern und tätschelte sie. »Na, dann geht jetzt mal und macht das Abendbrot fertig. Und kocht was Gutes nach dem Schreck, was?« Sie nickte gleichgültig. »So ist es recht.« Neubauer sah, daß es wirklich vorbei war. Seine Tochter hatte recht gehabt. Selma würde keinen Unsinn mehr reden:»Kocht was recht Gutes, Kinder. Schließlich, Selmachen, ich tue es doch euch zuliebe, daß ihr das schöne Haus mit dem sicheren Keller hier habt, anstatt in der Nähe der dreckigen Gaunerbande da oben zu leben. Und ich schlafe doch auch jede Woche ein paar Nächte hier unten. Geht alles in einen Topf. Wir müssen zusammenhalten. Also, macht was Leckeres zum Abendbrot. Ich verlasse mich da auf euch. Und holt auch eine Pulle von dem französischen Sekt 'rauf, verstanden? Wir haben ja noch genug davon, wie?« »Ja«, erwiderte seine Frau. »Davon haben wir noch genug.«