chtet, sie wollten flüchten. Dadurch war noch ein halbes Dutzend mehr umgekommen. Nach dem Bombardement hatten die Gefangenen unter dem Schutt und Geröll ihre Toten herausgeholt – oder das, was von ihnen übriggeblieben war. Es war wichtig für den Appell. So gering das Leben eines Gefangenen auch geschätzt wurde und so gleichgültig die SS sich dagegen verhielt: tot oder lebendig, die Zahl beim Appell mußte stimmen. Die Bürokratie hielt vor Leichen nicht inne. Die Kommandos hatten sorgfältig alles mitgenommen, was sie finden konnten; manche Leute hatten einen Arm, andere Beine und abgerissene Köpfe getragen. Die paar Bahren, die man hatte zusammenschlagen können, waren für Verwundete benutzt worden, denen Glieder fehlten oder deren Bäuche zerfetzt waren. Den Rest der Verletzten hatten die Kameraden gestützt und mitgeschleppt, so gut es ging. Verbände hatte man wenig machen können; es war kaum etwas dafür da gewesen. Mit Drähten und Bindfäden hatte man notdürftig die Verblutenden abgebunden. Die Bauchverletzten auf den Bahren hatten ihre Eingeweide mit den eigenen Händen festhalten müssen. Der Zug war mühselig den Berg hinaufgeklettert. Unterwegs waren noch zwei Leute gestorben. Sie wurden tot weiter mitgeschleppt. Das hatte zu einem Zwischenfall geführt, bei dem sich der Scharführer Steinbrenner ziemlich blamiert hatte. Am Eingangstor des Lagers hatte wie immer die Musikkapelle gestanden und den Fridericus Rex gespielt. Es war Parademarsch kommandiert worden, und mit Augen rechts und emporgeworfenen Beinen waren die Kommandos an dem SS-Lagerführer Weber und seinem Stab vorbeimarschiert. Auch die Schwerverletzten auf den Bahren hatten ihre Köpfe nach rechts gedreht und versucht, eine etwas strammere Haltung im Sterben anzunehmen. Nur die Toten hatten nicht mehr gegrüßt. Steinbrenner hatte nun gesehen, wie ein Mann, der von zwei anderen geschleppt wurde, den Kopf hängen ließ. Er hatte nicht beachtet, daß auch die Füße des Mannes schleppten, sondern war sofort in die Reihen gesprungen und hatte ihm den Revolver zwischen die Augen geschlagen. Steinbrenner war jung und eifrig und hatte ihn in der Eile nur für bewußtlos gehalten. Der Kopf des Toten war durch den Hieb zurückgeschleudert worden, und die Kinnlade war heruntergefallen; es hatte ausgesehen, als schnappe der blutige Mund mit einer letzten grotesken Bewegung des Schädels nach dem Revolver. Die übrigen SS-Leute hatten sehr gelacht, und Steinbrenner war wütend gewesen; er hatte gefühlt, daß ein Teil des Renommees, das er sich mit der Salzsäurekur bei Joel Buchsbaum erworben hatte, verlorengegangen war. Er mußte es bei der nächsten Gelegenheit wieder erwerben. Der Marsch vom Kupferwerk herauf hatte lange gedauert, und es war später als sonst gewesen, als der Appell begonnen hatte. Die Toten und Verwundeten waren, wie immer, sorgfältig militärisch ausgerichtet, in Reihe und Glied neben die Formationen der Blocks gelegt worden, zu denen sie gehörten. Auch die Schwerverletzten waren nicht zum Hospital gebracht und nicht vorher verbunden worden; der Zählappell war wichtiger.»Los! Noch einmal! Wenn's diesmal nicht klappt, wird nachgeholfen!«Weber, der SS-Lagerführer, saß rittlings auf einem Holzstuhl, den man auf den Appellplatz hinausgestellt hatte. Er war fünfunddreißig Jahre alt, mittegroß und sehr kräftig. Sein Gesicht war breit und braun, und eine tiefe Narbe lief vom rechten Mundwinkel über das Kinn herunter – sie war ein Andenken an eine Saalschlacht mit Reichsbannerleuten im Jahre 1929. Weber hielt die Arme auf die Lehne seines Stuhles gestützt und starrte gelangweilt auf die Sträflinge, zwischen denen SS-Leute, Blockälteste und Kapos aufgeregt hin und her rannten, prügelten und schrieen. Die Blockältesten schwitzten und ließen aufs neue abzählen. Monoton klangen die Stimmen auf:»Eins – zwei- drei -«Die Verwirrung war durch die ganz Zerfetzten im Kupferwerk entstanden. Die Häftlinge hatten Köpfe, Arme und Körper so gut zusammengesucht wie sie konnten; aber man hatte nicht alles gefunden. Wie man es auch machte: es schien, daß zwei Mann fehlten. In der Dämmerung war es zwischen den Kommandos bereits zu einem Streit um die einzelnen Glieder gekommen; besonders natürlich um die Köpfe. Jeder Block wollte möglichst vollständig sein, um den schweren Strafen zu entgehen, die auf ungenügende Meldung standen. Man hatte sich um die blutigen Stücke gerissen und gepufft, bis das Kommando»Stillgestanden«ertönt war. Die Blockältesten hatten in der Eile nichts organisieren können; so hatten zwei Körper gefehlt. Wahrscheinlich hatte die Bombe sie in kleine Stücke gerissen, die über Mauern geflogen waren oder in Fetzen auf den Dächern herumlagen. Der Rapportführer kam zu Weber.»Jetzt sind es nur noch anderthalb, die fehlen. Die Russen haben drei Beine für einen gehabt, und die Polen hatten einen überzähligen Arm.«Weber gähnte.»Lassen Sie durch Namensaufruf feststellen, wer fehlt.«Durch die Reihen der Gefangenen ging ein kaum merkliches Schwanken. Namensaufruf bedeutete, daß man noch ein bis zwei Stunden stehen mußte, wenn nicht länger – bei den Russen und Polen, die kein Deutsch verstanden, kamen dauernd Irrtümer mit ihren Namen vor. Der Aufruf begann. Stimmen flatterten auf; dann hörte man Schimpfen und Schläge. Die SS war gereizt und prügelte, weil sie ihre Freizeit verlor. Die Kapos und Blockältesten prügelten aus Angst. Hier und da kippten Leute um, und unter den Verwundeten breiteten sich langsam schwarze Blutlachen aus. Ihre grauweißen Gesichter wurden spitzer und schimmerten tödlich in der tiefen Dämmerung. Sie blickten ergeben zu ihren Kameraden hinauf, die mit den Händen an der Hosennaht dastanden und den Verblutenden nicht helfen durften. Für manche war dieser Wald von dreckigen Zebrabeinen das letzte, was sie von der Welt sahen. Der Mond kroch hinter dem Krematorium hoch. Die Luft war diesig, und er hatte einen breiten Hof. Eine Zeitlang stand er genau hinter dem Schornstein, und sein Licht schimmerte darüber hinweg, so daß es aussah, als würden Geister in den Öfen verbrannt und kaltes Feuer schlüge heraus. Dann wurde er langsam mehr und mehr sichtbar, und der stumpfe Schornstein wirkte jetzt wie ein Minenwerfer, der eine rote Kugel senkrecht in den Himmel feuerte. In der ersten Zehnerreihe von Block dreizehn stand der Gefangene Goldstein. Er war der letzte am linken Flügel, und neben ihm lagen die Verwundeten und Toten des Blocks. Einer der Verletzten war Goldsteins Freund Scheller. Er lag als nächster neben ihm. Goldstein sah aus den Augenwinkeln, daß sich der schwarze Fleck unter dem zerfetzten Bein Schellers plötzlich viel rascher als vorher vergrößerte. Der dürftige Verband hatte sich gelöst, und Scheller verblutete. Goldstein stieß seinen Nebenmann Münzer an; dann ließ er sich seitlich umkippen, als sei er ohnmächtig geworden. Er richtete es so ein, daß er halb über Scheller fiel. Was er machte, war gefährlich. Der wütende SS-Blockführer umkreiste die Reihen wie ein bissiger Schäferhund. Ein guter Tritt seiner schweren Stiefel gegen die Schläfe konnte Goldstein erledigen. Die Gefangenen in der Nähe standen unbeweglich; aber alle beobachteten, was vorging. Der Blockführer befand sich gerade mit dem Blockältesten am anderen Ende der Gruppe. Der Blockälteste meldete dort etwas. Er hatte Goldsteins Manöver ebenfalls bemerkt und versuchte, den Scharführer für einige Augenblicke festzuhalten. Goldstein tastete unter sich nach dem Strick, mit dem Schellers Bein abgeschnürt war. Er sah dicht vor seinen Augen das Blut und roch das rohe Fleisch.»Laß doch«, flüsterte Scheller. Goldstein fand den abgerutschten Knoten und löste ihn. Das Blut sprudelte stärker.»Sie spritzen mich ja doch ab«, flüsterte Scheller.»Mit dem Bein -«Das Bein hing nur noch an ein paar Sehnen und Hautfetzen. Es hatte sich durch den Fall Goldsteins verschoben und lag jetzt schief und sonderbar da, mit verdrehtem Fuß, als habe es ein drittes Gelenk. Goldsteins Hände waren naß von Blut. Er zog den Knoten an, aber der Strick rutschte wieder ab. Scheller zuckte.»Laß doch -«Goldstein mußte den Knoten wieder aufmachen. Er fühlte den zersplitterten Knochen an den Fingern. Sein Magen kam hoch. Er schluckte, suchte in dem glitschigen Fleisch, fand das Band wieder, schob es höher und erstarrte. Münzer hatte ihn gegen den Fuß gestoßen. Es war eine Warnung; der SS-Blockführer schnaufte heran.»Wieder so ein Schwein! Was ist mit dem nun wieder los?«»Umgefallen, Herr Scharführer.«Der Blockälteste war neben ihm.»Steh auf, faules Aas!«schrie er Goldstein an und trat ihm gegen die Rippen. Der Tritt sah viel härter aus, als er war. Der Blockälteste bremste ihn im letzten Moment. Er trat noch einmal. Er vermied so, daß der Scharführer es tat. Goldstein rührte sich nicht. Gegen sein Gesicht schlug das Blut Schellers.»Los, los! Laßt ihn liegen!«Der Blockführer ging weiter.»Verdammt, wann werden wir hier fertig?«Der Blockälteste folgte ihm. Goldstein wartete eine Sekunde; dann packte er das Band um Schellers Bein, riß es zusammen, knotete es und drehte den Holzknebel, der sich vorher gelöst hatte, wieder fest hinein. Das Blut hörte auf zu sprudeln. Es sickerte nur noch. Vorsichtig nahm Goldstein die Hände weg. Der Verband blieb fest.