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»Könnt ihr mehr bringen?«

»Nächste Woche.«

»Nein. Wenn ihr von der Kaserne zurückkommt. Die geben euch doch dort, was ihr wollt.«»Bist du derselbe, wie immer?«fragte das dickere Mädchen und beugte sich vor.

»Die sehen doch alle gleich aus, Fritzi«, sagte die andere.

»Ich kann hier warten«, flüsterte 509.»Ich habe noch Geld.«

»Wieviel?«

»Drei.«

»Wir müssen los, Fritzi«, sagte das andere Mädchen. Sie markierten während der Zeit Schritte auf der Stelle, damit die Posten nicht hören sollten, daß beide nicht weitergingen.

»Ich kann die ganze Nacht warten. Fünf Mark.«

»Du bist ein Neuer, was?«fragte Fritzi.»Wo ist der andere? Tot?«

»Krank. Hat mich hergeschickt. Fünf Mark. Vielleicht auch mehr.«

»Los, Fritzi. Wir können nicht so lange hier stehenbleiben.«

»Schön. Wir werden sehen. Warte meinetwegen hier.«

Die Mädchen gingen weiter. 509 hörte ihre Röcke rascheln. Er kroch zurück, zog den Mantel hinter sich her und legte sich erschöpft nieder. Er hatte das Gefühl zu schwitzen; aber er war ganz trocken.

Als er sich umdrehte, sah er Lebenthal.»Geklappt?«fragte Leo.

»Ja. Die Kartoffeln hier und das Brot.«

Lebenthal beugte sich nieder.»Diese Biester«, sagte er dann.»Was für Blutsauger! Das sind ja fast Preise wie hier im Lager! Eine Mark fünfzig wäre genug gewesen. Für drei Mark hätte Wurst dabei sein müssen. Das kommt davon, wenn man so was nicht selber macht!«509 hörte nicht zu.

»Laß uns teilen, Leo«, sagte er.

Sie krochen hinter die Baracke und legten die Kartoffeln und das Brot auseinander.

»Die Kartoffeln brauche ich«, sagte Lebenthal.»Zum Handel, morgen.«

»Nein. Wir brauchen jetzt alles selbst.«

Lebenthal blickte auf.»So? Und woher soll ich Geld für das nächstemal kriegen?«

»Du hast doch noch was.«

»Was du nicht alles weißt!«

Sie hockten sich plötzlich wie Tiere auf allen vieren gegenüber und sahen sich in die eingesunkenen Gesichter.

»Sie kommen heute abend zurück und bringen mehr«, sagte 509.»Sachen von drüben, mit denen du leichter handeln kannst. Ich habe ihnen gesagt, wir hätten noch fünf Mark.«

»Hör mal -«begann Lebenthal. Dann hob er die Schultern.»Wenn du das Geld hast, ist es deine Sache.«509 starrte ihn an. Schließlich blickte Lebenthal weg und ließ sich auf die Ellenbogen sinken.»Du machst mich kaputt«, jammerte er leise.»Was willst du eigentlich? Wozu mischst du dich auf einmal in alles ein?«509 widerstand der Gier, eine Kartoffel in den Mund zu stopfen und noch eine, rasch, alle, ehe ihm jemand zuvorkam.»Wie stellst du dir das vor?«flüsterte Lebenthal weiter.»Alles auffressen, das Geld ausgeben wie Idioten – wie sollen wir dann Neues kriegen?«

Die Kartoffeln. 509 roch sie. Das Brot. Seine Hände wollten dem Denken plötzlich nicht mehr folgen. Sein Magen war nichts mehr als Gier. Essen! Essen! Schlingen! Rasch! Rasch!

»Wir haben den Zahn«, sagte er mühsam und drehte den Kopf weg.

»Was ist mit dem Zahn? Wir kriegen doch etwas dafür. Was ist damit?«

»Da war heute wenig zu machen. Das dauert noch. Ist auch nicht sicher. Man hat erst, was man in der Hand hat.«

Ist er nicht hungrig? dachte 509. Was redet er? Zerreißt es ihm nicht den Magen?

»Leo«, sagte er mit dicker Zunge.»Denk an Lohmann. Wenn wir soweit sind, ist es zu spät. Jeder Tag zählt jetzt. Wir brauchen nicht mehr für Monate im voraus zu denken.«

Von der Richtung des Frauenlagers her kam ein dünner, hoher Schrei – wie von einem ängstlichen Vogel. Ein Muselmann stand dort auf einem Bein und streckte die Arme zum Himmel. Ein zweiter versuchte, ihn zu halten. Es sah aus, als ob beide einen grotesken»pas de deux«vor dem Horizont tanzten. Einen Moment später stürzten sie wie dürres Holz zu Boden, und der Schrei verstummte.

509 drehte sich wieder um.»Wenn wir erst sind wie die, nützt uns alles nichts mehr«, sagte er.

»Dann sind wir kaputt für immer. Wir müssen uns wehren, Leo.«

»Wehren – wie?«

»Wehren«, sagte 509 ruhiger. Der Anfall war vorüber. Er konnte wieder sehen. Der Brotgeruch machte ihn nicht mehr blind. Er näherte seinen Kopf Lebenthals Ohr.

»Für nachher -«sagte er fast lautlos.»Um uns zu rächen -«

Lebenthal fuhr zurück.»Damit will ich nichts zu tun haben.«

509 lächelte schwach.»Das sollst du auch nicht. Sorge du nur fürs Fressen.«

Lebenthal schwieg eine Zeitlang. Dann griff er in seine Tasche, zählte Geldstücke dicht vor seinen Augen und gab sie 509.»Hier sind drei Mark. Die letzten. Bist du nun zufrieden?«

509 nahm das Geld, ohne zu antworten.

Lebenthal legte das Brot und die Kartoffeln auseinander.»Zwölf Teile. Verflucht wenig dafür.«Er begann abzuzählen.

»Elf. Lohmann will nichts mehr. Braucht auch nichts mehr.«

»Gut. Elf.«

»Bring es hinein zu Berger, Leo. Sie warten.«

»Ja. Hier ist deins. Willst du hierbleiben, bis die beiden zurückkommen?«

»Ja.«

»Du hast noch Zeit. Sie kommen nicht vor eins oder zwei.«

»Das macht nichts. Ich bleibe hier.«

Lebenthal zuckte die Achseln.»Wenn sie nicht mehr bringen als vorher, brauchst du überhaupt nicht zu warten. Dafür kann ich auch was im Großen Lager kriegen. Wucherpreise, die Biester!«

»Ja, Leo. Ich werde aufpassen, daß ich mehr kriege.«

509 kroch wieder unter den Mantel. Ihn fror. Die Kartoffeln und sein Stück Brot hielt er in der Hand. Er steckte das Brot in die Tasche. Ich werde heute nacht nichts essen, dachte er. Ich werde bis morgen warten. Wenn ich das fertigbringe, dann – er wußte nicht, was dann sein würde. Irgend etwas. Etwas Wichtiges. Er versuchte es auszudenken. Es ging nicht. Er hatte noch die Kartoffeln in der Hand. Eine große und eine sehr kleine. Sie waren zu stark. Er aß sie. Er verschlang die kleine mit einem Bissen; die große kaute und kaute er. Er hatte nicht erwartet, daß der Hunger danach noch schlimmer werden würde. Er hätte es wissen müssen; es geschah immer wieder, aber man glaubte es jedesmal nicht. Er leckte seine Finger, und dann biß er in seine Hand, um sie von dem Brot in seiner Tasche fortzuhalten. Ich will das Brot nicht sofort herunterschlingen, wie früher, dachte er. Ich will es erst morgen essen.

Ich habe heute abend gegen Lebenthal gewonnen. Ich habe ihn halb überzeugt. Er wollte nicht; aber er hat mir drei Mark gegeben. Ich bin noch nicht kaputt. Ich habe noch Willen. Wenn ich es mit dem Brot aushalte bis morgen – es war ihm, als tropfe schwarzer Regen in seinem Kopf – dann -er ballte die Fäuste und starrte auf die brennende Kirche – da war es endlich -, dann bin ich keinTier. Kein Muselmann.

Nicht nur eine Freßmaschine. Ich habe dann, es ist – die Schwäche kam wieder, die Gier – es ist -, ich habe es zu Lebenthal vorhin gesagt, aber da hatte ich kein Brot in der Tasche. – Sagen ist leicht – es ist – Widerstand – es ist so, wie wieder ein Mensch werden – ein Anfang.

VI

Neubauer saß in seinem Büro. Ihm gegenüber saß der Stabsarzt Wiese, ein kleiner, affenähnlicher Mann mit Sommersprossen und einem zerfransten, rötlichen Schnurrbart.

Neubauer war schlecht gelaunt. Er hatte einen dieser Tage, an dem alles schiefzugehen schien. Die Nachrichten in den Zeitungen waren mehr als vorsichtig gewesen; Selma hatte zu Hause herumgemurrt; Freya war mit roten Augen durch die Wohnung geschlichen; zwei Rechtsanwälte hatten ihre Büros in seinem Geschäftshaus gekündigt – jetzt kam auch noch dieser lausige Pillendreher mit seinen Wünschen daher.

»Wieviel Leute wollen Sie denn haben?«fragte er mürrisch.

»Sechs genügen einstweilen. Körperlich ziemlich weit herunter.«

Wiese gehörte nicht zum Lager. Er besaß vor der Stadt ein kleines Hospital und hatte den Ehrgeiz, ein Mann der Wissenschaft zu sein. Er machte, wie manche andere Ärzte, Experimente an lebenden Menschen, und das Lager hatte ihm einigemale Gefangene dafür zur Verfügung gestellt.

Er war mit dem früheren Gauleiter der Provinz befreundet gewesen, und niemand hatte deshalb viel gefragt, wozu er die Leute benutzte. Die Leichen waren immer ordnungsgemäß später im Krematorium abgeliefert worden; das hatte genügt.

»Und sie brauchen die Leute für klinische Experimente?«fragte Neubauer.

»Ja. Versuche für die Armee. Geheim, vorläufig, natürlich.«Wiese lächelte. Die Zähne unter seinem Schnurrbart waren überraschend groß.»So, geheim -«Neubauer schnaufte. Er konnte diese überlegenen Akademiker nicht leiden. Überall mischten sie sich ein und verdrängten mit ihrer Wichtigtuerei die alten Kämpfer.»Sie können haben, so viele Sie wollen«, sagte er.»Wir sind froh, wenn die Leute noch zu etwas gut sind. Alles, was wir hier dafür brauchen, ist ein Überweisungsbefehl.«