Wiese blickte überrascht auf.»Ein Überweisungsbefehl?«
»Gewiß. Ein Überweisungsbefehl von meinem übergeordneten Amt.«
»Aber wieso – ich verstehe das nicht -«
Neubauer unterdrückte seine Genugtuung. Er hatte Wieses Überraschung erwartet.
»Ich verstehe wirklich nicht -«sagte der Stabsarzt noch einmal.»Ich habe doch bis jetzt nie etwas Derartiges gebraucht.«
Neubauer wußte das auch. Wiese hatte es nicht gebraucht, weil er den Gauleiter gekannt hatte.
Aber der Gauleiter war inzwischen wegen einer undurchsichtigen Angelegenheit ins Feld verschickt worden; das gab Neubauer jetzt eine willkommene Gelegenheit, dem Stabsarzt Schwierigkeiten zu machen.
»Das Ganze ist eine reine Formsache«, erklärte er leutselig.»Wenn die Armee die Überweisung für Sie beantragt, bekommen Sie die Leute ohne weiteres.«
Wiese hatte wenig Interesse daran; er hatte die Armee nur als Vorwand benutzt.
Neubauer wußte das ebenfalls. Wiese zerrte nervös an seinem Schnurrbart.»Ich verstehe das alles nicht. Ich habe bisher immer ohne weiteres Leute bekommen.«
»Für Experimente? Von mir?«
»Hier vom Lager.«
»Da muß ein Irrtum vorliegen.«Neubauer griff zum Telefon.»Ich werde mich einmal erkundigen.«
Er brauchte sich nicht zu erkundigen, er wußte auch so Bescheid. Nach ein paar Fragen legte er den Hörer nieder.»Ganz, wie ich vermutet habe, Herr Doktor. Sie haben früher Leute für leichte Arbeit angefordert und bekommen. So etwas macht unser Arbeitsamt ohne Formalitäten. Wir versorgen täglich Dutzende von Betrieben mit Arbeitskommandos. Die Leute bleiben dabei dem Lager unterstellt. Ihr Fall heute liegt anders. Sie verlangen dieses Mal Leute für klinische Experimente. Das macht eine Überweisung notwendig. Die Leute verlassen damit offiziell das Lager.
Dafür brauche ich einen Befehl.«
Wiese schüttelte den Kopf.»Das ist doch eins wie das andere«, erklärte er ärgerlich.
»Früher sind die Leute ebenso für Experimente benutzt worden wie jetzt.«
»Davon weiß ich nichts.«Neubauer lehnte sich zurück.»Ich weiß nur, was in den Akten steht.
Und ich glaube, es ist besser, wir lassen es dabei. Sie haben zweifellos kein Interesse daran, die Aufmerksamkeit der Behörden auf einen solchen Irrtum zu lenken.«
Wiese schwieg einen Moment. Er merkte, daß er sich selbst gefangen hatte.»Hätte ich Leute bekommen, wenn ich sie für leichte Arbeit angefordert hätte?«fragte er dann.
»Sicherlich. Dafür ist unser Arbeitsamt ja da.«
»Gut. Dann bitte ich um sechs Leute für leichte Arbeit.«
»Aber, Herr Stabsarzt!«Neubauer genoß die Situation mit vorwurfsvollem Triumph.
»Mir fehlen, offen gestanden, die Grundlagen für einen so plötzlichen Wechsel ihrer Wünsche. Erst wollen Sie Leute haben, die körperlich möglichst weit herunter sind, und dann verlangen Sie sie für leichte Arbeit. Das ist doch ein Widerspruch! Wer bei uns körperlich weit genug herunter ist, kann nicht einmal mehr Strümpfe stopfen, das können Sie mir glauben. Wir sind hier ein mit preußischer Ordnung geführtes Erziehungs- und Arbeitslager -«Wiese schluckte, stand brüsk auf und griff nach seiner Mütze. Neubauer erhob sich ebenfalls. Er war zufrieden damit, Wiese geärgert zu haben. Es lag ihm nichts daran, sich den Mann völlig zum Feinde zu machen. Man konnte nie wissen, ob der alte Gauleiter nicht eines Tages wieder in Gnaden aufgenommen werden würde.»Ich habe einen anderen Vorschlag, Herr Doktor«, sagte er deshalb. Wiese drehte sich um. Er war blaß. Die Sommersprossen stachen scharf aus seinem käsigen Gesicht.»Bitte?«»Wenn Sie die Leute so dringend brauchen, könnten Sie nach Freiwilligen fragen. Das erspart die Formalitäten. Wenn ein Häftling der Wissenschaft einen Dienst leisten will, so haben wir nichts dagegen. Es ist nicht ganz offiziell, aber das nehme ich auf meine Kappe, besonders bei den nutzlosen Fressern im Kleinen Lager. Die Leute unterschreiben eine entsprechende Erklärung, fertig.«Wiese antwortete nicht gleich.»In einem solchen Falle ist nicht einmal eine Bezahlung für Arbeitsleistungen nötig«, sagte Neubauer herzlich.»Die Leute bleiben offiziell im Lager. Sie sehen, ich tue, was ich kann.«Wiese blieb mißtrauisch.»Ich weiß nicht, weshalb Sie plötzlich so schwierig sind. Ich diene dem Vaterland -«»Das tun wir alle. Ich bin auch nicht schwierig. Nur ordentlich. Bürokram. Scheint einem wissenschaftlichen Genie wie Ihnen unnötig zu sein; aber für uns ist es nun mal die halbe Welt.«»Ich kann also sechs Freiwillige haben?«»Sechs und mehr, wenn Sie wollen. Ich werde Ihnen sogar unseren ersten Lagerführer auf die Tour mitgeben; er kann Sie zum Kleinen Lager führen. Sturmführer Weber. Überaus fähiger Mann.«»Gut. Danke.«»Nichts zu danken. War ein Vergnügen.«Wiese ging. Neubauer griff zum Telefon und instruierte Weber.»Lassen Sie ihn sich ordentlich abzappeln! Keine Befehle! Nur Freiwillige. Er soll sich meinetwegen die Schwindsucht an den Hals reden. Wenn keiner will, können wir ihm eben auch nicht helfen.«Er schmunzelte und legte den Hörer wieder auf. Seine schlechte Laune war verschwunden. Es hatte ihm gut getan, einem dieser Kulturbolschewisten einmal zu zeigen, daß man auch noch etwas zu melden hatte. Das mit den Freiwilligen war ein besonders guter Einfall gewesen. Es würde Wiese schwerfallen, jemand zu ergattern. Die Gefangenen wußten fast alle Bescheid. Selbst der Lagerarzt, der sich ebenfalls für einen Gelehrten hielt, muß sich seine Opfer auf den Straßen zusammenfangen, wenn er gesunde Leute für Experimente brauchte. Neubauer grinste und beschloß, später nachzuforschen, was aus der Sache geworden war.»Kann man die Wunde sehen?«fragte Lebenthal.»Kaum«, sagte Berger.»Die SS sicher nicht. Es war der vorletzte Backenzahn. Der Kiefer ist jetzt starr.«Sie hatten die Leiche Lohmanns vor die Baracke gelegt. Der Morgenappell war vorbei. Sie warteten auf den Wagen für die Toten. Ahasver stand neben 509. Seine Lippen bewegten sich.»Für diesen brauchst du nicht Kaddisch zu sagen, Alter«, erklärte 509.»Dieser war ein Protestant.«Ahasver blickte auf.»Es wird ihm nicht schaden«, sagte er ruhig und murmelte weiter.
Bucher erschien. Hinter ihm kam Karel, der Knabe aus der Tschechoslowakei. Seine Beine waren dünn wie Stöcke und das Gesicht winzig wie eine Faust unter dem viel zu großen Schädel. Er schwankte.
»Geh zurück, Karel«, sagte 509.»Hier ist es zu kalt für dich.«
Der Junge schüttelte den Kopf und kam näher. 509 wußte, warum er bleiben wollte.
Lohmann hatte ihm manchmal etwas von seinem Brot gegeben. Und dieses hier war Lohmanns Beerdigung; es war der Weg zum Friedhof, es waren die Kränze und Blumen mit bitterem Geruch, es war Beten und Klagen, es war alles, was sie noch für ihn tun konnten – dieses: da zu stehen und mit trockenen Augen auf den Körper zu starren, der in der frühen Sonne lag.
»Da kommt der Wagen«, sagte Berger.
Das Lager hatte früher nur Leichen träger gehabt; dann, als die Toten zahlreicher wurden, außerdem einen Wagen mit einem Schimmel. Der Schimmel war gestorben, und jetzt hatte man ein ausgedientes, flaches Lastauto mit einer Lattenverschalung, wie es zum Transport von geschlachtetem Vieh benutzt wurde. Es fuhr von Baracke zu Baracke, die Toten zu sammeln.
»Sind Leichenträger dabei?«
»Nein.«
»Dann müssen wir ihn selbst aufladen. Holt Westhof und Meyer.«
»Die Schuhe«, flüsterte Lebenthal plötzlich aufgeregt.
»Ja. Aber er muß etwas an den Füßen haben. Haben wir was?«
»In der Baracke ist noch das zerrissene Paar von Buchsbaum. Ich hole es.«
»Stellt euch hier herum«, sagte 509.»Rasch! Paßt auf, daß man mich nicht sehen kann.«
Er kniete neben Lohmann nieder. Die anderen stellten sich so, daß er gegen das Lastauto, das vor Baracke 17 hielt, und gegen die Posten auf den nächsten Türmen geschützt war. Er konnte die Schuhe leicht abziehen; sie waren viel zu groß. Die Füße Lohmanns bestanden nur noch aus Knochen.
»Wo ist das andere Paar? Rasch, Leo!«»Hier -«
Lebenthal kam aus der Baracke. Die zerrissenen Schuhe hatte er unter seiner lacke.
Er trat zwischen die anderen und drehte sich so, daß er sie vor 509 fallen lassen konnte. 509 gab ihm die anderen in die Hände. Lebenthal schob sie unter seiner Jacke hoch, bis sie in seinen Achseln verborgen waren, und ging dann zur Baracke zurück. 509 streifte Lohmann die zerrissenen Schuhe Buchsbaums über die Füße und stand taumelnd auf. Das Auto hielt jetzt vor Baracke 18.
»Wer fährt es?«
»Der Kapo selbst. Strohschneider.«
Lebenthal kam zurück.»Wie konnten wir das nur vergessen!«sagte er zu 509.»Die Sohlen sind noch gut.«
»Kann man sie verkaufen?«
»Tauschen.«
»Gut.«
Das Auto kam näher. Lohmann lag in der Sonne. Der Mund war schief gezogen und etwas offen, und eines der Augen schimmerte wie ein gelber Hörnknopf. Keiner sagte mehr etwas. Alle sahen ihn an. Er war endlos weit weg.