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»Sauhund!«Er trat 509 gegen den Bauch. Es war kein übermäßig kräftiger Tritt; es war ein Warntritt, kein Straftritt, nach Webers Meinung. Aber 509 fiel um.

»Aufstehn, Schwindler!«

»Nicht so, nicht so«, murmelte Wiese und hielt Weber zurück.»Ich muß sie heil haben.«

Er beugte sich über 509 und tastete ihn ab. Nach einer Weile öffnete 509 die Augen.

Er sah Wiese nicht an. Er sah Weber an.

Wiese richtete sich auf.»Sie müssen ins Hospital, lieber Mann. Wir werden für Sie sorgen.«

»Ich bin nicht verletzt«, keuchte 509 und stand mit Mühe auf.

Wiese lächelte.»Das weiß ich als Arzt besser.«Er wandte sich an Weber.»Das wären noch zwei.

Nun der letzte. Ein jüngerer.«Er zeigte auf Bucher, der auf der anderen Seite neben 509 gestanden hatte.»Der vielleicht -«

»Marsch, 'raus!«

Bucher trat neben 509 und die anderen. Weber sah jetzt durch die Lücke, die entstanden war, den tschechischen Knaben Karel.»Da ist noch eine halbe Portion. Wollen Sie die als Zugabe haben?«

»Danke. Ich brauche ausgewachsene Leute. Diese genügen. Herzlichen Dank.«

»Gut. Ihr sechs meldet euch in fünfzehn Minuten auf der Schreibstube. Blockältester! Nummern notieren! Gewaschen, ihr dreckigen Schweine!«

Sie standen, als hätte ein Blitz eingeschlagen. Keiner sprach. Sie wußten, was es bedeutete. Nur Wassja grinste. Er war schwachsinnig vor Hunger und glaubte, was Wiese gesagt hatte. Die drei Neuen starrten stumpf ins Leere; sie wären willenlos jedem Befehl gefolgt, auch dem, in den elektrisch geladenen Draht zu laufen. Ahasver lag am Boden und stöhnte. Handke hatte ihn mit einem Knüppel verprügelt, nachdem Weber und Wiese gegangen waren.

»Josef!«Eine schwache Stimme kam vom Frauenlager herüber.

Bucher rührte sich nicht. Berger stieß ihn an.»Da ist Ruth Holland.«

Das Frauenlager lag links neben dem Kleinen Lager und war von ihm durch einen doppelten, ungeladenen Stacheldraht getrennt. Es bestand nur aus zwei kleinen Baracken, die während des Krieges eingerichtet worden waren, als die neuen Massenverhaftungen begannen. Früher waren keine Frauen im Lager gewesen.

Bucher hatte vor zwei Jahren einige Wochen als Tischler drüben gearbeitet. Dabei hatte er Ruth Holland getroffen. Beide hatten sich heimlich ab und zu für kurze Zeit sehen und sprechen können; dann war Bucher zu einem anderen Kommando versetzt worden. Sie hatten sich erst wiedergesehen, als er ins Kleine Lager eingeliefert worden war. Manchmal, nachts oder bei Nebel, hatten sie dann miteinander flüstern können.

Ruth Holland stand hinter dem Stacheldraht, der die beiden Lager trennte. Der Wind wehte den gestreiften Kittel um ihre dünnen Beine.»Josef!«rief sie wieder.

Bücher hob den Kopf.»Geh vom Draht weg! Sie sehen dich!«

»Ich habe alles gehört. Tu es nicht!«

»Geh vom Draht weg, Ruth. Der Posten kann schießen.«

Sie schüttelte den Kopf. Ihr Haar war kürz und völlig grau.»Du nicht! Bleib hier! Geh nicht! Bleib hier, Josef!«

Bucher sah hilflos zu 509 hinüber.»Wir kommen wieder«, sagte 509 für ihn.

»Er kommt nicht wieder. Ich weiß es. Und du weißt es auch.«Sie preßte die Hände gegen den Draht.»Nie kommt jemand wieder.«

»Geh zurück, Ruth.«Bucher blickte nach den Wachtürmen.»Es ist gefährlich, da zu stehen.«

»Er kommt nicht wieder! Ihr wißt es alle!«509 erwiderte nichts. Es war nichts zu erwidern. Er war taub in sich selbst. Er hatte kein Gefühl mehr. Nicht für andere und nicht für sich selbst. Alles war vorbei, er wußte es, aber er fühlte es noch nicht. Er fühlte nur, daß er nichts fühlte.

»Er kommt nicht wieder«, wiederholte Ruth Holland.»Er soll nicht gehen.«

Bucher starrte auf den Boden. Er war zu benommen, um weiter zu antworten.»Er soll nicht gehen«, sagte Ruth Holland. Es war wie eine Litanei. Monoton, ohne Erregung.

Es war schon jenseits aller Erregung.»Jemand anders soll gehen. Er ist jung. Jemand anders soll für ihn gehen -«

Niemand antwortete. Jeder wußte, daß Bucher gehen mußte. Die Nummern waren von Handke aufgeschrieben worden. Und wer wäre schon für ihn gegangen?

Sie standen und sahen sich an. Die, die gehen mußten, und die, die zurückblieben. Sie sahen sich an. Wenn ein Blitz eingeschlagen und Bucher und 509 getötet hätte, wäre es erträglicher gewesen.

Es war unerträglich, weil in diesem letzten Blick noch die Lüge war, das schweigende: warum ich?

Gerade ich? auf der einen – und das: Gottlob, nicht ich! Nicht ich! auf der anderen Seite.

Ahasver richtete sich langsam vom Boden auf. Er starrte noch einen Augenblick benommen vor sich hin; dann erinnerte er sich. Er flüsterte etwas.

Berger drehte sich um.»Ich bin schuld«, krächzte der Alte plötzlich.»Ich – mein Bart – dadurch ist er hergekommen! Sonst wäre er drüben geblieben. Oi -«

Er begann mit beiden Händen an seinem Bart zu zerren. Tränen stürzten ihm übers Gesicht. Er war zu schwach, um sich die Haare auszureißen. Er saß auf dem Boden und zerrte seinen Kopf hin und her.

»Geh in die Baracke«, sagte Berger scharf.

Ahasver starrte ihn an. Dann ließ er sich vornüber aufs Gesicht fallen und heulte.

»Wir müssen gehen«, sagte 509.

»Wo ist der Zahn?«fragte Lebenthal.

509 griff in die Tasche und hielt ihn Lebenthal hin.»Hier -«

Lebenthal nahm ihn. Er zitterte.»Dein Gott!«stammelte er und machte eine vage Bewegung zur Stadt und der ausgebrannten Kirche hinunter.»Deine Zeichen! Deine Feuersäule!«509 tastete wieder nach seiner Tasche. Er hatte das Stück Brot gefühlt, während er den Zahn herausnahm.

Was hatte es nun genützt, daß er es nicht gegessen hatte. Er hielt es Lebenthal hin.

»Iß es selbst«, sagte Lebenthal wütend und hilflos.»Es ist deins.«

»Für mich hat es keinen Zweck mehr.«

Ein Muselmann hatte das Brotstück gesehen. Er stolperte rasch heran, den Mund weit offen, umklammerte den Arm von 509 und schnappte danach. 509 stieß ihn weg und schob das Brotstück in die Hand von Karel, der die ganze Zeit schweigend neben ihm gestanden hatte. Der Muselmann griff nach Karel. Der Junge trat ihm ruhig und genau gegen das Schienbein. Der Muselmann schwankte, und die anderen stießen ihn weg.

Karel sah 509 an.»Werdet ihr vergast?«fragte er sachlich.

»Hier gibt es keine Gaskammern, Karel. Du solltest das wissen«, sagte Berger ärgerlich.

»Das haben sie uns in Birkenau auch gesagt. Wenn sie euch Handtücher geben und euch sagen, ihr sollt baden, dann ist es Gas.«

Berger schob ihn beiseite.»Geh und iß dein Brot, sonst nimmt es dir ein anderer weg.«

»Ich passe schon auf.«Karel stopfte das Brot in den Mund. Er hatte gefragt, wie man nach einem Reiseziel fragt, und hatte nichts Böses gemeint. Er war in Konzentrationslagern aufgewachsen und kannte nichts anderes.

»Kommt -«sagte 509.

Ruth Holland begann zu weinen. Ihre Hände hingen wie Vogelkrallen am Stacheldraht. Sie fletschte die Zähne und stöhnte. Sie hatte keine Tränen.

»Kommt -«sagte 509 noch einmal. Er ließ die Augen über die Zurückbleibenden gleiten. Die meisten waren schon gleichgültig in die Baracken zurückgekrochen. Nur die Veteranen und ein paar andere standen da. Es schien 509 plötzlich, als habe er noch etwas ungeheuer Wichtiges zu sagen, etwas, von dem alles abhinge. Er mühte sich mit aller Kraft, aber er konnte es nicht in Gedanken und Worte bringen.»Vergeßt dies nicht«, sagte er schließlich nur.

Keiner erwiderte etwas. Er sah, daß sie es vergessen würden. Sie hatten ähnliches schon zu oft gesehen. Bucher hätte es vielleicht nicht vergessen, er war jung genug; aber der mußte mit.

Sie stolperten den Weg entlang. Sie hatten sich nicht gewaschen. Das war ein Witz Webers gewesen; das Lager hatte nie genug Wasser. Sie gingen vorwärts. Sie sahen sich nicht um. Sie kamen durch die Stacheldrahtpforte, die das Kleine Lager abtrennte.

Die Krepierpforte. Wassja schmatzte. Die drei Neuen gingen wie Automaten. Sie kamen an den ersten Baracken des Arbeitslagers vorbei. Die Kommandos waren längst ausgerückt. Die Baracken waren leer und trostlos; aber sie schienen 509 jetzt das Begehrenswerteste der Welt zu sein. Sie waren plötzlich Geborgenheit, Leben und Sicherheit. Er hätte hineinkriechen und sich verstecken mögen, fort von diesem erbarmungslosen Gang in den Tod. Zwei Monate zu früh, dachte er stumpf. Vielleicht nur zwei Wochen zu früh. Alles umsonst. Umsonst.

»Kamerad«, sagte plötzlich jemand neben ihm. Es war vor Baracke 13. Der Mann stand vor der Tür und hatte ein Gesicht, das schwarz mit Bartstoppeln war.

509 blickte auf.»Vergeßt das nicht«, murmelte er. Er kannte den Mann nicht.

»Wir werden es nicht vergessen«, erwiderte der Mann.»Wohin geht ihr?«

Die Leute, die im Arbeitslager zurückgeblieben waren, hatten Weber und Wiese gesehen. Sie wußten, daß das etwas Besonderes bedeuten mußte.