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509 blieb stehen. Er sah den Mann an. Auf einmal war er nicht mehr stumpf. Er fühlte wieder das Wichtige, das er noch zu sagen hatte, das, was nicht verlorengehen durfte.

»Vergeßt es nicht«, flüsterte er eindringlich.»Nie! Nie!«

»Nie!«wiederholte der Mann mit fester Stimme.»Wohin müßt ihr?«

»In ein Hospital. Als Versuchskaninchen. Vergeßt es nicht. Wie heißt du?«

»Lewinsky, Stanislaus.«

»Vergiß es nicht, Lewinsky«, sagte 509. Es war ihm, als habe es mehr Kraft mit dem Namen.

»Lewinsky, vergiß es nicht.«

»Ich werde es nicht vergessen.«

Lewinsky rührte mit der Hand an die Schulter von 509. 509 spürte es weiter als nur bis zur Schulter. Er sah Lewinsky noch einmal an. Lewinsky nickte. Sein Gesicht war nicht wie die Gesichter im Kleinen Lager. 509 fühlte, daß er verstanden worden war.

Er ging weiter.

Bucher hatte auf ihn gewartet. Sie erreichten die Gruppe der vier anderen, die weitergetrottet waren.»Fleisch«, murmelte Wassja.»Suppe und Fleisch.«

Die Schreibstube roch nach kaltem Mief und Lederwichse. Der Kapo hatte die Papiere vorbereitet. Er sah die sechs ausdruckslos an.»Ihr sollt das hier unterschreiben.«509 blickte auf den Tisch. Er verstand nicht, was da zu unterschreiben war. Gefangene wurden gewöhnlich kommandiert, und damit fertig. Dann spürte er, daß ihn jemand ansah. Es war einer der Schreiber, der hinter dem Kapo saß. Er hatte feuerrotes Haar.

Als er sah, daß 509 ihn bemerkte, bewegte er fast unmerklich den Kopf von 'rechts nach links.

Weber kam herein. Alles stand stramm.»Weitermachen!«kommandierte er und nahm die Papiere vom Tisch.»Noch nicht fertig? Los, unterschreibt das!«

»Ich kann nicht schreiben«, sagte Wassja, der am nächsten stand.

»Dann mach drei Kreuze.«

Wassja machte drei Kreuze.»Der Nächste!«

Die drei Neuen traten einer nach dem anderen heran. 509 versuchte sich krampfhaft zu sammeln.

Es schien ihm, als müßte irgendwo noch ein Ausweg sein. Er sah wieder zu dem Schreiber hinüber; aber der blickte nicht mehr auf.»Jetzt du!«knurrte Weber.

»Los! Träumst wohl, was?«509 nahm den Zettel auf. Seine Augen waren trübe. Die paar Schreibmaschinenzeilen wollten nicht stillstehen.»Lesen auch noch!«Weber gab ihm einen Stoß.

»Unterschreib, Lausehund!«509 hatte genug gelesen. Er hatte die Worte»hiermit erkläre ich freiwillig -«gelesen.

Er ließ das Blatt auf den Tisch fallen. Da war die verzweifelte, letzte Gelegenheit! Das hatte der Schreiber gemeint.

»Los, du Zitterbock! Soll ich dir die Hand führen?«

»Ich melde mich nicht freiwillig«, sagte 509.

Der Kapo starrte ihn an. Die Schreiber hoben die Köpfe und duckten sie sofort wieder über ihre Papiere. Es wurde einen Moment sehr still.

»Was?«fragte Weber dann ungläubig.

509 holte Atem.»Ich melde mich nicht freiwillig.«

»Du weigerst dich, zu unterschreiben?«

»Ja.«

Weber leckte sich die Lippen.»So, du unterschreibst das nicht?«Er nahm die linke Hand von 509, drehte sie und riß sie ihm über dem Rücken hoch. 509 fiel nach vorn auf den Boden. Weber hielt die verdrehte Hand weiter fest, zog 509 daran hoch, wippte und trat ihm auf den Rücken. 509 schrie und wurde still.

Weber nahm ihn mit der anderen Hand am Kragen und stellte ihn wieder auf. 509 fiel um.

»Schwächling!«knurrte Weber. Dann öffnete er eine Tür.»Kleinen! Michel!

Nehmt den Jammerkerl mal nach drüben und macht ihn munter. Laßt ihn da. Ich komme 'rüber.«

Sie schleppten 509 hinaus.»Jetzt du!«sagte Weber zu Bucher.»Unterschreib!«

Bucher zitterte. Er wollte nicht zittern, aber er hatte keine Gewalt über sich. Er war plötzlich allein.

509 war nicht mehr da. Alles in ihm gab nach. Er mußte rasch tun, was 509 getan hatte, sonst war es zu spät, und er würde wie ein Automat ausführen, was man ihm befahl.

»Ich unterschreibe auch nicht«, stammelte er.

Weber grinste.»Sieh mal an! Noch einer! Das ist ja wie in den alten guten Anfangstagen!«

Bucher fühlte den Schlag kaum. Eine krachende Finsternis brach über ihm zusammen.

Als er aufwachte, stand Weber über ihm. 509, dachte er stumpf, sog ist zwanzig Jahre älter als ich.

Mit dem hat er dasselbe gemacht. Ich muß durchhalten! Er spürte das Reißen, das Feuer, die Messer in den Schultern, er hörte nicht, daß er schrie – dann kam die Finsternis wieder.

Als er zum zweiten Male aufwachte, lag er neben 509 in einem anderen Kaum auf dem Zementboden. Durch ein Rauschen kam die Stimme Webers.»Ich könnte das ja für euch unterschreiben lassen, und es wäre erledigt; aber ich werde das nicht tun. Ich werde euren Trotz erst einmal in aller Gemütlichkeit brechen. Ihr werdet das selbst unterschreiben. Ihr werdet mich auf den Knien bitten, unterschreiben zu dürfen, wenn ihr es dann noch könnt.«509 sah Webers Kopf dunkel vor dem Fenster. Der Kopf schien sehr groß vor dem Himmel dahinter. Der Kopf war Tod und der Himmel dahinter plötzlich Leben, Leben, ganz gleich wo und wie, verlaust, zerschlagen, blutend, Leben trotz allem, einen jähen Augenblick lang – dann brach die Stumpfheit hölzern hinein, die Nerven erloschen barmherzig wieder, und nichts war mehr da als das matte Dröhnen. Wozu wehre ich mich, dachte etwas trübe in ihm, als er wieder aufwachte – es ist doch egal, hier totgeschlagen zu werden oder zu unterschreiben und durch eine Spritze erledigt zu werden, schneller als hier, schmerzloser -, dann hörte er eine Stimme neben sich, seine eigene Stimme, mit der ein anderer zu sprechen schien -»nein – ich unterschreibe nicht – und wenn Sie mich totschlagen -«.

Weber lachte.»Das möchtest du wohl, du Gerippe! Damit es vorbei ist, wie?

Totschlagen dauert Wochen bei uns. Wir fangen gerade erst an.«

Er nahm den Koppelriemen wieder auf. Der Schlag traf 509 über die Augen. Er verletzte sie nicht; sie waren zu tief eingesunken. Der zweite traf die Lippen. Sie rissen ein wie trockenes Pergament.

Nach ein paar weiteren Hieben über den Schädel mit dem Koppelschloß war er wieder bewußtlos.

Weber schob ihn beiseite und schlug auf Bucher los. Bucher versuchte, sich wegzuducken; aber er war viel zu langsam. Der Schlag traf ihn über die Nase. Er krümmte sich, und Weber trat ihm zwischen die Beine. Bucher schrie. Er spürte noch das Koppelschloß einige Male in seinen Nacken hacken, dann fiel er wieder in den Sturm der Dunkelheit.

Er hörte verworrene Stimmen; aber er rührte sich nicht. Solange er bewußtlos schien, würde er nicht weitergeschlagen werden. Die Stimmen gingen über ihn hinweg, endlos. Er versuchte, nicht hinzuhören, aber sie kamen näher und stachen in seine Ohren und sein Gehirn.

»Bedauere, Herr Doktor, aber wenn die Leute nicht freiwillig wollen – Sie sehen, Weber hat ihnen gründlich zugeredet.«

Neubauer war glänzender Laune. Seine Erwartungen waren weit übertroffen worden.

»Haben Sie das hier verlangt?«fragte er Wiese.

»Selbstverständlich nicht.«

Bucher versuchte vorsichtig zu blinzeln. Aber er konnte seine Augenlider nicht kontrollieren. Sie klappten auf wie die einer mechanischen Puppe. Er sah Wiese und Neubauer. Dann sah er 509.

509 hatte die Augen ebenfalls offen. Weber war nicht mehr da.

»Selbstverständlich nicht«, erklärte Wiese noch einmal.»Als Kulturmensch -«

»Als Kulturmensch«, unterbrach Neubauer ihn,»brauchen Sie diese Leute für Ihre Experimente, nicht wahr?«

»Das ist eine Angelegenheit der Wissenschaft. Unsere Versuche retten zehntausend anderen Menschen das Leben. Sie verstehen das vielleicht nicht -«

»Doch. Aber Sie verstehen dieses hier vielleicht nicht. Es ist eine einfache Sache der Disziplin.

Überaus wichtig, ebenfalls.«

»Jeder auf seine Art«, erklärte Wiese hochmütig.

»Gewiß, gewiß. Bedaure, daß ich Ihnen nicht besser behilflich sein konnte. Aber wir zwingen keinen unserer Schützlinge zu etwas. Und die Leute hier scheinen eine Abneigung dagegen zu haben, das Lager zu verlassen.«Er wandte sich zu 509 und Bucher.»Ihr wollt also lieber im Lager bleiben?«509 bewegte die Lippen.»Was?«fragte Neubauer scharf.

»Ja«, sagte 509.

»Und du dort?«

»Ich auch«, flüsterte Bucher.

»Sehen Sie, Herr Stabsarzt?«Neubauer lächelte.»Die Leute lieben es hier. Da ist nichts zu machen.«

Wiese lächelte nicht.»Tölpel«, sagte er verächtlich in die Richtung von 509 und Bucher.»Dieses Mal wollten wir wirklich nichts anderes machen als Fütterungsexperimente.«

Neubauer blies den Rauch seiner Zigarre von sich.»Um so besser. Doppelte Strafe für Insubordination. Immerhin, wenn Sie noch versuchen wollen, im Lager andere zu finden – es steht Ihnen frei, Herr Doktor.«