Im Anfang hatte das Lager nur politische Häftlinge gehabt; dann waren im Laufe der Jahre gewöhnliche Verbrecher in Mengen aus den überfüllten Gefängnissen der Stadt und der Provinz dazugekommen. Die Gruppen unterschieden sich durch die Farbe der dreieckigen Stoffwinkel, die außer den Nummern auf die Kleider aller Gefangenen genäht waren. Die der Politischen waren rot; die der Kriminellen grün. Juden trugen außerdem noch einen gelben Winkel dazu, so daß beide Dreiecke zusammen einen Davidstern ergaben. 509 nahm den Mantel Lebenthals und die Jacke Josef Buchers, hängte sie sich über den Rücken und begann der Baracke zuzukriechen. Er spürte, daß er müder war als sonst. Selbst das Kriechen fiel ihm schwer. Schon nach kurzer Zeit fing der Boden an, sich unter ihm zu drehen. Er hielt inne, schloß die Lider und atmete tief, um sich zu erholen. Im selben Augenblick begannen die Sirenen der Stadt. Es waren anfangs nur zwei. Wenige Sekunden später hatten sie sich vervielfacht, und gleich darauf schien es, als schrie unten die ganze Stadt. Sie schrie von den Dächern und aus den Straßen, von den Türmen und aus den Fabriken, sie lag offen in der Sonne, nichts schien sich in ihr zu regen, sie schrie nur plötzlich, als sei sie ein paralysiertes Tier, das den Tod sieht und nicht weglaufen kann; sie schrie mit Sirenen und Dampf pfeifen gegen den Himmel, in dem alles still war. 509 hatte sich sofort geduckt. Es war verboten, bei Fliegeralarm außerhalb der Baracken zu sein. Er hätte versuchen können, aufzustehen und zu laufen, aber er war zu schwach, um schnell genug vorwärts zu kommen, und die Baracke war zu weit; inzwischen hätte ein nervöser, neuer Wachposten schon auf ihn schießen können. So rasch er konnte, kroch er deshalb ein paar Meter zurück zu einer flachen Bodenfalte, preßte sich hinein und zog die geborgten Kleider über sich. Er sah so aus wie jemand, der tot zusammengebrochen war. Das kam oft vor und war unverdächtig.
Der Alarm würde ohnehin nicht lange dauern. Die Stadt hatte in den letzten Monaten alle paar Tage einen gehabt, und es war nie etwas passiert. Die Flugzeuge waren immer weitergeflogen in der Richtung nach Hannover und Berlin. Die Sirenen des Lagers setzten ein. Dann kam nach einiger Zeit der zweite Alarm. Das Heulen schwoll auf und ab, als liefen unscharfe Platten auf riesigen Grammophonen. Die Flugzeuge näherten sich der Stadt. 509 kannte auch das. Es rührte ihn nicht. Sein Feind war der nächste Maschinengewehrschütze, der merken würde, daß er nicht tot war. Was außerhalb des Stacheldrahtes geschah, ging ihn nichts an. Er atmete mühsam. Die stickige Luft unter dem Mantel wurde zu schwarzer Watte, die sich dichter und dichter über ihn häufte. Er lag in der Bodensenkung wie in einem Grab – und allmählich kam es ihm vor, als sei es wirklich sein Grab, als könne er nie wieder aufstehen, als sei es diesmal das Ende, und er würde hier liegenbleiben und sterben, endlich übermannt von der letzten Schwäche, gegen die er so lange gekämpft hatte. Er versuchte sich zu wehren, aber es half wenig; er spürte es nur noch stärker, ein sonderbar ergebenes Warten, das sich in ihm ausbreitete, in ihm und über ihn hinaus, als warte plötzlich alles – warte die Stadt, als warte die Luft, als warte selbst das Licht. Es war wie bei einer beginnenden Sonnenfinsternis, wenn die Farben schon den Hauch von Blei haben und die ferne Ahnung einer sonnenlosen, toten Welt – ein Vakuum, ein Warten ohne Atem, ob der Tod noch einmal vorübergehen würde oder nicht. Der Schlag war nicht heftig; aber er war unerwartet. Und er kam von einer Seite, die geschützter schien als jede andere. 509 spürte ihn als einen harten Ruck, tief aus dem Boden gegen den Magen. Gleichzeitig schnitt durch das Heulen draußen ein hohes, stählernes Sausen, das sich rasend verstärkte, ähnlich dem Lärm der Sirenen und doch völlig anders. 509 wußte nicht, was früher gekommen war, der Schlag aus der Erde oder das Sausen und der darauffolgende Krach aber er wußte, daß beides noch in keinem Alarm vorher dagewesen war, und als es sich jetzt wiederholte, näher und stärker, über und unter ihm, da wußte er auch, was es sein mußte: die Flugzeuge waren zum ersten Male nicht weitergeflogen. Die Stadt wurde bombardiert. Der Boden bebte wieder. Es schien 509, als hieben gewaltige unterirdische Gummiknüppel auf ihn ein. Er war plötzlich ganz wach. Die Todesmüdigkeit war wie Rauch in einem Wirbelwind verflogen. Jeder Ruck aus dem Boden wurde zu einem Ruck in seinem Gehirn. Eine Zeitlang lag er noch still – dann, fast ohne zu merken, was er tat, schob er behutsam eine Hand vorwärts und hob den Mantel von seinem Gesicht so weit hoch, daß er darunter hinweg zur Stadt hinabspähen konnte. Langsam und spielerisch faltete sich unten gerade der Bahnhof auseinander und hob sich in die Luft. Es sah beinahe zierlich aus, wie die goldene Kuppel über die Bäume des Stadtparks segelte und hinter ihnen verschwand. Die schweren Explosionen schienen gar nicht dazu zu gehören – alles war viel zu langsam dafür, und das Geräusch der Flak ertrank darin wie Terriergekläff im tiefen Bellen einer großen Dogge. Beim nächsten mächtigen Stoß begann einer der Türme der Katharinenkirche sich zu neigen. Auch er fiel sehr langsam und zerbrach während des Fallens gemächlich in mehrere Stücke – als sei das Ganze eine Zeitlupenaufnahme und keine Wirklichkeit. Qualmfontänen wuchsen jetzt wie Pilze zwischen den Häusern empor. 509 hatte immer noch nicht das Gefühl von Zerstörung; unsichtbare Riesen spielten da unten, das war alles. In den unbeschädigten Stadtteilen stieg friedlich weiter der Rauch aus den Schornsteinen auf; der Fluß spiegelte wie früher die Wolken, und die Flakwölkchen säumten den Himmel, als sei er ein harmloses Kissen, dessen Nähte überall barsten und grauweiße Baumwollflocken ausstießen. Eine Bombe fiel weit außerhalb der Stadt in die Wiesen, die sich zum Lager hinaufzogen. 509 spürte immer noch keine Furcht; alles das war viel zu weit weg von der engen Welt, die allein er noch kannte. Furcht konnte man haben vor brennenden Zigaretten an Augen und Hoden, vor Wochen im Hungerbunker, einem Steinsarg, in dem man weder stehen noch liegen konnte, vor dem Bock, auf dem einem die Nieren zerschlagen wurden; vor der Folterkammer im linken Flügel neben dem Tor – vor dem Steinbrenner, vor Breuer, vor dem Lagerführer Weber -, aber selbst das war schon etwas verblaßt, seit er ins Kleine Lager abgeschoben worden war. Man mußte rasch vergessen können, um die Kraft zum Weiterleben aufzubringen. Außerdem war das Konzentrationslager Meilern nach zehn Jahren der Torturen etwas müder geworden – selbst einem frischen, idealistischen SS-Mann wurde es mit der Zeit langweilig, Skelette zu quälen. Sie hielten wenig aus und reagierten nicht genügend. Nur wenn kräftige, leidensfähige Zugänge kamen, flammte der alte patriotische Eifer manchmal noch auf. Dann hörte man in den Nächten wieder das vertraute Heulen, und die SS-Mannschaften sahen ein bißchen angeregter aus, wie nach einem guten Schweinebraten mit Kartoffeln und Rotkohl. Sonst aber waren die Lager in Deutschland während der Kriegsjahre eher human geworden. Man vergaste, erschlug und erschoß fast nur noch oder arbeitete die Leute einfach kaputt und ließ sie dann verhungern. Daß ab und zu im Krematorium ein Lebender mitverbrannt wurde, lag eher an Überarbeitung und der Tatsache, daß manche Skelette sich lange nicht bewegten, als an böser Absicht. Es kam auch nur vor, wenn rasch Raum für neue Transporte geschaffen werden mußte durch Massenliquidierungen. Sogar das Verhungernlassen der Arbeitsunfähigen wurde in Meilern nicht zu roh betrieben; es gab im Kleinen Lager immer noch etwas zu essen, und Veteranen wie 509 hatten es fertiggebracht, Rekorde damit zu schlagen und am Leben zu bleiben. Das Bombardement hörte plötzlich auf. Nur noch die Flak tobte. 509 hob den Mantel etwas höher, so daß er den nächsten Maschinengewehrturm sehen konnte. Der Stand war leer. Er blickte weiter nach rechts und dann nach links. Auch dort waren die Türme ohne Wachen. Die SS-Mannschaften waren überall heruntergeklettert und hatten sich in Sicherheit gebracht; sie hatten gute Luftschutzbunker nahe den Kasernen. 509 warf den Mantel ganz zurück und kroch näher an den Stacheldraht heran. Er stützte sich auf die Ellbogen und starrte ins Tal hinunter. Die Stadt brannte jetzt überall. Das, was vorher spielerisch ausgesehen hatte, hatte sich inzwischen in das verwandelt, was es wirklich war: Feuer und Zerstörung. Der Rauch hockte wie eine riesige Molluske der Vernichtung gelb und schwarz in den Straßen und fraß die Häuser. Flammen zuckten hindurch. Vom Bahnhof schoß eine mächtige Funkengarbe hoch. Der zerbrochene Turm der Katharinenkirche begann zu flackern, und Feuerzungen leckten wie fahle Blitze daran empor. Unbekümmert, als sei nichts geschehen, stand die Sonne in goldener Glorie dahinter, und es wirkte fast gespenstisch, daß der Himmel mit seinem Blau und Weiß genauso heiter war wie vorher und daß die Wälder und Höhenzüge rundum ruhig und unbeteiligt weiter im sanften Licht lagen – als sei nur die Stadt allein verdammt worden durch einen unbekannten, finsteren Richtspruch. 509 starrte hinunter. Er vergaß alle Vorsicht und starrte hinunter. Er kannte die Stadt nicht anders als durch den Stacheldraht, und er war nie in ihr gewesen; aber in den zehn Jahren, die er im Lager zugebracht hatte, war sie für ihn mehr geworden als nur eine Stadt. Im Anfang war sie das fast unerträgliche Bild der verlorenen Freiheit gewesen. Tag für Tag hatte er auf sie hinuntergestarrt – er hatte sie gesehen mit ihrem sorglosen Leben, wenn er nach einer Spezialbehandlung durch den Lagerführer Weber kaum noch kriechen konnte; er hatte sie gesehen mit ihren Kirchen und Häusern, wenn er mit ausgerenkten Armen am Kreuz hing; er hatte sie gesehen mit den weißen Kähnen auf ihrem Fluß und den Automobilen, die in den Frühling fuhren, während er Blut aus den zerschlagenen Nieren pißte – die Augen hatten ihm gebrannt, wenn er sie gesehen hatte, und es war eine Folter gewesen, sie zu sehen, eine Folter, die zu allen anderen des Lagers noch hinzugekommen war. Dann hatte er begonnen, sie zu hassen. Die Zeit war hingegangen, und nichts hatte sich in ihr geändert, ganz gleich, was hier oben geschah. Der Rauch ihrer Kochherde war jeden Tag weiter aufgestiegen, unbekümmert um den Qualm des Krematoriums; ihre Sportplätze und Parks waren voll fröhlichen Tumults gewesen, während gleichzeitig Hunderte von gejagten Kreaturen auf dem Tanzboden des Lagers verröchelten – Scharen von ferienfrohen Menschen waren jeden Sommer aus ihr in die Wälder gewandert, während die Häftlingskolonnen ihre Toten und Ermordeten aus den Steinbrüchen zurückschleppten; er hatte sie gehaßt, weil er geglaubt hatte, daß er und die anderen Gefangenen für immer von ihr vergessen worden seien. Schließlich war auch der Haß erloschen. Der Kampf um eine Brotkruste war wichtiger geworden als alles andere – und ebenso die Erkenntnis, daß Haß und Erinnerungen ein gefährdetes Ich ebenso zerstören konnten wie Schmerz. 509 hatte gelernt, sich einzukapseln, zu vergessen und sich um nichts mehr zu kümmern als um die nackte Existenz von einer Stunde zur anderen. Die Stadt war ihm gleichgültig geworden und ihr unverändertes Bild nur noch ein trübes Symbol dafür, daß auch sein Schicksal sich nicht mehr ändern würde. Jetzt brannte sie. Er spürte, wie seine Arme zitterten. Er versuchte, es zu unterdrücken, doch er konnte es nicht; es wurde stärker. Alles in ihm war plötzlich lose und ohne Zusammenhang. Sein Kopf schmerzte, als sei er hohl und jemand trommele darin. Er schloß die Augen. Er wollte das nicht. Er wollte nichts wieder in sich auf» kommen lassen. Er hatte alle Hoffnung zerstampft und begraben. Er ließ die Arme auf den Boden gleiten und legte das Gesicht auf die Hände. Die Stadt ging ihn nichts an. Er wollte nicht, daß sie ihn anginge. Er wollte weiter, wie vorher, gleichgültig die Sonne auf das schmutzige Pergament scheinen lassen, das als Haut über seinen Schädel gespannt war, wollte atmen, Läuse töten, nicht denken – so wie er es seit langem getan hatte. Er konnte es nicht. Das Beben in ihm hörte nicht auf. Er wälzte sich auf den Rücken und streckte sich flach aus. Über ihm war jetzt der Himmel mit den Wölkchen der Flakgeschosse. Sie zerfaserten rasch und trieben vor dem Winde dahin. Er lag eine Weile so, dann konnte er auch das nicht mehr aushaken. Der Himmel wurde zu einem blauen und weißen Abgrund, in den er hineinzufliegen schien. Er drehte sich um und setzte sich auf. Er blickte nicht mehr auf die Stadt. Er blickte auf das Lager, und er blickte zum ersten Male darauf, als erwarte er Hilfe von dort. Die Baracken dösten wie vorher in der Sonne. Auf dem Tanzplatz hingen die vier Leute immer noch an den Kreuzen. Der Scharführer Breuer war verschwunden, aber der Rauch vom Krematorium stieg weiter auf; er war nur dünner geworden. Entweder verbrannte man gerade Kinder, oder es war befohlen worden, mit der Arbeit aufzuhören. 509 zwang sich, das alles genau zu betrachten. Dieses war seine Welt. Keine Bombe hatte sie getroffen. Sie lag unerbittlich da wie immer. Sie allein beherrschte ihn; das da draußen, jenseits des Stacheldrahtes, ging ihn nichts an. In diesem Augenblick schwieg die Flak. Es traf ihn, als sei ein Reifen von Lärm gesprungen, der ihn fest umspannt gehalten hatte. Eine Sekunde lang glaubte er, er habe nur geträumt und wache gerade auf. Mit einem Ruck drehte er sich um. Er hatte nicht geträumt. Da lag die Stadt und brannte. Da waren Qualm und Zerstörung, und es ging ihn doch etwas an. Er konnte nicht mehr erkennen, was getroffen war, er sah nur Rauch und das Feuer, alles andere verschwamm, aber es war auch egaclass="underline" die Stadt brannte, die Stadt, die unveränderlich erschienen war, unveränderlich und unzerstörbar wie das Lager. Er schrak zusammen. Ihm war plötzlich, als seien hinter ihm von allen Türmen alle Maschinengewehre des Lagers auf ihn gerichtet. Rasch blickte er herum. Nichts war geschehen. Die Türme waren leer wie vorher. Auch in den Straßen war niemand zu sehen. Doch es half nichts – eine wilde Angst hatte ihn jäh wie eine Faust im Genick gepackt und schüttelte ihn. Er wollte nichtsterben! Jetzt nicht! Jetzt nicht mehr! Hastig ergriff er seine Kleidungsstücke und kroch zurück. Er verwickelte sich dabei in den Mantel Lebenthals und stöhnte und fluchte und riß ihn unter seinen Knien fort und kroch weiter zur Baracke, eilig, tief erregt und verwirrt – als flüchte er noch vor etwas anderem als nur vor dem Tode.