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»Ich komme zurück. Dann werden wir darüber reden. Erst muß ich die Bestimmungen kennen.«

»Ja oder nein?«

Neubauer sah Freya hinter ihrer Mutter nicken und ihm ein Zeichen machen, vorläufig beizustimmen.

»Schön – ja«, sagte er verdrießlich.

Selma Neubauer öffnete den Mund. Die Spannung wich aus ihr wie Gas aus einem Ballon. Sie ließ sich vornüber auf das Sofa fallen, das zu dem Fauteuil aus dem 18. Jahrhundert gehörte. Sie war auf einmal nur noch ein Haufen weiches Fleisch, geschüttelt von Schluchzen:»Ich will nicht sterben -ich will nicht – mit all unseren schönen Sachen – nicht jetzt -«Über ihrem zerwühlten Haar blickten die Schäfer und Schäferinnen des Gobelinbezuges mit dem ironischen Lächeln des 18. Jahrhunderts heiter und gleichgültig ins Nichts.

Neubauer betrachtete sie angewidert. Sie hatte es leicht; sie schrie und heulte – aber wer fragte danach, was in ihm vorging? Er mußte alles 'runterschlucken. Zuversichtlich sein; ein Fels im Meer.

Hundertdreißigtausend Mark. Nicht ein mal gefragt hatte sie danach.

»Paß gut auf sie auf«, sagte er kurz zu Freya und ging.

Im Garten hinter dem Hause standen die beiden russischen Gefangenen. Si«arbeiteten noch, obschon es dunkel war. Neubauer hatte das vor ein paar Tagen angeordnet. Er hatte ein Stück rasch umgegraben haben wollen. Er hatte dort Tulpen setzen wollen.

Tulpen und etwas Petersilie, Majoran, Basilikum andere Küchenkräuter. Er liebte Kräuter am Salat und für Soßen. Das war vor ein paar Tagen gewesen. Es war eine Ewigkeit her. Verbrannte Zigarren konnte er jetzt da pflanzen. Zerschmolzenes Blei aus der Zeitung.

Die Gefangenen beugten sich über ihre Spaten, als sie Neubauer kommen sahen.»Was habt ihr zu glotzen?«fragte er. Die Wut brach plötzlich durch. Der Ältere von ihnen antwortete etwas auf russisch.

»Glotzen, habe ich gesagt! Du glotzt jetzt noch, Bolschewistenschwein! Frech sogar!

Freust dich wohl, daß das Privateigentum von ehrlichen Bürgern zerstört wird, was?«

Der Russe erwiderte nichts.»Vorwärts, an die Arbeit, ihr faulen Hunde!«

Die Russen verstanden ihn nicht. Sie starrten ihn an und versuchten heraus» zufinden, was er meinte. Neubauer holte aus und gab einem von ihnen einen Tritt in den Bauch.

Der Mann fiel um und stand langsam wieder auf. Er richtete sich an seinem Spaten auf und hielt den Spaten dann in der Hand. Neubauer sah seine Augen und die Hände, die die Schaufel umfaßt hatten. Er spürte Angst, wie einen Messerstich in den Magen, und griff nach seinem Revolver.

»Lump! Widerstand leisten, was?«

Er schlug ihm den Revolvergriff zwischen die Augen. Der Russe fiel um und stand nicht mehr auf.

Neubauer atmete heftig.»Erschießen hätte ich dich können«, schnaufte er.»Widerstand leisten!

Wollte den Spaten heben, um zu schlagen! Erschießen! Zu anständig ist man, das ist es. Ein anderer hätte ihn erschossen!«Er sah den Wachsoldaten an, der seitab stramm stand.»Erschossen hätte ihn ein anderer. Sie haben gesehen, wie er den Spaten heben wollte.«

»Jawohl, Herr Obersturmbannführer.«

»Na, schön. Los, gießen Sie ihm eine Kanne Wasser über den Schädel.«

Neubauer blickte auf den zweiten Russen. Der Mann grub, tief über den Spaten gebückt. Sein Gesicht war leer. Vom Nachbargrundstück her bellte ein Hund wie rasend. Wäsche flatterte dort im Winde. Neubauer fühlte, daß sein Mund trocken war.

Er verließ den Garten. Seine Hände zitterten. Was ist los? dachte er. Angst? Ich habe keine Angst.

Ich nicht! Nicht vor einem dämlichen Russen. Wovor dann? Was ist los mit mir? Gar nichts ist los!

Ich bin nur zu anständig, weiter nichts. Weber hätte den Kerl langsam totgeschlagen. Dietz hätte ihn auf der Stelle erschossen. Ich nicht. Ich bin zu sentimental, das ist mein Fehler. Das ist mein Fehler mit allem. Mit Selma auch.

Der Wagen stand draußen. Neubauer straffte sich.»Zum neuen Parteihaus, Alfred.

Sind die Straßen dahin frei?«

»Nur, wenn wir um die Stadt herumfahren.«

»Gut. Fahr um die Stadt herum.«

Der Wagen wendete. Neubauer sah das Gesicht des Chauffeurs.»Irgendwas passiert, Alfred?«

»Meine Mutter ist mit umgekommen.«

Neubauer rückte unbehaglich hin und her. Auch das noch! Hundertdreißigtausend Mark, Selmas Geschrei, und jetzt mußte er auch noch Trost spenden.»Mein Beileid, Alfred«, sagte er knapp und militärisch, um es hinter sich zu bringen.»Schweine! Mörder von Frauen und Kindern.«

»Wir haben sie auch gebombt.«Alfred sah auf die Straße vor sich.»Zuerst. Ich war dabei. In Warschau, Rotterdam und Coventry. Bevor ich den Schuß erhielt und entlassen wurde.«

Neubauer starrte ihn überrascht an. Was war nur los, heute? Erst Selma und jetzt der Chauffeur!

Ging denn alles aus den Fugen?»Das war etwas anderes, Alfred«, sagte er.

»Etwas ganz anderes. Das waren strategische Notwendigkeiten. Dieses hier ist reiner Mord.«

Alfred erwiderte nichts. Er dachte an seine Mutter, an Warschau, an Rotterdam und Coventry und den fetten deutschen Luftmarschall und riß den Wagen um die Ecke.

»Man darf nicht so denken, Alfred. Das ist schon fast Hochverrat! Verständlich im Augenblick Ihres Schmerzes natürlich, aber verboten. Ich will es nicht gehört haben.

Befehl ist Befehl, das genügt für unser Gewissen. Reue ist undeutsch. Falsches Denken auch. Der Führer weiß schon, was er tut. Wir folgen ihm, fertig. Diesen Massenmördern wird er es schon noch heimzahlen! Doppelt und dreifach! Mit unseren geheimen Waffen! Wir kriegen sie zu Boden!

Schon jetzt beschießen wir England Tag und Nacht mit unseren V-1 Geschossen. Wir werden die ganze Insel in Asche legen mit all den neuen Erfindungen, die wir haben. Im letzten Moment! Und Amerika dazu!

Sie müssen bezahlen! Doppelt und dreifach! Doppelt und dreifach«, wiederholte Neubauer und wurde zuversichtlich und begann selbst fast zu glauben, was er redete.

Er holte eine Zigarre aus einem Lederetui und biß die Spitze ab. Er wollte noch weitersprechen. Er hatte plötzlich ein großes Bedürfnis danach – aber er schwieg, als er Alfreds zusammengepreßte Lippen sah. Wer kümmert sich schon um mich, dachte er.

Jeder ist nur mit sich beschäftigt. Ich sollte zu meinem Garten vor der Stadt fahren.

Die Kaninchen, weich und flaumig, mit roten Augen in der Dämmerung. Immer, schon als Junge, hatte er Kaninchen haben wollen. Sein Vater hatte es verboten. Jetzt hatte er sie. Der Geruch nach Heu und Fell und frischen Blättern. Die Geborgenheit der Knabenerinnerung. Vergessene Träume.

Manchmal war man verdammt allein.

Hundertdreißigtausend Mark. Das Höchste, was er als Junge gehabt hatte, waren fünfundsiebzig Pfennig gewesen. Zwei Tage später hatte man sie ihm gestohlen.

Feuer um Feuer sprang auf. Es war die alte Stadt, die wie Zunder brannte. Sie bestand fast nur aus Holzhäusern. Der Fluß spiegelte die Flammen, als brenne auch er.

Die Veteranen, die gehen konnten, hockten in einem schwarzen Klumpen vor der Baracke. Im roten Dunkel konnten sie sehen, daß die Maschinengewehrstände noch leer waren. Der Himmel war bedeckt; die weiche, graue Wolkenschicht war angestrahlt wie Flamingogefieder. Das Feuer funkelte selbst in den Augen der Toten, die aufeinandergeschichtet hinter ihnen lagen.

Ein leises Scharren weckte die Aufmerksamkeit von 509. Lewinskys Gesicht hob sich vom Boden.

509 atmete tief und stand auf. Er hatte auf diesen Augenblick gewartet, seit er wieder kriechen konnte. Er hätte sitzenbleiben können, aber er stand auf; er wollte Lewinsky zeigen, daß er gehen konnte und kein Krüppel war.

»Alles wieder in Ordnung?«fragte Lewinsky.

»Natürlich. So leicht kriegt man uns nicht kaputt.«

Lewinsky nickte.»Können wir irgendwo reden?«

Sie gingen auf die andere Seite des Totenhaufens. Lewinsky blickte rasch um sich.

»Die Wachen sind bei euch noch nicht zurück -«

»Hier ist nicht viel zu bewachen. Bei uns bricht keiner aus.«

»Das meine ich. Und nachts werdet ihr nicht kontrolliert?«

»So gut wie nie.«

»Wie ist es am Tage? Kommt die SS oft in die Baracken?«

»Fast nie. Sie hat Angst vor Läusen, Dysenterie und Typhus.«

»Und euer Blockführer?«

»Der kommt nur zum Appell. Kümmert sich sonst wenig um uns.«

»Wie heißt er?«

»Bolte. Scharführer.«

Lewinsky nickte.»Die Blockältesten schlafen hier nicht in den Baracken, wie? Nur die Stubenältesten. Wie ist eurer?«

»Du hast neulich mit ihm gesprochen. Berger. Wir könnten keinen besseren haben.«

»Ist das der Arzt, der jetzt im Krematorium arbeitet?«

»Ja. Du weißt gut Bescheid.«

»Wir haben uns danach erkundigt. Wer ist euer Blockältester?«

»Handke. Ein Grüner. Hat vor ein paar Tagen einen von uns totgetreten.«