Neubauer schob das Papier zur Seite und holte eine Zigarre hervor. Zigarren wurden auch knapp.
Er hatte noch vier Kisten; dann blieb nur die»Deutsche Wacht«, und auch davon gab es nicht mehr allzuviel. Fast alles war verbrannt. Man hätte besser Vorsorgen sollen, als man noch im Fett lebte – aber wer hätte gedacht, daß es einmal so kommen würde?
Weber kam herein. Neubauer schob ihm nach kurzem Zögern die Kiste hin. Bedienen Sie sich«, sagte er mit falscher Herzlichkeit.»Raritäten.«
»Danke. Ich rauche nur Zigaretten.«
»Richtig. Ich vergesse das immer wieder. Schön, dann rauchen Sie Ihre Sargnägel.«
Weber verbiß ein Grinsen. Der Alte mußte Schwierigkeiten haben; er war gastfreundlich. Er zog ein flaches goldenes Etui aus der Tasche und klopfte sich eine Zigarette zurecht. Die Dose hatte 1933 dem Justizrat Aron Weizenblut gehört. Sie war ein glücklicher Fund gewesen. Das Monogramm hatte gepaßt: Anton Weber. Sie war die einzige Beute, die er in all den Jahren gemacht hatte; er brauchte nicht viel und fragte nichts nach Besitz.
»Da ist eine Verordnung gekommen«, sagte Neubauer.»Hier lesen Sie das doch mal durch.«
Weber nahm das Blatt auf. Er las langsam und lange. Neubauer wurde ungeduldig.
»Der Rest ist unwichtig«, sagte er.»In Frage kommt nur der Passus mit den politischen Gefangenen. Wieviel haben wir davon ungefähr noch?«
Weber legte das Papier auf den Schreibtisch zurück. Es glitt über die polierte Fläche gegen eine kleine Glasvase mit Veilchen.»Ich weiß das nicht so genau im Augenblick«, erwiderte er.»Es muß etwa die Hälfte der Häftlinge sein. Vielleicht etwas mehr oder weniger. Alle mit dem roten Winkel.
Abgesehen von den Ausländern, natürlich. Die andere Hälfte sind Kriminelle und eine Anzahl Homos, Bibelforscher und so was.«
Neubauer blickte auf. Er wußte nicht, ob Weber sich absichtlich dumm stellte; Webers Gesicht verriet nichts.»Das meine ich nicht. Die Leute mit den roten Winkeln sind doch nicht alle Politische.
Nicht im Sinne dieser Verordnung.«
»Selbstverständlich nicht. Der rote Winkel ist nur eine lose Gesamtklassifizierung. Da sind Juden, Katholiken, Demokraten, Sozialdemokraten, Kommunisten und wer weiß was dabei.«
Neubauer wußte das auch. Weber brauchte ihn nach zehn Jahren nicht darüber zu belehren. Er hatte das unsichere Gefühl, daß sein Lagerführer sich wieder einmal über ihn lustig machte.»Wie steht es mit den wirklich Politischen?«fragte er, ohne sich etwas merken zu lassen.
»Meistens Kommunisten.«
»Das können wir genau feststellen, wie?«
»Ziemlich genau. Es steht in den Papieren.«
»Haben wir außerdem noch wichtige politische Leute hier?«
»Ich kann nachforschen lassen. Es mag noch eine Anzahl Zeitungsleute, Sozialdemokraten und Demokraten dasein.«
Neubauer blies den Rauch seiner Partagas von sich. Sonderbar, wie rasch doch eine Zigarre immer beruhigte und optimistisch machte!»Gut«, sagte er herzlich:»Stellen wir das doch zunächst einmal fest. Lassen Sie die Listen durchkämmen. Wir können dann ja immer nachher noch regulieren, wieviel Leute wir haben wollen für unsere Meldung. Finden Sie nicht?«
»Gewiß.«
»Es ist nicht so eilig. Wir haben ungefähr vierzehn Tage Zeit. Das ist ja schon eine ganz nette Spanne, um einiges zu erledigen, wie?«
»Gewiß.«
»Man kann außerdem dies und das vordatieren; Sachen, die ohnehin bestimmt passieren werden, meine ich. Man braucht auch Namen von Leuten nicht mehr aufzunehmen, die sehr bald als Abgänge verbucht werden müssen. Überflüssige Arbeit. Gibt höchstens zwecklose Rückfragen.«
»Gewiß.«
»Zu viele dieser Leute werden wir ja nicht haben – ich meine so viele, daß es auffällt -«
»Wir brauchen sie nicht zu haben«, sagte Weber ruhig.
Er wußte, was Neubauer meinte, und Neubauer wußte, daß Weber ihn verstand.
»Unauffällig, natürlich«, sagte er.»Wir wollen es möglichst unauffällig arrangieren.
Ich kann mich da ja auf Sie verlassen -«
Er stand auf und bohrte mit einer geradegebogenen Büroklammer vorsichtig am Kopfende seiner Zigarre. Er hatte sie vorher zu hastig abgebissen, und sie zog jetzt nicht mehr. Man sollte gute Zigarren nie abbeißen; immer nur vorsichtig einbrechen oder allenfalls mit einem scharfen Messerchen abschneiden.»Wie steht es mit der Arbeit? Haben wir genug zu tun?«
»Das Kupferwerk ist durch die Bomben ziemlich außer Betrieb gesetzt. Wir lassen die Leute dort aufräumen. Die übrigen Kommandos arbeiten fast alle wie früher.«
»Aufräumen? Gute Idee.«Die Zigarre zog wieder.»Dietz hat heute mit mir darüber gesprochen.
Straßen säubern, bombardierte Häuser abtragen; die Stadt braucht Hunderte von Leuten. Es ist ein Notfall, und wir haben ja die billigsten Arbeitskräfte. Dietz war dafür. Ich auch. Kein Grund dagegen, wie?«
»Nein.«
Neubauer stand am Fenster und schaute hinaus.»Da ist noch eine Anfrage gekommen wegen des Lebensmittelbestandes. Wir sollen einsparen. Wie kann man das machen?«
»Weniger Lebensmittel ausgeben«, erwiderte Weber lakonisch.»Das geht nur bis zu einem gewissen Grade. Wenn die Leute zusammenklappen, können sie nicht mehr arbeiten.«
»Wir können am Kleinen Lager sparen. Es ist voll von unnützen Fressern. Wer stirbt, ißt nicht mehr.«
Neubauer nickte.»Trotzdem – Sie kennen mein Motto: Immer menschlich, solange es geht. Wenn es natürlich nicht mehr geht – Befehl ist Befehl -«
Sie standen jetzt beide am Fenster und rauchten. Sie sprachen ruhig und sachlich wie zwei ehrenhafte Viehhändler in einem Schlachthof. Draußen arbeiteten Gefangene in den Beeten, die das Haus des Kommandanten umgaben.
»Ich lasse da eine Einfassung von Iris und Narzissen setzen«, sagte Neubauer.»Gelb und blau – eine schöne Farbenzusammenstellung.«
»Ja«, erwiderte Weber ohne Enthusiasmus.
Neubauer lachte.»Interessiert Sie wohl nicht sehr, was?«
»Nicht übermäßig. Ich bin Kegler.«
»Ist auch was Schönes.«Neubauer beobachtete die Arbeiter noch eine Weile.
»Was macht eigentlich die Lagerkapelle? Die Kerle haben ein reichlich faules Loben.«
»Sie spielen beim Ein- und Ausmarsch und zweimal wöchentlich nachmittags.«
»Nachmittags haben die Arbeitskommandos nichts davon. Veranlassen Sie doch, daß abends nach dem Appell noch eine Stunde musiziert wird. Das ist gut für die Leute. Lenkt sie ab. Besonders, wenn wir mit dem Essen sparsamer werden müssen.«
»Ich werde es veranlassen.«
»Wir haben dann ja wohl alles besprochen und verstehen uns.«
Neubauer ging zu seinem Schreibtisch zurück. Er öffnete eine Schublade und holte ein kleines Etui heraus.»Hier ist noch eine Überraschung für Sie, Weber. Meute gekommen. Dachte, es würde Ihnen Freude machen.«
Weber öffnete das Etui. Es enthielt ein Kriegsverdienstkreuz. Neubauer sah zu seinem Erstaunen, daß Weber errötete. Er hätte alles andere erwartet.»Hier ist eine Bestätigung dazu«, erklärte er.»Sie hätten es längst haben sollen. Wir sind ja hier gewissermaßen auch an der Front. Kein Wort weiter darüber.«Er reichte Weber die Hand.»Harte Zeiten. Wir müssen sie durchstehen.«Weber ging. Neubauer schüttelte den Kopf. Der kleine Trick mit dem Orden hatte besser gewirkt, als er geglaubt hätte. Irgendwo hatte doch jeder seine schwache Stelle. Er blieb eine Weile grübelnd vor der großen bunten Landkarte von Europa stehen, die an der Wand gegenüber dem Hitlerbild hing. Die Fähnchen darauf stimmten nicht mehr. Sie befanden sich noch weit innerhalb Rußlands. Neubauer hatte sie da stecken lassen in einer Art von Aberglauben, daß sie vielleicht noch einmal gültig werden könnten. Er seufzte, ging zum Schreibtisch zurück, hob die Glasvase mit den Veilchen auf und roch den süßen Duft. Ein unklarer Gedanke streifte ihn. Das sind wir, unsere Besten, dachte er fast erschüttert. Raum für alles haben wir in unserer Seele. Eiserne Disziplin bei historischen Notwendigkeiten und gleichzeitig tiefstes Gemüt. Der Führer mit seiner Kinderliebe. Göring, der Freund der Tiere. Er roch noch einmal an den Blumen. Hundertdreißigtausend Mark hatte er verloren und war trotzdem schon wieder obenauf. Nicht kaputt zu kriegen! Schon wieder Sinn für das Schöne! Die Idee mit der Lagerkapelle war gut gewesen. Selma und Freya kamen heute abend herauf. Es würde einen glänzenden Eindruck auf sie machen. Er setzte sich an die Schreibmaschine und tippte mit zwei dicken Fingern den Befehl für die Kapelle. Das war für seine Privatakten, Dazu kam die Anordnung, schwache Sträflinge von der Arbeit zu befreien. Sie stimmte in einer anderen Weise, aber er hatte sie einfach so verstanden. Was Weber tat, war seine Sache. Er würde schon etwas tun; das Kriegsverdienstkreuz war gerade rechtzeitig angekommen. Die Privatakten enthielten eine ganze Anzahl Beweise für Neubauers Milde und Fürsorge. Daneben selbstverständlich das übliche belastende Material gegen Vorgesetzte und Parteigenossen. Wer im Feuer stand, konnte niemals für genug Deckung sorgen. Neubauer klappte den blauen Aktendeckel befriedigt zu und griff zum Telefon. Sein Rechtsanwalt hatte ihm einen ausgezeichneten Tip gegeben: gebombte Grundstücke zu kaufen. Sie waren billig. Ungebombte auch. Man konnte seine eigenen Verluste damit herausholen. Grundstücke behielten ihren Wert, auch wenn sie hundertmal gebombt wurden. Man mußte die augenblickliche Panik ausnutzen. Das Aufräumungskommando kam vom Kupferwerk zurück. Es hatte zwölf Stunden schwer gearbeitet. Ein Teil der großen Halle war eingestürzt, und verschiedene Abteilungen waren schwer beschädigt. Nur wenige Hacken und Spaten waren zur Verfügung gewesen, und die meisten Gefangenen hatten mit den bloßen Händen arbeiten müssen. Die Hände waren zerrissen und bluteten. Alle waren todmüde und hungrig. Mittags hatten sie eine dünne Suppe bekommen, in der unbekannte Pflanzen schwammen. Die Direktion des Kupferwerkes hatte sie großmütig spendiert. Ihr einziger Vorteil war gewesen, daß sie warm war. Dafür hatten die Ingenieure und Aufseher des Werks die Gefangenen wie Sklaven gehetzt. Sie waren Zivilisten; aber manche waren nicht viel besser als die SS. Lewinsky marschierte in der Mitte des Zuges. Neben ihm ging Willy Werner. Beide hatten es geschafft, beim Einteilen des Kommandos in dieselbe Gruppe zu kommen. Es waren keine einzelnen Nummern aufgerufen worden; nur eine Gesamtgruppe von vierhundert Mann. Das Aufräumen war ein schweres Kommando. Es hatte wenige Freiwillige dafür gegeben, und so war es leicht gewesen für Lewinsky und Werner, hineinzugelangen. Sie wußten, warum sie es wollten. Sie hatten es schon einige Male vorher getan. Die vierhundert marschierten langsam. Sie hatten sechzehn Mann bei sich, die bei der Arbeit zusammengebrochen waren. Zwölf konnten noch gehen, wenn sie gestützt wurden; die anderen vier wurden getragen; zwei auf einer rohen Bahre, die anderen beiden an Armen und Füßen. Der Weg zum Lager war weit; die Gefangenen wurden um die Stadt herumgeführt.