Noch immer war nichts zu hören. Keine Schritte, kein Geklirr, keine Rufe. Der Himmel war wieder da und wich zurück. Er war nicht mehr nur noch schwarzes Pressen und Grabgewölk. Wind sickerte hindurch.
Zwanzig Minuten. Dreißig. Jemand hinter ihm seufzte. Der hellere Himmel. Ferner.
Das Echo wieder, ein fernster Herzschlag, die schmale Trommel des Pulses, und mehr: das Echo im Echo, Hände, die wieder Hände waren, der Funke, nicht erloschen – glimmend wieder, und: stärker als vorher. Um ein weniges stärker. Um etwas, das durch die Angst dazu gekommen war.
Kraftlos ließ die linke Hand die Uhr fallen.
»Vielleicht -«flüsterte Lebenthal hinter 509 und schwieg, erschreckt und abergläubisch.
Zeit war plötzlich nichts mehr. Sie zerfloß. Zerfloß nach allen Seiten. Zeitwasser, irgendwohin verspülend, Hügel hinunter. Es war keine Überraschung, als Berger die Uhr aufnahm und sagte:»Eine Stunde zehn Minuten. Heute passiert nichts mehr.
Vielleicht nie, 509. Vielleicht hat er es sich überlegt.«
»Ja«, sagte Rosen.
509 wendete sich um.»Leo, kommen die Mädchen nicht heute abend?«
Lebenthal starrte ihn an.»Daran denkst du jetzt?«
»Ja.«
An was sonst, dachte 509. An alles, was mich wegnimmt von dieser Angst, die die Knochen zu Gelatine schmilzt.»Wir haben Geld«, sagte er.»Ich habe Handke nur zwanzig Mark angeboten.«
»Du hast ihm nur zwanzig Mark angeboten?«fragte Lebenthal ungläubig.
»Ja. Zwanzig oder vierzig war egal. Wenn er will, nimmt er es, fertig, und es ist gleich, ob es zwanzig oder vierzig sind.«
»Und wenn er morgen kommt?«
»Wenn er kommt, kriegt er zwanzig Mark. Wenn er mich gemeldet hat, kommt die SS.
Dann brauche ich das Geld überhaupt nicht.«
»Er hat dich nicht gemeldet«, sagte Rosen.»Sicher nicht. Er wird das Geld nehmen.«
Lebenthal hatte sich gefaßt.»Behalte dein Geld«, erklärte er.»Ich habe genug für heute abend.«
Er sah, daß 509 eine Gebärde machte.»Ich will es nicht haben«, sagte er heftig.»Ich habe genug.
Laß mich in Ruhe.«509 stand langsam auf. Er hatte, als er saß, das Gefühl gehabt, er könne nie wieder aufstehen und seine Knochen seien wirklich zu Gelatine geworden. Er bewegte sich, seine Arme, seine Beine. Berger folgte ihm. Sie schwiegen eine Zeitlang.»Ephraim«, sagte 509 dann.
»Glaubst du, daß wir je die Angst wieder loswerden können?«
»War es so schlimm?«
»So schlimm wie nur möglich. Schlimmer als sonst.«
»Es war schlimmer, weil du mehr am Leben bist«, sagte Berger.
»Meinst du?«
»Ja. Wir alle haben uns verändert.«
»Vielleicht. Aber werden wir die Angst je in unserem Leben loswerden?«
»Das weiß ich nicht. Diese ja. Es war eine vernünftige Angst. Eine mit Grund. Die andere, die ständige, die KZ-Angst – das weiß ich nicht. Es ist auch egal. Wir müssen einstweilen nur an morgen denken. An morgen und Handke.«
»Daran will ich gerade nicht denken«, sagte 509.
XIII
Berger war auf dem Wege zum Krematorium. Neben ihm marschierte eine Gruppe von sechs Mann. Er kannte einen davon. Es war ein Rechtsanwalt, der Mosse hieß. Er war 1932 an einem Mordprozeß gegen zwei Nazis als Vertreter der Nebenkläger beteiligt gewesen. Die Nazis waren freigesprochen worden, und Mosse war nach der Machtergreifung sofort ins Konzentrationslager gekommen. Berger hatte ihn nicht mehr gesehen, seit er im Kleinen Lager war. Er kannte ihn wieder, weil er eine Brille trug, in der sich nur ein Glas befand. Mosse brauchte kein zweites; er hatte nur ein Auge. Das andere war ihm 1933 als Quittung für den Prozeß mit einer Zigarette ausgebrannt worden. Mosse ging an der Außenseite.»Wohin?«fragte Berger ihn, ohne die Lippen zu bewegen.»Krematorium. Arbeiten.«Die Gruppe marschierte vorbei. Berger sah jetzt, daß er noch einen der Leute kannte: Brede, einen sozialdemokratischen Parteisekretär. Ihm fiel auf, daß alle sechs politische Sträflinge waren. Ein Kapo mit dem grünen Winkel der Kriminellen folgte ihnen. Er pfiff eine Melodie vor sich hin. Berger erinnerte sich, daß es ein Schlager aus einer alten Operette war. Mechanisch kam ihm auch der Text ins Gedächtnis:»Adieu, du kleine Klingelfee, leb wohl, bis ich dich wiederseh'.«Er sah der Gruppe nach. Klingelfee, dachte er irritiert. Es mußte eine Telefonistin damit gemeint gewesen sein. Warum fiel ihm das plötzlich ein? Warum wußte er diese Leierkastenmelodie noch und sogar die blödsinnigen Worte dazu? So viel Wichtigeres war längst vergessen. Er ging langsam und atmete den frischen Morgen. Dieser Gang durchs Arbeitslager war für ihn immer fast wie ein Gang durch einen Park. Fünf Minuten noch bis zur Mauer, die das Krematorium umschloß. Fünf Minuten Wind und früher Tag. Er sah die Gruppe mit Mosse und Brede unter dem Tor verschwinden. Es schien sonderbar, daß neue Leute zum Arbeiten im Krematorium bestimmt worden waren. Das Krematoriumskommando bestand aus einer besonderen Gruppe von Häftlingen, die zusammen wohnten. Sie wurden besser ernährt als die anderen und hatten auch sonst gewisse Vorteile. Dafür wurden sie gewöhnlich nach einigen Monaten abgelöst und zum Vergasen verschickt. Das jetzige Kommando war aber erst zwei Monate da; und Außenseiter wurden nur selten hinzukommandiert. Berger war fast der einzige. Er war anfangs zur Aushilfe für einige Tage hingeschickt worden und hatte dann, als sein Vorgänger starb weitergearbeitet. Er bekam keine bessere Verpflegung und wohnte nicht mit dem eigentlichen Verbrennungskommando zusammen. Deshalb hoffte er, nicht in weiteren zwei oder drei Monaten mit den anderen fortgeschickt zu werden Doch das war nur eine Hoffnung. Er ging durch das Tor und sah jetzt die sechs Mann auf dem Hof in einer Reihe nebeneinanderstehen. Sie standen nicht weit von den Galgen, die in dei Mitte errichtet worden waren. Alle versuchten, die Holzgerüste nicht zu sehen Mosses Gesicht hatte sich verändert. Er starrte mit seinem einen Auge durch das Brillenglas angstvoll auf Berger. Brede hielt den Kopf gesenkt. Der Kapo wendete sich um und erblickte Berger.»Was willst du hier?«»Kommandiert zum Krematorium. Zahnkontrolle.«»Der Zahnklempner. Dann mach, daß du hier fortkommst. Stillgestanden die anderen!«Die sechs Mann standen so still, wie sie konnten. Berger ging dicht an ihnen vorbei. Er hörte Mosse etwas flüstern; aber er verstand es nicht. Er konnte auch nicht stehenbleiben; der Kapo beobachtete ihn. Es ist merkwürdig, dachte er daß ein so kleines Kommando von einem Kapo geführt wird – anstatt von einem Vorarbeiter. Der Keller des Krematoriums hatte an einer Seite einen großen schrägen Schacht, der nach außen führte. Die Leichen, die im Hof aufgestapelt waren, wurden in diesen Schacht geworfen und glitten in den Keller. Dort wurden sie entkleidet, wenn sie nicht schon nackt waren, rubriziert und auf Gold untersucht.
Berger hatte hier unten Dienst. Er mußte Totenscheine ausschreiben und die Goldzähne der Toten ziehen. Der Mann, der das früher gemacht hatte, ein Zahntechniker aus Zwickau, war an Blutvergiftung gestorben. Der Kapo, der unten Aufsicht hatte, hieß Dreyer. Er kam einige Minuten später herein.»Los«, sagte er mißmutig und setzte sich an einen kleinen Tisch, auf dem Listen lagen. Außer Berger waren noch vier Mann vom Krematoriumskommando da. Sie postierten sich neben dem Schacht. Der erste Tote rutschte hindurch wie ein riesiger Käfer. Die vier Mann zerrten ihn über den Zementflur zur Mitte des Raumes. Er war schon starr. Sie zogen ihn rasch aus. Die Jacke mit der Nummer und den Abzeichen wurde abgestreift. Einer der Häftlinge hielt dabei den rechten Arm, der abstand, so lange herunter, bis der Ärmel abgezogen war. Dann ließ er los, und der Arm schnappte zurück wie ein Zweig. Die Hosen waren leichter abzustreifen. Der Kapo notierte die Nummer des Toten.»Ring?«fragte er.»Nein. Kein Ring.«»Zähne?«Er leuchtete mit einer Taschenlampe in den halboffenen Mund, auf dem ein dünner Streifen Blut getrocknet war.»Goldfüllung rechts«, sagte Berger.»Gut. 'raus.«Berger kniete mit der Zange neben dem Kopf nieder, den ein Häftling festhielt. Die anderen zogen bereits die nächste Leiche aus, riefen die Nummer und warfen die Kleider zur Seite auf die der ersten. Mit einem Krachen wie trockenes Feuerholz rutschten jetzt mehr und mehr Tote den Schacht hinunter. Sie fielen übereinander und verhakten sich ineinander. Einer kam mit den Füßen zuerst und blieb aufrecht stehen. Er lehnte gegen den Schacht, die Augen weit offen, den Mund schief verzogen. Die Hände waren krumm zu einer halben Faust geballt, und eine Medaille an einer Kette hing aus dem offenen Hemd hervor. Er stand eine Weile so. Polternd fielen andere Leichen über ihn hinab. Eine Frau mit halblangem Haar war darunter. Sie mußte aus dem Austauschlager sein. Ihr Kopf kam zuerst, und ihr Haar fiel über sein Gesicht. Schließlich, als sei er müde von so viel Tod auf seinen Schultern, rutschte er langsam zur Seite und sank um. Die Frau fiel über ihn. Dreyer sah es, grinste und leckte sich die Oberlippe, auf der ein dicker Pickel wuchs. Berger hatte inzwischen den Zahn herausgebrochen. Er wurde in einen von zwei Kästen gelegt. Der zweite war für Ringe. Dreyer verbuchte die Füllung.»Achtung!«rief plötzlich einer der Häftlinge. Die fünf Mann richteten sich stramm auf. Der SS-Scharführer Schulte war hereingekommen.»Weitermachen.«Schulte setzte sich rittlings auf einen Stuhl, der neben dem Tisch mit den Listen stand. Er betrachtete den Haufen Leichen.»Da sind ja acht Mann draußen beim Einwerfen«, sagte er.»Viel zu viele. Holt vier herunter; die können hier mithelfen. Du da -«er zeigte auf einen der Häftlinge. Berger zog den Trauring vom Finger einer Leiche. Das war gewöhnlich leicht; die Finger waren dünn. Der Ring wurde in den zweiten Kasten gelegt, und Dreyer notierte ihn. Die Leiche hatte keine Zähne. Schulte gähnte. Es war Vorschrift, daß die Leichen seziert und die Todesursache festgestellt und in die Akten eingetragen wurden; aber niemand kümmerte sich darum. Der Lagerarzt kam selten, er sah die Toten nie an, und es wurden immer dieselben Todesursachen eingetragen. Auch Westhof war an Herzschwäche gestorben.