»Wenn es nicht weh tut, macht es nichts. Wir hatten hier jemand, dem der ganze Kiefer vereitert war. Er stöhnte, bis er starb.«
»Ich werde bald keine Zähne mehr haben.«
»Man kann künstliche einsetzen. Lebenthal hat auch ein Gebiß.«
»Ich will kein Gebiß haben.«
»Warum nicht? Viele Leute haben eins. Es macht wirklich nichts, Ruth.«
»Sie werden mir kein Gebiß geben.«
»Hier nicht. Aber man kann später eins machen lassen. Es gibt wunderbare Gebisse.
Viel besser als das von Lebenthal. Das ist alt. Er hat es schon zwanzig Jahre. Es gibt jetzt neue, sagt er, die man überhaupt nicht spürt. Sie sitzen fest und sind schöner als wirkliche Zähne.«
Ruth hatte ihr Stück Brot gegessen. Sie wendete ihre trüben Augen Bucher zu.»Josef – glaubst du wirklich, daß wir jemals hier herauskommen?«
»Sicher! Ganz sicher! 509 glaubt es auch. Wir alle glauben es jetzt.«
»Und was dann?«
»Dann -«Bucher hatte noch nicht weit darüber hinausgedacht.»Dann sind wir frei«, sagte er, ohne es sich ganz vorstellen zu können.
»Wir werden uns wieder verstecken müssen. Sie werden uns wieder jagen. So, wie sie uns früher gejagt haben.«
»Sie werden uns nicht mehr jagen.«
Sie sah ihn lange an.»Und das glaubst du?«
»Ja.«
Sie schüttelte den Kopf.»Sie werden uns vielleicht eine Zeitlang in Ruhe lassen. Aber dann werden sie uns wieder jagen. Sie wissen nichts anderes -«
Die Drossel begann aufs neue zu singen. Es klang klar und sehr süß und unerträglich.
»Sie werden uns nicht mehr jagen«, sagte Bucher.»Wir werden zusammen sein. Wir werden aus dem Lager hinausgehen. Man wird den Drahtzaun niederreißen. Wir werden über den Weg dort gehen. Niemand wird auf uns schießen. Keiner wird uns zurückholen. Wir werden über die Felder gehen, in ein Haus, wie das weiße Haus dort drüben, und uns auf Stühle setzen.«
»Stühle-«
»Ja. Richtige Stühle. Es wird ein Tisch dasein und Teller aus Porzellan und ein Feuer.«
»Und Leute, die uns hinausjagen.«
»Sie werden uns nicht hinausjagen. Ein Bett wird dasein mit Decken und sauberen Leinentüchern.
Und Brot und Milch und Fleisch.«
Bucher sah, daß ihr Gesicht sich verzerrte.»Du mußt es glauben, Ruth«, sagte er hilflos.
Sie weinte ohne Tränen. Das Weinen war nur in ihren Augen. Sie verschleierten sich, und es wellte undeutlich darin auf.»Es ist so schwer zu glauben, Josef.«
»Du mußt es glauben«, wiederholte er.»Lewinsky hat neue Nachrichten gebracht. Die Amerikaner und Engländer sind schon weit über den Rhein. Sie kommen. Sie werden uns befreien. Bald.«
Das Abendlicht wechselte plötzlich. Die Sonne hatte den Bergrand erreicht. Die Stadt fiel in blaues Dunkel. Die Fenster erloschen. Der Fluß wurde still. Alles wurde still.
Auch die Drossel schwieg. Nur der Himmel begann jetzt zu glühen. Die Wolken wurden zu perlmutternen Schiffen, breite Strahlen trafen sie wie Winde aus Licht, und sie segelten in das rote Tor des Abends. Voll fiel der letzte Glanz auf das weiße Haus auf der Anhöhe, und während die übrige Erde erlosch, schimmerte nur es noch und schien dadurch näher und weiter als je zuvor.
Sie sahen den Vogel erst, als er dicht heran war. Sie sahen einen kleinen schwarzen Ball mit Flügeln. Sie sahen ihn vor dem mächtigen Himmel, er flog hoch und kam dann plötzlich herunter, sie sahen ihn, und sie wollten beide etwas tun und taten es nicht; einen Augenblick, gerade bevor er sich dem Boden näherte, war die ganze Silhouette da, der kleine Kopf mit dem gelben Schnabel, die ausgebreiteten Flügel und die runde Brust mit den Melodien, und dann kam das leichte Krackeln und der Funke aus dem elektrisch geladenen Verhau, sehr klein und blaß und tödlich vor dem Sonnenuntergang, und es war nichts mehr da als ein verkohlter Rest mit einem herabhängenden kleinen Fuß auf dem untersten Draht und einem Fetzen Flügel, der den Boden gestreift und den Tod herangeweht hatte.
»Das war die Drossel, Josef -«
Bucher sah das Entsetzen in Ruth Hollands Augen.»Nein, Ruth«, sagte er rasch.»Das war ein anderer Vogel. Es war keine Drossel. Und wenn es eine war, dann war es nicht die, die gesungen hat – bestimmt nicht, Ruth -, nicht»Du meinst wohl, ich hätte dich vergessen, was?«fragte Handke.
»Nein.«
»Es war zu spät gestern. Aber wir haben ja Zeit. Zeit genug, dich zu melden. Morgen zum Beispiel, den ganzen Tag.«
Er stand vor 509.»Du Millionär! Du Schweizer Millionär! Sie werden dir dein Geld schon Franken für Franken aus den Nieren prügeln.«
»Das Geld braucht mir keiner herauszuprügeln«, sagte 509.»Es ist einfacher zu haben.
Ich unterschreibe einen Zettel, und es gehört mir nicht mehr.«Er sah Handke fest an.
»Zweitausendfünfhundert Franken. Viel Geld.«
»Fünftausend«, erwiderte Handke.»Für die Gestapo. Glaubst du, die teilt?«
»Nein. Fünftausend für die Gestapo«, bestätigte 509.
»Und den Prügelbock und das Kreuz und den Bunker und Breuer mit seinen Methoden für dich und dann den Galgen.«»Das weiß man noch nicht.«
Handke lachte.»Was sonst? Vielleicht ein Anerkennungsschreiben? Für verbotenes Geld?«
»Das auch nicht.«509 sah Handke immer noch an. Er war überrascht darüber, daß er nicht mehr Angst hatte, obschon er wußte, daß Handke ihn in der Hand hatte; aber stärker als alles spürte er plötzlich etwas anderes: Haß. Nicht den trüben, blinden, kleinen des Lagers, den alltäglichen Groschenhaß der Not einer verhungernden Kreatur gegen eine andere, irgendeines Vorteils oder Nachteils wegen – nein, er spürte einen kalten, klaren intelligenten Haß, und er spürte ihn so sehr, daß er die Augen niederschlug, weil er glaubte, Handke müsse ihn erkennen.
»So? Was dann vielleicht, du weiser Affe?«509 roch den Atem Handkes. Auch das war neu; der Gestank des Kleinen Lagers hatte früher fast keinen individuellen Geruch zugelassen. 509 wußte auch, daß er Handke nicht roch, weil sein Geruch stärker war als der Verwesungsgestank ringsum; er roch ihn, weil er Handke haßte.»Bist du stumm geworden vor Angst?«Handke stieß 509 gegen das Schienbein. 509 zuckte nicht zurück.»Ich glaube nicht, daß ich gefoltert werde«, sagte er ruhig und sah Handke wieder an.»Es würde nicht zweckmäßig sein. Ich könnte der SS unter den Händen wegsterben. Ich bin sehr schwach und halte fast nichts mehr aus. Das ist ein Vorteil im Augenblick. Die Gestapo wird lieber mit alldem warten, bis das Geld in ihren Händen ist. Solange braucht sie mich. Ich bin nämlich der einzige, der darüber verfügen kann. In der Schweiz hat die Gestapo keine Macht. Bis sie das Geld hat, bin ich sicher. Und das dauert eine ziemliche Zeit. Bis dahin kann vieles passieren.«Handke dachte nach. 509 sah im Halbdunkel, wie es in seinem flachen Gesicht arbeitete. Er sah das Gesicht genau. Ihm war, als seien hinter seinen Augen Scheinwerfer angebracht, die es bestrahlten. Das Gesicht selbst blieb gleich; aber jede Einzelheit darin schien größer zu werden.»So, das hast du dir alles ausgedacht, was?«stieß der Blockälteste schließlich hervor.»Ich habe mir nichts ausgedacht. Es ist so.«»Und was ist mit Weber? Der wollte dich ja auch sprechen! Der wird nicht warten.«»Doch«, erwiderte 509 ruhig.»Herr Sturmführer Weber wird warten müssen. Die Gestapo wird dafür sorgen. Es ist wichtiger für sie, Schweizer Franken zu bekommen.«Die hervorstehenden, blaßblauen Augen Handkes schienen sich zu drehen. Der Mund kaute.»Du bist mächtig schlau geworden«, sagte er schließlich.»Früher konntest du kaum scheißen! Ihr seid hier alle in der letzten Zeit munter wie die Böcke geworden, ihr Stinker! Wird euch schon versalzen werden, wartet nur! Euch jagen sie alle noch durch den Schornstein!«Er tippte 509 mit einem Finger vor die Brust.»Wo sind die zwanzig Eier?«fauchte er dann. 509 zog den Schein aus der Tasche. Er hatte eine Sekunde den Wunsch gespürt, es nicht zu tun, aber sofort gewußt, daß das Selbstmord gewesen wäre. Handke riß ihm das Geld aus der Hand.»Einen Tag lang kannst du weiter» scheißen dafür«, erklärte er und puffte sich auf.»Einen Tag lasse ich dich dafür länger leben, du Wurm! Einen Tag, bis morgen.«»Einen Tag«, sagte 509. Lewinsky überlegte.»Ich glaube nicht, daß er es tun wird«, sagte er dann.»Was kann er schon dabei für sich herausholen?«509 hob die Schultern.»Nichts. Er ist nur unberechenbar, wenn er etwas zu trinken erwischt hat. Oder wenn er seinen Koller hat.«»Man muß ihn aus dem Wege schaffen.«Lewinsky dachte wieder nach.»Im Augenblick können wir nicht viel gegen ihn unternehmen. Es ist dicke Luft. Die SS kämmt die Listen durch nach Namen. Wir lassen im Lazarett verschwinden, wen wir können. Bald müssen wir euch auch ein paar Leute rüberschmuggeln. Das ist doch in Ordnung, wie?«»Ja. Wenn ihr das Essen für sie liefert.«»Das ist selbstverständlich. Aber da ist noch etwas. Wir müssen jetzt mit Razzien und Kontrollen bei uns rechnen. Könnt ihr ein paar Sachen verstecken, so daß man sie nicht findet?«»Wie groß?«»So groß -«Lewinsky sah sich um. Sie hockten hinter der Baracke im Dun«kein. Nichts war zu sehen als die stolpernde Reihe der Muselmänner auf dem Weg zur Latrine.»So groß, wie zum Beispiel ein Revolver -«509 atmete scharf ein.»Ein Revolver?«»Ja.«509 schwieg einen Augenblick.»Unter meinem Bett ist ein Loch im Boden«, sagte er dann leise und rasch.»Die Latten daneben sind lose. Man kann mehr als einen Revolver da unterbringen. Leicht. Hier wird nicht kontrolliert.«Er merkte nicht, daß er sprach wie jemand, der einen anderen überreden will; nicht wie jemand, der zu einem Risiko überredet werden soll.»Hast du ihn bei dir?«fragte er.