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Er sah, wie die rechte Hand Dreyers hochkam. Sein Gehirn klärte sich. Er wußte, was er tun mußte. Es war wenig Zeit; aber zum Glück schien die Hand so langsam hochzukommen wie in einer Zeitlupenaufnahme.»Dieser Fall hier ist mitberechnet«, sagte er rasch.»Er ist aufgeschrieben und von Zeugen unterzeichnet.«

Die Hand stoppte nicht. Sie kam langsam, aber sie kam weiter hoch.»Schwindel«, knurrte Dreyer.

»Willst dich 'rausreden. Du redest nicht mehr lange.«

»Es ist kein Schwindel. Wir haben damit gerechnet, daß Sie versuchen würden, mich zu beseitigen.«Berger starrte in die Augen Dreyers.»Es ist das erste, was Dummköpfen immer einfällt. Es ist zu Papier gebracht und wird mit der Liste über zwei Goldringe und die Goldbrille, die fehlen, dem Lagerführer zugeteilt, wenn ich abends nicht zurück bin.«

Die Augen Dreyers blinkten.»So?«sagte er.

»Genauso. Glauben Sie, ich wußte nicht, was ich riskiere?«

»So, das wußtest du?«

»Ja. Es ist alles aufgeschrieben. An die goldene Brille, die fehlt, werden sich Weber, Schulte und Steinbrenner noch genau erinnern. Sie gehörte einem Einäugigen. Das vergißt man nicht so schnell.«

Die Hand kam nicht weiter. Sie stand still und fiel dann hinab.»Es war kein Gold«, sagte Dreyer.

»Du hast es selbst gesagt.«

»Es war Gold.«

»Sie war wertlos. Schund. Zum Wegschmeißen nicht gut genug.«

»Das können Sie alles dann ja selbst erklären. Wir haben Zeugnisse von den Freunden des Mannes, dem sie gehörte. Es war reines Weißgold.«

»Lausehund!«

Dreyer stieß Berger zurück. Berger fiel wieder. Er versuchte sich festzuhalten und fühlte die Zähne und die Augen eines Toten unter seiner Hand. Er fiel über ihn, aber er ließ Dreyer nicht aus den Augen.

Dreyer atmete heftig.»So – und was meinst du, was wird dann passieren mit deinen Freunden?

Meinst du, sie werden belohnt? Als Mitwisser dafür, daß du versucht hast, einen Toten hier dazuzuschwindeln?«»Sie sind keine Mitwisser.«»Und wer glaubt das?«

»Wer glaubt Ihnen, wenn Sie es erklären? Man wird nur glauben, daß Sie es erfunden haben, um mich beiseite zu schaffen wegen der Ringe und der Brille.«

Berger war wieder aufgestanden. Er fühlte, wie er plötzlich zu zittern begann.

Er beugte sich nieder und staubte seine Knie ab. Es war nichts abzustauben; aber er konnte das Zittern in seinen Beinen nicht kontrollieren und wollte nicht, daß Dreyer es sähe.

Dreyer merkte es nicht. Er faßte mit dem Finger nach dem Furunkel. Berger sah, daß das Geschwür geplatzt war. Eiter lief heraus.»Machen Sie das nicht«, sagte er.

»Was? Warum?«

»Rühren Sie den Furunkel nicht an. Leichengift ist tödlich.«

Dreyer starrte Berger an.»Ich habe heute keine Leiche angefaßt.«

»Aber ich. Und Sie haben mich angefaßt. Mein Vorgänger ist an Blutvergiftung gestorben.«

Dreyer schleuderte seine rechte Hand fort und wischte sie an der Hose ab.

»Verdammt! Was passiert nun? Verfluchte Schweinerei! Ich habe schon angefaßt.«Er blickte auf seine Finger, als hätte er Lepra.»Los! Mach was!«schrie er Berger zu.

»Glaubst du, ich will verrecken?«

»Sicher nicht.«Berger hatte sich gefaßt. Die Ablenkung Dreyers hatte ihm Zeit gegeben.

»Besonders jetzt nicht, so kurz vor dem Ende«, fügte er hinzu.

»Was?«

»So kurz vor dem Ende«, wiederholte Berger.

»Was, Ende? Mach was, du Hund! Tu was drauf!«

Dreyer war blaß geworden. Berger holte eine Flasche Jod, die auf einem Brett; stand.

Er wußte, daß Dreyer nicht in Gefahr war; es war ihm auch gleichgültig. Die Hauptsache war, daß er ihn abgelenkt hatte. Er strich eine Dosis Jod über den Furunkel. Dreyer zuckte zurück. Berger stellte die Flasche fort.»So – jetzt ist es desinfiziert.«

Dreyer versuchte den Furunkel zu sehen. Er schielte an seiner Nase entlang.

»Bestimmt?«

»Bestimmt.«

Dreyer schielte noch einen Augenblick. Dann bewegte er die Oberlippe wie! ein Kaninchen.»So, und was wolltest du eigentlich?«fragte er. Berger merkte, daß er gewonnen hatte.»Das, was ich gesagt habe. Die Personalien eines Toten austauschen. Das ist alles.«

»Und Schulte?«

»Er hat nicht aufgepaßt. Nicht auf die Namen. Außerdem war er zweimal draußen.«

Dreyer dachte nach.»Und die Kleider? Wie ist das?«

»Sie werden stimmen. Auch die Nummern.«

»Wieso? Hast du -«

»Ja«, sagte Berger.»Ich habe die bei mir, die wir austauschen wollen.«

Dreyer sah ihn an.»Ganz gut geplant habt ihr das. Oder warst du das allein?«

»Nein.«

Dreyer steckte die Hände in die Taschen und ging einige Male hin und her. Dann blieb er vor Berger stehen.»Und wer bürgt mir dafür, daß deine sogenannte Liste nicht doch auftaucht?«

»Ich.«

Dreyer zuckte die Achseln und spuckte aus.

»Bisher war nur die Liste da«, sagte Berger ruhig.»Die Liste und die Anschuldigung.

Ich hätte sie benützen können, und mir wäre nichts passiert; ich wäre höchstens gelobt worden.

Hiernach«- er wies auf die Papiere auf dem Tisch -»bin ich mitschuldig an dem Verschwinden eines Gefangenen.«

Dreyer überlegte. Er bewegte vorsichtig seine Oberlippe und schielte wieder.

»Für Sie ist das Risiko bedeutend geringer«, fuhr Berger fort.»Es kommt nur eine Verfehlung zu drei, vier anderen hinzu. Das gibt kaum einen Unterschied. Ich aber belaste mich zum ersten Male.

Ich nehme das weit größere Risiko. Das ist genug Garantie, glaube ich.«

Dreyer antwortete nicht.

»Es ist noch etwas anderes zu überlegen«, sagte Berger, während er ihn weiter beobachtete.»Der Krieg ist so gut wie verloren. Die deutschen Truppen sind von Afrika und Stalingrad weit über die Grenzen und über den Rhein zurückgedrängt worden. Dagegen hilft keine Propaganda und kein Gerede von geheimen Waffen mehr. In ein paar Wochen oder Monaten ist es zu Ende. Dann kommt auch hier die Abrechnung. Wofür sollen Sie da für andere mitbüßen? Wenn bekannt wird, daß Sie uns geholfen haben, sind Sie gesichert.«

»Wer ist das: uns?«

»Wir sind viele. Überall. Nicht nur im Kleinen Lager.«

»Und wenn ich das nun anzeige? Daß ihr existiert?«

»Was hat das mit Ringen und Goldbrillen zu tun?«

Dreyer hob den Kopf und lächelte schief.»Ihr habt wirklich alles gut überlegt, was?«

Berger schwieg.

»Will der Mann ausreißen, den ihr vertauschen wollt?«

»Nein. Wir wollen ihn nur vor dem da schützen.«Berger zeigte auf die Haken in der Wand.

»Ein Politischer?«

»Ja.«

Dreyer kniff die Augen zusammen.»Und wenn eine scharfe Kontrolle kommt und man ihn findet?

Was dann?«

»Die Baracken sind überfüllt. Man wird ihn nicht finden.«

»Man kann ihn erkennen. Wenn er ein bekannter Politischer ist.«

»Er ist nicht bekannt. Und bei uns, im Kleinen Lager, sehen wir alle ähnlich aus. Da ist nicht viel zu erkennen.«

»Weiß euer Blockältester Bescheid?«

»Ja«, log Berger.»Sonst wäre es ja nicht möglich.«

»Habt ihr Verbindungen mit der Schreibstube?«

»Wir haben überall Verbindungen.«

»Hat euer Mann seine Nummer eintätowiert?«

»Nein.«

»Und die Sachen?«

»Ich weiß, welche ich umtauschen will. Ich habe sie schon beiseite gelegt.«

Dreyer sah auf die Tür.»Dann fang an! Los! Rasch, bevor einer kommt.«

Er öffnete die Tür um einen Spalt und horchte hinaus. Berger kroch zwischen den Toten herum und durchsuchte sie. Ihm war im letzten Augenblick noch etwas eingefallen. Er wollte einen doppelten Tausch machen. Dreyer konnte auf diese Weise so irregeführt werden, daß er den Namen von 509 nie feststellen konnte.

»Rasch! Verdammt!«fluchte Dreyer.»Wozu suchst du da noch lange?«Berger hatte Glück mit dem dritten Toten; er war vom Kleinen Lager und hatte keine Zeichen am Körper. Er streifte ihm die Jacke ab, holte unter seiner eigenen die verborgene Jacke und Hose von 509 mit den Nummern hervor und zog sie der Leiche an. Dann warf er die Sachen des Toten auf den Haufen Kleider und zog darunter eine Jacke und Hose hervor, die er vorher beiseite gelegt hatte. Er wickelte sie um seine Hüften, zerrte das Hosenband darüber zusammen und zog seine eigene Jacke wieder an.»Fertig.«

Berger keuchte. Schwarze Flecken glitten vor ihm über die Wände. Dreyer wandte sich um.»Alles in Ordnung?«»Ja.«

»Gut. Ich habe nichts gesehen. Ich weiß von nichts. Ich war auf der Latrine. Was hier geschehen ist, hast du gemacht. Ich weiß von nichts, verstanden?«»Ja.«