»Und die SS? Kommt die nicht, sie zu holen?«
Goldsteins Zähne blinkten.»Nicht mehr gerne. Oder höchstens in Trupps und bewaffnet.
Gefährlich ist nur die Gruppe, in der Niemann, Breuer und Steinbrenner sind.«509 schwieg eine
Weile. Es war zu unglaublich, was er gerade gehört hatte.»Seit wann ist das so?«fragte er schließlich.»Seit ungefähr einer Woche. Jeden Tag ändert sich was.«»Du meinst, die SS hat Angst?«»Ja. Sie hat plötzlich gemerkt, daß wir Tausende sind. Und sie weiß, wie der Krieg steht.«»Ihr gehorcht einfach nicht?«509 konnte es immer noch nicht fassen.»Wir gehorchen. Aber wir tun es umständlich, und es dauert lange, und wir sabotieren, was wir können. Die SS erwischt trotzdem immer noch genug. Wir können nicht alle retten.«Goldstern stand auf.»Ich muß sehen, daß ich Platz zum Schlafen finde.«»Wenn du nichts findest, frage Berger.«»Gut.«509 lag neben dem Haufen von Toten zwischen den Baracken. Der Haufen war höher als sonst. Es hatte am Abend vorher kein Brot gegeben. Das zeigte sich immer am nächsten Tag in der Anzahl der Toten. 509 lag dicht daneben, weil ein nasser, kalter Wind wehte. Die Toten schützten ihn davor. Sie schützten ihn, dachte er. Sie schützten ihn selbst vom Krematorium her und darüber hinaus. Irgendwo trieb im nassen, kalten Wind der Rauch von Flormann, dessen Namen er jetzt trug; der Rest waren ein paar ausgebrannte Knochen, aus denen in der Mühle bald Knochenmehl werden würde. Aber der Name, das Flüchtigste und Belangloseste, war geblieben und zu einem Schild geworden für ein anderes Leben, das sich gegen den Untergang wehrte. Er hörte, wie der Haufen der Toten ächzte und sich verschob. Die Gewebe und Säfte in ihnen arbeiteten noch. Ein zweiter, chemischer Tod schlich durch sie, spaltete sie, vergaste sie, bereitete sie vor für den Zerfall; – und wie ein geisterhafter Reflex des entwichenen Lebens bewegten sich die Bäuche noch, schwollen und fielen zusammen, die toten Münder stießen Luft aus, und aus den Augen sickerte trübe Flüssigkeit wie viel zu späte Tränen. 509 bewegte die Schultern. Er trug die Attila-Uniformjacke der Honved-Husaren. Sie war eines der wärmsten Kleidungsstücke der Baracke und wurde reihum von denen getragen, die nachts draußen lagen. Er betrachtete die Aufschläge, die matt im Dunkeln schimmerten. Es lag eine gewisse Ironie darin: gerade jetzt, wo er sich wieder an seine Vergangenheit und an sich selbst erinnerte, wo er keine Nummer mehr sein wollte, mußte er unter dem Namen eines Toten leben und trug dazu nachts eine ungarische Uniform. Er fröstelte und versteckte die Hände in den Ärmeln. Er hätte in die Baracke gehen können, um einige Stunden in dem warmen Gestank dort zu schlafen; aber er tat es nicht. Er war zu unruhig dazu. Er saß lieber und fror und starrte in die Nacht und wartete und wußte nicht, was schon in der Nacht geschehen könnte, daß er so darauf wartete. Es war das, was einen verrückt machte, dachte er. Wie ein Netz hing das Warten lautlos über dem Lager und fing alle Hoffnungen und alle Furcht in sich auf. Ich warte, dachte er, und Handke und Weber sind hinter mir her; Goldstein wartet, und sein Herz setzt alle Augenblicke aus; Berger wartet und fürchtet, daß er noch mit der Krematoriumsmannschaft erledigt wird, bevor wir befreit werden; wir alle warten und wissen nicht, ob man uns nicht noch im letzten Augenblick auf Todestransporte und in Vernichtungslager schicken wird -»509«, sagte Ahasver aus dem Dunkel.»Bist du da?«»Ja, hier. Was ist?«»Der Schäferhund ist tot.«Ahasver tappte heran.»Er war doch nicht krank«, sagte 509.»Nein. Er ist so weggeschlafen.«»Soll ich dir helfen, ihn herauszulegen?«»Das ist nicht nötig. Ich war mit ihm draußen. Er liegt drüben. Ich wollte es nur jemand sagen.«»Ja, Alter.«»Ja, 509.«
XVII
Der Transport kam überraschend. Die Eisenbahnlinien vom Westen zur Stadt waren einige Tage unterbrochen gewesen. Nach ihrer Reparatur war mit einem der ersten Züge eine Anzahl gedeckter Güterwagen angekommen. Sie hatten zu einem Vernichtungslager weitergeleitet werden sollen.
Nachts waren jedoch die Verbindungen aufs neue zerbombt worden. Der Zug war einen Tag stehengeblieben; dann hatte man die Insassen ins Mellener Lager geschickt.
Es waren nur Juden, Juden aus allen Gegenden Europas. Es waren polnische und ungarische, rumänische und tschechische, russische und griechische Juden, Juden aus Jugoslawien und Holland und Bulgarien und sogar einige aus Luxemburg. Sie sprachen ein Dutzend verschiedener Sprachen, und die meisten verstanden einander kaum. Selbst das gemeinsame Jiddisch schien verschieden zu sein. Sie waren zweitausend gewesen, und jetzt waren sie noch fünfhundert. Ein paar hundert lagen tot in den Güterwagen.
Neubauer war außer sich.»Wo sollen wir denn mit denen hin? Das Lager ist doch schon überfüllt!
Und außerdem sind sie gar nicht offiziell zu uns überwiesen! Wir haben nichts damit zu tun! Das ist ja ein wildes Durcheinander! Es gibt keine Ordnung mehr! Was ist nur los?«
Er rannte in seinem Büro auf und ab. Zu all seinen persönlichen Sorgen kam jetzt auch noch dies!
Sein Beamtenblut empörte sich. Er verstand nicht, daß so viele Umstände mit Leuten gemacht wurden, die zum Tode verurteilt waren. Wütend starrte er aus dem Fenster.»Wie die Zigeuner liegen sie da vor den Toren, mit Sack und Pack! Sind wir auf dem Balkan oder in Deutschland?
Verstehen Sie, was los ist, Weber?«
Weber blieb gleichgültig.»Irgendeine Stelle muß es angeordnet haben«, sagte er.
»Sonst wären sie nicht heraufgekommen.«
»Das ist es ja gerade! Irgendeine Stelle da unten am Bahnhof. Ohne daß ich gefragt worden bin.
Nicht einmal vorher verständigt. Von ordnungsgemäßer Abwicklung ganz zu schweigen. Das gibt es scheinbar überhaupt nicht mehr! Jeden Tag tauchen neue Ämter auf. Die am Bahnhof behaupten, die Leute hätten zuviel geschrieen. Es hätte einen schlechten Eindruck auf die Zivilbevölkerung gemacht. Was haben wir damit zu tun? Unsere Leute schreien nicht!«
Er sah Weber an. Weber lehnte nachlässig an der Tür.»Haben Sie schon mit Dietz darüber gesprochen?«fragte er.
»Nein, noch nicht. Sie haben recht, ich werde das gleich mal tun!«Neubauer ließ sich verbinden und sprach eine Zeitlang. Dann legte er den Hörer nieder. Er war ruhiger geworden.»Dietz sagt, wir brauchen sie nur die Nacht über hierzubehalten.
Geschlossen in einem Block. Nicht auf die Baracken verteilen. Nicht aufnehmen.
Einfach dalassen und bewachen. Morgen werden sie weitergeschickt. Bis dahin ist die Eisenbahnlinie wieder repariert.«Er blickte wieder aus dem Fenster.»Aber wo sollen wir sie nur lassen? Wir haben doch alles überfüllt.«
»Wir können sie auf dem Appellplatz lassen.«
»Den Appellplatz brauchen wir für die Kommandos morgen früh. Das gibt nur Konfusion.
Außerdem werden die Balkanesen ihn völlig verdrecken. Das geht nicht.«
»Wir können sie auf den Appellplatz vom Kleinen Lager stecken. Da sind sie nicht im Wege.«
»Ist da genug Platz?«
»Ja. Wir müssen alle unsere eigenen Leute dann in die Baracken packen. Sie haben bis jetzt zum Teil draußen gelegen.«»Warum? Sind die Baracken so überfüllt?«
»Das kommt darauf an, wie man es ansieht. Man kann Leute packen wie Sardinen.
Auch übereinander.«»Für eine Nacht muß es gehen.«»Es wird gehen. Keiner von den Leuten im Kleinen Lager wird ein Interesse daran haben, in den Transport zu geraten.«Weber lachte.»Sie werden davor zurückscheuen wie vor der Cholera.«Neubauer grinste flüchtig. Es gefiel ihm, daß seine Häftlinge im Lager bleiben wollten.»Wir müssen Wachen aufstellen«, sagte er.»Sonst verschwinden die Neuen in den Baracken, und wir haben da das Durcheinander.«Weber schüttelte den Kopf.»Auch darauf werden die in den Baracken schon selbst aufpassen. Sie haben Angst genug, daß wir sonst morgen einen Teil von ihnen mitschicken, um die Zahl vollzumachen.«»Gut. Bestimmen Sie einige unserer Leute und genügend Kapos und Lagerpolizei als Wachen. Und lassen Sie die Baracken im Kleinen Lager abschließen. Wir können keine Scheinwerfer riskieren, um den Transport zu bewachen.«Es war, als käme eine Horde großer müder Vögel, die nicht mehr fliegen konnten, durch das Zwielicht heran. Sie schwankten und stolperten, und wenn einer fiel, trampelten die anderen über ihn hinweg, fast ohne ihn zu sehen.»Barackentüren zu!«kommandierte der SS-Scharführer, der das Kleine Lager absperrte.»Bleibt drin! Wer herauskommt, wird erschossen!«Die Menge wurde auf den Platz zwischen den Baracken getrieben. Sie flutete hin und her, einige fielen, andere hockten sich zu ihnen, sie bildeten in der Unruhe eine Insel, die größer wurde, und bald lagen alle, und der Abend fiel auf sie wie ein Regen aus Asche. Sie lagen und schliefen; aber ihre Stimmen schwiegen nicht. Sie flatterten immer wieder auf, aus Träumen und Angstschlaf und jähem Erwachen, fremd«artig und schrill, und manchmal vereinigten sie sich zu einem langgezogenen Klagen, das in denselben wenigen Tönen auf- und niederstieg und gegen die Baracken wogte wie ein Meer von Elend gegen die sicheren Archen der Geborgenheit. Man hörte es in den Baracken die ganze Nacht hindurch. Es riß an den Nerven, und schon in den ersten Stunden wurden Leute wild. Sie begannen zu schreien, und als die Menge draußen es hörte, schwoll auch ihr Jammern an, und das machte das Schreien drinnen wieder stärker. Es war wie eine unheimliche, mittelalterliche Wechselklage – bis Kolben an die Baracken donnerten und Schüsse draußen ertönten und das dumpfe Geräusch von Knüppeln, die auf Körper fielen, und das schärfere, wenn sie Schädel trafen. Dann wurde es ruhiger. Die Schreienden in den Baracken waren von ihren Kameraden überwältigt worden; und die Menge draußen war vom Schlaf der Erschöpfung endlich niedergeworfen worden, mehr noch als von den Knüppeln. Von den Knüppeln spürten sie kaum noch etwas. Das Klagen wehte ab und zu wieder auf; es war schwächer, aber es verstummte nie ganz. Die Veteranen horchten lange darauf. Sie horchten und schauderten und hatten Angst, daß es ihnen ähnlich ergehen könne. Sie unterschieden sich äußerlich kaum von den Leuten des Transportes draußen – aber trotzdem fühlten sie sich in den Todesbaracken aus Polen, zwischen Gestank und Tod, eng zusammengepreßt und übereinander liegend, unter den Hieroglyphen, die Sterbende in die Wand gekratzt hatten, und in der Qual, nicht zur Latrine gehen zu können, so geborgen, als wären sie Heimat und Sicherheit gegen den uferlosen, fremden Schmerz draußen – und das schien fast noch grauenhafter zu sein als vieles andere zuvor – Sie erwachten morgens von vielen leisen, fremden Stimmen. Es war noch dunkel. Das Klagen hatte aufgehört. Dafür aber kratzte es jetzt an den Barackenwänden. Es kratzte, als nagten Hunderte von Ratten draußen, um hereinzukommen. Es kratzte heimlich und nicht zu laut, und dann begann es vorsichtig zu klopfen, gegen die Tür, gegen die Wände, und zu murmeln, schmeichlerisch fast, überredend, in einem fremden Singsang, mit den gebrochenen Stimmen letzter Verzweiflung: sie baten um Einlaß.