Es ist Werner, dachte 509; er muß es sein; aber ich weiß doch, daß er tot ist.
Er konnte nichts sehen; die Nacht war mondlos und diesig.»Die Massen draußen sind zum großen Teil demoralisiert«, sagte der Mann.»Zwölf Jahre Terror, Boykott, Denunziationen und Angst haben das geschafft – dazu kommt jetzt der verlorene Krieg. Sie können durch Untergrundterror und Sabotage noch jahrelang in Angst vor den Nazis gehalten werden. Sie müssen wieder gewonnen werden – die Verführten und Verängstigten. Ironischerweise hat sich die Gegnerschaft zu den Nazis in den Lagern besser erhalten als irgendwo draußen. Man hat uns zusammengesperrt; draußen hat man die Gruppen auseinandergetrieben. Draußen war es schwer, Verbindungen aufrechtzuerhalten; hier war es einfach. Draußen mußte fast jeder für sich durchstehen; hier gab einer dem anderen Kraft; ein Resultat, das die Nazis nicht vorgesehen haben.«
Der Mann lachte. Es war ein kurzes, freudloses Lachen.
»Abgesehen von denen, die getötet worden sind«, sagte Berger.»Und denen, die starben.«
»Abgesehen von denen, natürlich. Aber wir haben Leute übrigbehalten. Jeder einzelne davon ist hundert andere wert.«
Es muß Werner sein, dachte 509; er konnte jetzt den schattenhaften Asketenkopf im Dunkeln sehen. Er analysiert bereits wieder. Er organisiert. Er hält Reden; er ist der Fanatiker und Theoretiker seiner Partei geblieben.»Die Lager müssen die Zellen des Wiederaufbaus werden«, sagte die leise, klare Stimme.»Drei Punkte sind da zunächst die wichtigsten. Der erste ist: passiver und im äußersten Falle aktiver Widerstand gegen die SS, solange sie im Lager ist. Der zweite: die Verhütung von Panik und Exzessen bei der Übernahme des Lagers. Wir müssen ein Beispiel dafür sein, daß wir Disziplin haben und uns von Rache nicht leiten lassen. Ordentliche Gerichte werden dafür später -«
Der Mann hielt inne. 509 war aufgestanden und kam auf die Gruppe zu. Sie bestand aus Lewinsky, Goldstein, Berger und dem Fremden.»Werner -«, sagte 509.
Der Mann starrte ins Dunkel.»Wer bist du?«
Er richtete sich auf und kam heran.»Ich dachte, du wärest tot«, sagte 509 Werner blickte ihm dicht ins Gesicht.»Koller«, sagte 509.
»Koller! Du lebst noch? Und ich dachte, du wärest längst tot.«
»Das bin ich auch. Offiziell.«
»Er ist 509«, sagte Lewinsky.
»Du bist also 509! Das macht die Sache einfacher. Ich bin auch offiziell tot.«
Beide starrten sich durch die Dunkelheit an. Es war keine neue Situation. Mancher im Lager hatte schon jemand wiedergefunden, den er tot geglaubt hatte. Aber 509 und Werner kannten sich noch aus der Zeit vor dem Lager. Sie waren Freunde gewesen; dann hatten ihre politischen Ansichten sie allmählich auseinandergetrieben.
»Bleibst du jetzt hier?«fragte 509.
»Ja. Für ein paar Tage.«
»Die SS ist beim Durchkämmen der letzten Buchstaben des Alphabets«, sagte Lewinsky.»Sie haben Vogel erwischt. Er lief jemand in die Hände, der ihn kannte.
Einem verdammten Unterscharführer.«
»Ich werde euch nicht zur Last fallen«, erklärte Werner.»Ich sorge für meine eigene Verpflegung.«
»Sicher«, sagte 509 mit kaum merkbarer Ironie.»Das hätte ich auch nicht anders von dir erwartet.«
»Münzer besorgt morgen Brot. Lebenthal kann es bei ihm abholen. Er besorgt mehr als nur für mich. Auch etwas für eure Gruppe.«
»Ich weiß«, erwiderte 509.»Ich weiß, Werner, daß du nichts umsonst nimmst. Bleibst du in 22?
Wir können dich auch in 20 unterbringen.«
»Ich kann in 22 bleiben. Du jetzt doch auch. Handke ist ja nicht mehr da.«
Niemand von den anderen spürte, daß zwischen den beiden etwas wie ein Duell in Worten vor sich ging. Wie kindisch wir sind, dachte 509. Vor einer Ewigkeit sind wir politische Gegner gewesen – und immer noch will keiner dem anderen etwas schuldig bleiben. Ich fühle eine idiotische Genugtuung darüber, daß Werner bei uns Schutz sucht; und er deutet mir an, daß ich ohne seine Gruppe vielleicht von Handke erledigt worden wäre.
»Ich habe gehört, was du vorhin erklärt hast«, sagte er.»Es stimmt. Was können wir tun?«
Sie saßen noch draußen. Werner, Lewinsky und Goldstein schliefen in der Baracke.
Lebenthal hatte sie in zwei Stunden zu wecken. Dann sollte gewechselt werden. Die Nacht war schwül geworden. Berger trug trotzdem die warme Husarenattila; 509 hatte darauf bestanden.
»Wer ist der Neue?«fragte Bucher.»Ein Bonze?«
»Er war einer, bevor die Nazis kamen. Nicht allzu groß. Mittel. Ein Provinzbonze.
Tüchtig. Kommunist. Fanatiker ohne Privatleben und ohne Humor. Jetzt ist er einer der Untergrundführer im Lager.«»Woher kennst du ihn?«509 dachte nach.»Vor 1933 war ich Redakteur an einer Zeitung. Wir haben oft diskutiert. Und ich habe seine Partei oft angegriffen.
Seine Partei und die Nazis. Wir waren gegen beide.«»Und wofür wart ihr?«
»Für etwas, das jetzt ziemlich pompös und lächerlich klingt. Für Menschlichkeit, Toleranz und das Recht des einzelnen auf eine eigene Meinung. Komisch, was?«»Nein«, sagte Ahasver und hustete.
»Was gibt es sonst?«»Rache«, sagte Meyerhof plötzlich.»Rache gibt es noch! Rache für dieses hier! Rache für jeden einzelnen Toten! Rache für alles, was getan worden ist.«s Alle sahen überrascht auf. Meyerhofs Gesicht war verzerrt. Er hatte die Fäuste geballt und schlug jedesmal, wenn er das Wort Rache aussprach, auf den Boden.»Was ist los mit dir?«fragte Sulzbacher.
»Was ist los mit euch?«fragte Meyerhof zurück.»Er ist verrückt«, sagte Lebenthal.»Er ist gesund geworden, und das hat ihm meschugge gemacht. Sechs Jahre ist er ein ängstlicher, mieser Bocher gewesen der sich nicht traute, den Schnabel aufzumachen – dann hat ein Wunder ihn vor dem Schornstein gerettet, und jetzt ist er Samson Meyerhof.«
»Ich will keine Rache«, flüsterte Rosen.»Ich will nur hier heraus!«»Was? Und die ganze SS soll davonkommen, ohne daß abgerechnet wird?«»Es ist mir egal! Ich will nur heraus!«Rosen preßte verzweifelt die Hände zusammen und flüsterte so intensiv, als hinge alles davon ab:»Ich will nichts weiter als heraus! Heraus hier!«
Meyerhof starrte ihn an.»Weißt du, was du bist? Du bist -«»Sei ruhig, Meyerhof!«
Berger hatte sich aufgesetzt.»Wir wollen nicht wissen, was wir sind. Wir alle sind hier nicht, was wir waren und was wir sein möchten. Was wir wirklich noch sind, wird sich später zeigen. Wer weiß das letzt? Jetzt können wir nur warten und hoffen und meinetwegen beten.«
Er zog die Husarenjacke um sich und legte sich wieder zurück.»Rache«, sagte Ahasver nach einiger Zeit nachdenklich.»Das würde viel Rache werden müssen. Und Rache zieht neue Rache nach sich – was nützt das?«Der Horizont flammte auf.
»Was war das?«fragte Bucher. Ein leises Grollen antwortete.»Es ist kein Bombardement«, erklärte Sulzbacher.»Wieder ein Gewitter. Warm genug ist es dafür.«»Wenn es regnet, werden wir die vom Arbeitslager wecken«, sagte Lebenthal.
»Sie können dann hier draußen liegen. Sie sind kräftiger als wir.«Er wandte «Ich zu 509.»Dein Freund, der Bonze, auch.«
Es blitzte wieder.»Hat einer von denen drinnen etwas von einem Abtransport gehört?«fragte Sulzbacher.
»Nur Gerüchte. Das letzte war, daß tausend ausgesondert werden sollen.«
»O Gott!«Rosens Gesicht schimmerte blaß in der Dunkelheit.»Sie werden natürlich uns nehmen.
Die Schwächsten. Um uns loszuwerden.«
Er blickte 509 an. Alle dachten an den letzten Transport, den sie gesehen hatten.
»Es ist ein Gerücht«, sagte 509.»Wir haben jetzt jeden Tag unzählige Latrinenparolen gehört. Laßt uns ruhig sein, bis ein Befehl kommt. Dann können wir immer noch sehen, was Lewinsky, Werner und die auf der Schreibstube für uns tun können. Oder wir hier.«
Rosen schauderte.»Wie sie die damals an den Beinen unter den Betten hervorgerissen haben -«
Lebenthal sah ihn voll Verachtung an.»Hast, du nie mehr gesehen in deinem Leben als das?«
»Ja -«
»Ich war einmal auf einem großen Schlachthof«, sagte Ahasver.»Ich war da für das koschere Schlachten. In Chikago. Manchmal wußten die Tiere, was passieren würde. Sie rochen das Blut. – Dann rannten sie so – wie die damals. Irgendwohin. In Ecken. Und man zog sie ebenso an den Beinen heraus -«
»Du warst in Chicago?«fragte Lebenthal.
»Ja -«
»In Amerika? Und du bist zurückgekommen?«
»Es war vor fünfundzwanzig Jahren.«
»Du bist zurückgekommen?«Lebenthal starrte Ahasver an.»Hat man je so etwas gehört?«
»Ich hatte Heimweh. Nach Polen.«
»Weißt du -«, Lebenthal brach ab. Es war zu viel für ihn.
XX
Das Wetter klärte sich am Morgen auf zu einem grauen, milchigen Tag. Es blitzte nicht mehr; aber es rollte immer noch dumpf und fern hinter den Wäldern.