Der Blockälteste schwitzte.»Ich mache das, wie ich will. Ich bin Blockältester. Wo ist der, der hier immer mit euch 'rumsitzt? Mit dir und dir.«Er zeigte auf Berger und Bucher.
Der Blockälteste öffnete die Tür zur Baracke, um nachzusehen. Gerade das wollte Berger verhindern. 509 war versteckt; er sollte Weber nicht noch einmal begegnen.
»Er ist nicht hier.«Berger stellte sich in die Tür.
»Was? Geh aus dem Wege!«
»Er ist nicht hier«, sagte Berger, ohne aus dem Wege zu gehen.»Fertig.«
Der Blockälteste starrte ihn an. Bucher und Sulzbacher stellten sich neben Berger.
»Was soll das heißen?«fragte der Blockälteste.
»Er ist nicht hier«, sagte Bucher.»Willst du wissen, wie Handke gestorben ist?«
»Seid ihr verrückt?«
Rosen und Ahasver waren dazugekommen.»Wißt ihr, daß ich euch allen die Knochen brechen kann?«fragte der Blockälteste.
»Horch!«sagte Ahasver und streckte seinen knochigen Zeigefinger in die Richtung des Horizontes aus.»Schon wieder näher.«
»Er ist nicht durch das Bombardement umgekommen«, erklärte Bucher.
»Wir haben Handke nicht das Genick gebrochen. Nicht wir«, sagte Sulzbacher.»Hast du nie von einer Lagerfeme gehört?«
Der Blockälteste trat einen Schritt zurück. Er wußte, was alles schon mit Verrätern und Denunzianten geschehen war.»Ihr hier gehört dazu?«fragte er ungläubig.
»Sei vernünftig«, sagte Berger ruhig.»Und mach dich und uns nicht verrückt. Wer will jetzt noch auf die Liste derer kommen, mit denen abgerechnet wird?«
»Wer hat denn davon geredet?«Der Blockälteste begann zu gestikulieren.»Wenn mir keiner was gesagt hat, kann ich doch nicht wissen, was gespielt wird. Was ist denn los? Auf mich hat sich bis jetzt jeder verlassen können.«»Dann ist es ja gut.«»Bolte kommt«, sagte Bucher.
»Schön, schön.«Der Blockälteste zerrte seine Hosen hoch.»Ich passe schon auf. Ihr könnt euch auf mich verlassen. Ich bin einer von euch.«
Verdammt, dachte Neubauer, warum sind die Bomben nicht hierher gefallen? Dann wäre alles aufs beste erledigt. Immer passiert das Falsche!
»Das ist das Schonungslager?«sagte er.
»Das Schonungslager«, wiederholte Weber.
»Na ja.«Neubauer hob die Schultern.»Schließlich – wir lassen sie nicht arbeiten.«
»Nein.«Weber war belustigt. Die Vorstellung, diese Gespenster arbeiten zu lassen, war absurd.
»Die Blockade«, sagte Neubauer.»Nicht unsere Schuld – die Feinde -«, er wandte sich Weber zu.»Es stinkt hier wie in einem Affenkasten.«
»Dysenterie«, erwiderte Weber.»Es ist ja eigentlich ein Erholungsplatz für Kranke -«
»Kranke, richtig!«Neubauer nahm sofort den Faden auf.»Kranke, Dysenterie, daher stinkt es natürlich. Würde ja im Hospital ebenso sein.«Er blickte sich unentschlossen um.»Können die Leute nicht mal baden?«
»Die Ansteckungsgefahr ist zu groß. Wir haben diesen Teil des Lagers deshalb ziemlich abgeschlossen gehalten. Die Badeeinrichtungen sind auf der anderen Seite.«
Neubauer war bei dem Wort Ansteckung unwillkürlich einen Schritt zurückgetreten.
»Haben wir genug Wäsche, damit die Kerle frische kriegen können? Die alte muß dann wohl verbrannt werden, wie?«
»Nicht unbedingt. Sie kann desinfiziert werden. Wäsche ist genug in der Kleiderkammer. Wir haben reichliche Sendungen von Belsen bekommen.«
»Gut«, sagte Neubauer erleichtert.»Also frische Wäsche und eine Anzahl heile Kittel und Hosen oder was wir sonst haben an Sachen. Chlorkalk und Des. Infektionsmittel verteilen. Das sieht dann gleich ganz anders aus. Schreiben Sie das auf.«Der erste Lagerälteste, ein dicker Sträfling, notierte dienstfertig.»Äußerste Sauberkeit anstreben!«diktierte Neubauer.»Äußerste Sauberkeit anstreben«, wiederholte der Lagerälteste.
Weber unterdrückte ein Grinsen. Neubauer wandte sich den Häftlingen zu.»Habt ihr alles, was euch zusteht?«
Die Antwort war durch zwölf Jahre vorgeschrieben.»Jawohl, Herr Obersturmbannführer.«
»Gut. Weitermachen.«
Neubauer blickte noch einmal umher. Die alten Baracken standen schwarz wie Särge da. Er suchte und hatte plötzlich eine Eingebung.»Lassen Sie etwas Grünes hier pflanzen«, erklärte er.»Es ist jetzt die Zeit dafür. Ein paar Büsche an die Nordseiten und einen Blumenstreifen an die Südwände.
Das heitert auf. Wir haben doch so was in der Gärtnerei, wie?«»Zu Befehl, Herr Obersturmbannführer.«
»Also dann! Fangen Sie gleich damit an. Wir können das auch bei den Baracken im Arbeitslager machen.«Neubauer begeisterte sich für seine Idee. Der Gartenbesitzer in ihm brach durch.»Schon eine Rabatte Veilchen – nein, Primeln sind besser, das Gelb leuchtet mehr -«
Zwei Leute glitten langsam zu Boden. Niemand rührte sich, ihnen zu helfen.»Primeln – haben wir genug Primeln in der Gärtnerei?«»Zu Befehl, Herr Obersturmbannführer.«Der dicke Lagerälteste stand stramm.»Es sind reichlich Primeln da. In Blüte.«
»Gut. Machen Sie das. Und lassen Sie die Lagerkapelle ab und zu weiter unten spielen, damit die hier auch was hören.«
Neubauer ging zurück. Die anderen folgten ihm. Er war wieder einigermaßen beruhigt.
Die Gefangenen hatten keine Beschwerden. Er war durch viele Jahre ohne Kritik daran gewöhnt, das, was er selbst glauben wollte, als Tatsache anzusehen. Deshalb erwartete er auch jetzt, daß die Gefangenen ihn so sahen, wie er es wollte: als einen Mann, der unter schwierigen Umständen sein Bestes; für sie tat. Daß sie Menschen waren, wußte er längst nicht mehr.
XXII
»Was?«fragte Berger ungläubig.»Überhaupt kein Abendessen?«»Nichts.«»Keine Suppe?«»Keine Suppe und kein Brot. Ausdrücklicher Befehl von Weber.«»Und die anderen? Das Arbeitslager?«»Nichts. Kein Abendessen für das ganze Lager.«Berger wandte sich um.»Versteht einer das? Wäsche haben wir gekriegt, aber kein Essen?«»Primeln haben wir auch gekriegt.«509 zeigte auf zwei kümmerliche Flecken zu beiden Seiten der Tür. Ein paar Pflanzen standen halb verwelkt darin. Sie waren mittags von Gefangenen aus der Gärtnerei hergesetzt worden.»Vielleicht kann man sie essen.«»Versuch es nicht. Wenn sie fehlen, kriegen wir eine Woche lang nichts zu essen.«»Warum nur?«sagte Berger.»Nach all dem Getue von Neubauer habe ich gedacht, daß wir vielleicht sogar Kartoffeln in die Suppe kriegen würden.«Lebenthal kam heran.»Es ist Weber. Nicht Neubauer. Weber ist wütend über Neubauer. Denkt, er will sich den Rücken decken. Will er sicher auch. Deshalb arbeitet Weber gegen ihn, wo er kann. Habe es von der Schreibstube. Lewinsky und Werner und die anderen drüben sagen es auch. Wir müssen darunter leiden.«»Das wird viele Tote geben.«Sie starrten in den roten Himmel.»Weber hat auf der Schreibstube gesagt, es solle sich keiner was einbilden; er würde schon dafür sorgen, daß wir kurzgehalten würden.«Lebenthal holte sein Gebiß aus dem Mund, besah es flüchtig und setzte es wieder ein. Von der Baracke her kam dünnes Schreien. Die Nachricht hatte sich verbreitet. Skelette taumelten aus der Tür und inspizierten die Eßkannen – ob sie nach Essen rochen und die anderen sie betrogen hätten. Die Kannen waren blank und trocken. Das Jammern wurde stärker. Viele Leute ließen sich einfach zu Boden fallen und hämmerten mit ihren Knochenfäusten auf die schmutzige Erde. Die meisten aber schlichen fort oder lagen bewegungslos mit offenen Mündern und großen Augen herum. Aus den Türen kamen die leisen Stimmen derer, die nicht mehr aufstehen konnten. Es war kein artikuliertes Schreien; es war nur noch ein schwacher Choral der Verzweiflung, ein Singsang, der nicht einmal mehr Worte und Bitten und Flüche für die Verzweiflung hatte. Es war jenseits davon; es war das letzte bißchen untergehendes Leben, das da summte und zirpte und pfiff und kratzte, als seien die Baracken riesige Kisten mit sterbenden Insekten. Um sieben Uhr begann die Lagerkapelle zu spielen. Sie stand außerhalb des Kleinen Lagers, aber so nahe, daß sie gut zu hören war. Neubauers Anweisung war prompt befolgt worden. Das erste Stück war wie immer der Lieblingswalzer des Kommandanten:»Rosen aus dem Süden.«»Laßt uns Hoffnung fressen, wenn wir nichts anderes haben«, sagte 509.»Laßt uns all die Hoffnung fressen, die es gibt. Laßt uns das Geschützfeuer fressen! Wir müssen durchkommen. Wir werden durchkommen!«Die kleine Gruppe hockte nahe der Baracke zusammen. Es war eine kühle, dunstige Nacht. Sie froren nicht zu sehr. Die Baracke hatte bereits achtundzwanzig Tote in den ersten Stunden gehabt; die Veteranen hatten ihnen die Suchen ausgezogen, die sie gebrauchen konnten, und sie selbst angezogen, um nicht zu frieren und krank zu werden. Sie wollten nicht in die Baracke. In der Baracke keuchte, stöhnte und schmatzte der Tod. Sie waren drei Tage ohne Brot geblieben und heute auch noch ohne Suppe. Auf allen Betten kämpfte es, ergab sich und starb. Sie wollten nicht hinein. Sie wollten nicht dazwischen schlafen. Das Sterben war ansteckend, und es schien ihnen, als seien sie wehrlos dagegen im Schlaf. So saßen sie draußen, die Sachen der Toten über sich gezogen, und starrten zum Horizont, von dem die Freiheit kommen mußte.