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»Es ist nur diese Nacht«, sagte 509.»Nur diese eine Nacht! Glaubt es mir. Neubauer wird es erfahren und die Verordnung morgen aufheben. Sie sind bereits uneinig. Es ist der Anfang vom Ende. Wir haben so lange ausgehalten. Nur noch diese Nacht!«

Niemand antwortete. Sie saßen dicht zusammengedrängt wie eine Gruppe von Tieren im Winter.

Es war nicht nur Wärme, die sie sich gaben; es war vervielfachter Lebensmut. Er war wichtiger als Wärme.»Laßt uns über etwas reden«, sagte Berger.

»Aber etwas, was nichts mit diesem hier zu tun hat.«Er wandte sich zu Sulzbacher, der neben ihm hockte.»Was willst du machen, wenn du hier herauskommst?«

»Ich?«Sulzbacher zögerte.»Besser, nicht darüber zu reden, bevor es soweit ist. Es bringt Unglück.«

»Es bringt kein Unglück mehr«, erwiderte 509 heftig.»Wir haben nicht darüber geredet durch all die Jahre, weil es uns zerfressen hätte. Jetzt aber müssen wir darüber reden. In einer solchen Nacht! Wann sonst? Laßt uns fressen, was wir an Hoffnung haben. Was willst du machen, wenn du herauskommst, Sulzbacher?«

»Ich weiß nicht, wo meine Frau ist. Sie war in Düsseldorf. Düsseldorf ist zerstört.«

»Wenn sie in Düsseldorf ist, ist sie sicher. Düsseldorf ist von den Engländern besetzt.

Das Radio hat es längst zugegeben.«»Oder sie ist tot«, sagte Sulzbacher.

»Damit muß man rechnen. Was wissen wir schon von denen, die draußen sind?«

»Und die draußen von uns«, sagte Bucher.

509 blickte ihn an. Er hatte ihm immer noch nicht gesagt, daß sein Vater tot»ei und wie er gestorben war. Es hatte Zeit, bis er frei war. Er würde es dann besser ertragen.

Er war jung und hatte als einziger jemanden, der mit ihm hinausging. Er würde es früh genug erfahren.

»Wie wird das nur sein, wenn wir herauskommen?«sagte Meyerhof.»Ich bin seit sechs Jahren im Lager.«

»Ich seit zwölf«, sagte Berger.

»So lange? Warst du politisch?«

»Nein. Ich habe nur einen Nazi, der später Gruppenführer wurde, von 1928 bis 1932 ärztlich behandelt. Vielmehr nicht ich; er ist zu mir in die Sprechstunde gekommen und dort behandelt worden durch einen Freund von mir, der Facharzt war. Der Nazi kam zu mir, weil er im selben Hans wohnte wie ich. Es war für ihn bequemer.«

»Und deshalb hat er dich einsperren lassen?«

»Ja. Er hatte Syphilis.«

»Und der Facharzt?«

»Er hat ihn erschießen lassen. Ich selbst konnte ihm vormachen, daß ich nicht wußte, was er hätte, und glaubte, es seien nur Entzündungen vom letzten Krieg. Er war trotzdem vorsichtig genug, mich einsperren zu lassen.«

»Was wirst du machen, wenn er noch lebt und du 'rauskommst?«

Berger dachte nach.»Ich weiß es nicht.«

»Ich würde ihn totschlagen«, erklärte Meyerhof.

»Und dafür wieder ins Gefängnis kommen, was?«sagte Lebenthal.»Für Totschlag. Noch einmal zehn oder zwanzig Jahre.«

»Was willst du machen, Leo, wenn du 'rauskommst?«fragte 509.

»Ich mache ein Mantelgeschäft auf. Gute Halbkonfektion.«

»Mäntel? Im Sommer? Es wird Sommer, Leo!«

»Es gibt Sommermäntel! Ich kann Anzüge dazunehmen. Und Regenmäntel, natürlich.«

»Leo«, sagte 509.»Warum willst du nicht in der Nahrungsmittelbranche bleiben? Das wird mehr gebraucht als Mäntel, und du warst hier großartig darin.«»Meinst du?«Lebenthal war deutlich geschmeichelt.

»Unbedingt!«

»Vielleicht hast du recht. Ich werde es mir überlegen. Amerikanische Lebensmittel, zum Beispiel.

Das wird groß gehen. Erinnert ihr euch an den amerikanischen Speck nach dem letzten Krieg? Er war dick, weiß und zart wie Marzipan, mit rosa -«

»Halt's Maul, Leo! Bist du verrückt?«

»Nein. Es fiel mir nur plötzlich ein. Ob sie diesmal auch welchen schicken werden?

Für uns wenigstens?«

»Sei ruhig, Leo!«

»Was willst du machen, Berger?«fragte Rosen.

Berger wischte sich die entzündeten Augen.»Ich werde bei einem Apotheker in die Lehre gehen.

Versuchen, so was Ähnliches zu werden. Operieren – mit solchen Händen? Nach so langer Zeit?«

Er ballte die Hände unter der Jacke zusammen, die er über sich gezogen hatte.»Unmöglich. Ich werde Apotheker werden. Und du?«

»Meine Frau hat sich scheiden lassen, weil ich Jude war. Ich weiß nichts mehr von ihr.«

»Du willst sie doch nicht suchen?«fragte Meyerhof.

Rosen zögerte.»Sie hat es vielleicht unter Zwang getan. Was hätte sie sonst tun sollen? Ich habe es ihr selbst geraten.«

»Vielleicht ist sie inzwischen so mies geworden, daß es kein Problem für dich ist«, sagte Lebenthal.

»Vielleicht bist du froh, daß du sie los bist.«

»Wir sind auch nicht jünger geworden.«

»Nein. Neun Jahre.«Sulzbacher hustete.»Wie wird das sein, wenn man jemand nach so langer Zeit wiedersieht?«

»Sei froh, daß einer da ist zum Wiedersehen.«

»Nach so langer Zeit«, wiederholte Sulzbacher.»Wer kennt sich da noch?«

Sie hörten im Schuffeln der Muselmänner einen festeren Schritt.»Achtung«, flüsterte Berger.

»Vorsicht, 509.«

»Es ist Lewinsky«, sagte Bucher. Er konnte Leute am Schritt erkennen. Lewinsky kam heran.

»Was macht ihr? Kein Fressen heute. Wir haben einen Verbindungsmann in der Küche. Er konnte Brot und Kartoffeln stehlen. Gekocht worden ist nur für die Bonzen. Da war nichts zu schnappen.

Hier ist etwas Brot. Und hier sind ein paar rohe Karotten. Es ist wenig; aber wir haben auch nichts gekriegt.«

»Berger«, sagte 509.»Verteile es.«

Jeder bekam eine halbe Schnitte Brot und eine Karotte.»Eßt es langsam. Kaut, bis es weg ist.«

Berger gab ihnen erst die Karotten; dann, einige Minuten später, das Brot.

»Man fühlt sich wie ein Verbrecher, daß man heimlich frißt«, sagte Rosen.»Dann tu es nicht«, erwiderte Lewinsky lakonisch.»Du Quatschkopf.«Lewinsky hatte recht.

Rosen wußte es. Er wollte erklären, daß er nur heute, In dieser sonderbaren Nacht, in der sie über die Zukunft geredet hatten, um über ihren Hunger hinwegzukommen, einen solchen Gedanken gehabt habe und daß es eben mit der Zukunft zusammenhänge; aber er gab es auf. Es war zu kompliziert. Und zu unwichtig.

»Sie fallen um«, erklärte Lewinsky heiser und atemlos.»Grüne fallen ebenfalls um.

Wollen mitmachen. Wir lassen sie. Kapos, Blockälteste, Stubenälteste. Später werden wir sortieren. Zwei SS-Leute auch. Dazu der Hospitalarzt.«»Das Schwein«, sagte Bucher.

»Wir wissen, was er ist. Aber wir können ihn gebrauchen. Wir kriegen Nachrichten durch ihn.

Heute abend ist ein Befehl für einen Abtransport gekommen.«

»Was?«fragten Berger und 509 zugleich.»Transport. Zweitausend Mann sollen abtransportiert werden.«»Sie wollen das Lager räumen?«»Sie wollen zweitausend Mann. Vorläufig.«»Der Transport. Das haben wir gefürchtet«, sagte Berger.»Seid ruhig. Der Schreiber mit den roten Haaren paßt auf. Wenn sie eine Liste machen, kommt ihr nicht mit drauf. Unsere Leute sind jetzt überall. Außerdem heißt es, daß Neubauer zögert. Er hat den Befehl noch nicht weitergegeben.«

»Sie werden nicht nach einer Liste gehen«, sagte Rosen.»Sie werden sie zusammenfangen, wie sie es bei uns getan haben, wenn sie sie nicht anders kriegen können. Die Liste machen sie dann nachher.«

»Regt euch nicht auf. Es ist noch nicht soweit. Jede Stunde kann alles ändern.«»Regt euch nicht auf, sagt er.«Rosen zitterte.

»Wir schmuggeln euch zur Not ins Hospital. Der Arzt drückt jetzt beide Augen zu.

Wir haben schon eine Anzahl gefährdeter Leute drin.«

»Haben sie davon gesprochen, daß auch Frauen abtransportiert werden?«fragte Bucher.

»Nein. Das werden sie auch nicht machen. Es sind noch viel zu wenige hier.«

Lewinsky stand auf.»Komm mit«, sagte er zu Berger.»Ich wollte dich holen. Deshalb bin ich hier.«

»Wohin?«

»Zum Lazarett. Wir verstecken dich da für ein paar Tage. Wir haben einen Raum neben der Flecktyphusabteilung; kein Nazi wagt sich dort in die Nähe. Es ist alles arrangiert.«

»Und warum?«fragte 509.

»Das Krematoriumskommando. Sie erledigen es morgen. Das sind die Gerüchte. Ob sie ihn dazu rechnen, weiß keiner von uns. Ich glaube, ja.«Er wandte sich zu Berger.

»Du hast unten zuviel gesehen. Komm zur Vorsicht mit. Zieh dich um. Laß deine Sachen hier an einem Toten. Nimm seinen Kram.«