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Endlich bog der Wagen in die Liebigstraße ein. Neubauer lehnte sich hinaus. Da war sein Haus!

Der Vorgarten! Da waren der Terrakottazwerg und der Dachshund aus rotem Porzellan auf dem Rasen. Unbeschädigt! Alle Fenster heil! Der Krampf im Magen löste sich. Er stieg die Stufen empor und öffnete die Tür. Glück gehabt, dachte er. Verdammtes Schwein gehabt! Gehörte sich auch so! Warum sollte gerade ihm was passieren?

Er hängte seine Kappe an den Huthaken aus Hirschgeweihen und ging in das Wohnzimmer.

»Selma! Freya! Wo seid ihr?«

Niemand antwortete. Neubauer stampfte zum Fenster und riß es auf. Im Garten hinter dem Haus arbeiteten zwei russische Gefangene. Sie sahen kurz auf und gruben eifrig weiter.

»Heda! Bolschewiken!«

Einer der Russen hörte auf zu arbeiten.»Wo ist meine Familie?«schrie Neubauer.

Der Mann erwiderte etwas auf russisch.

»Laß deine Schweinesprache, Idiot! Du verstehst deutsch! Oder soll ich hinauskommen und es dir beibringen?«

Der Russe starrte ihn an.»Ihre Frau ist im Keller«, sagte jemand hinter Neubauer. Er drehte sich um. Es war das Dienstmädchen.»Im Keller? So, natürlich. Und wo waren Sie?«

»Draußen, einen Augenblick nur!«Das Mädchen stand in der Tür, das Gesicht gerötet, mit glänzenden Augen, als käme es von einer Hochzeit.»Hundert Tote schon, sagen sie«, plapperte es los.»Am Bahnhof, und dann im Kupferwerk, und in der Kirche -«

»Ruhe!«unterbrach Neubauer sie.»Wer hat das gesagt?«

»Draußen, die Leute -«

»Wer?«Neubauer trat einen Schritt vor.»Staatsfeindliche Reden! Wer hat das gesagt?«

Das Mädchen wich zurück.»Draußen – ich nicht – jemand – alle -«

»Verräter! Lumpen!«Neubauer tobte. Er konnte die aufgespeicherte Spannung endlich auslassen.

»Bande! Schweine! Meckerer! Und Sie? Was haben Sie draußen zu tun?«

»Ich – nichts -«

»Weggerannt vom Dienst, was? Weitertratschen von Lügen und Greuelnachrichten!

Wir werden das schon noch herausfinden! Durchgegriffen muß hier werden!

Verdammt scharf durchgegriffen! Marsch, in die Küche!«

Das Mädchen lief hinaus. Neubauer schnaufte und schloß das Fenster. Nichts passiert, dachte er.

Im Keller sind sie, natürlich. Hätte ich mir gleich denken können.

Er holte eine Zigarre hervor und zündete sie an. Dann zog er seinen Rock glatt, wölbte die Brust, sah in den Spiegel und ging hinunter.

Seine Frau und seine Tochter saßen dicht nebeneinander auf einer Chaiselongue, die an der Wand stand. Über ihnen hing in breitem Goldrahmen ein mehrfarbiges Bild des Führers.

Der Keller war 1940 als Luftschutzkeller hergerichtet worden. Neubauer hatte ihn damals nur aus Repräsentationsrücksichten bauen lassen; es gehörte zum Patriotismus, in diesen Dingen mit gutem Beispiel voranzugehen. Niemand hatte je im Ernst daran gedacht, daß Deutschland bombardiert werden könne. Die Erklärung Görings, man möge ihn fortan Meier nennen, wenn feindliche Flugzeuge so etwas im Angesicht der Luftwaffe fertig brächten, war jedem ehrlichen Deutschen genug gewesen. Leider war es anders gekommen. Ein typisches Beispiel für die Heimtücke der Plutokraten und Juden: sich schwächer zu stellen, als sie waren,»Bruno!«Selma Neubauer erhob sich und begann zu schluchzen.

Sie war blond und fett und trug einen Morgenrock aus lachsfarbener französischer Seide mit Spitzen. Neubauer hatte ihn ihr 1941 von einem Urlaub aus Paris mitgebracht. Ihre Backen zitterten, und ihr zu kleiner Mund kaute an Worten.

»Es ist vorbei, Selma. Beruhige dich.«

»Vorbei -«sie kaute weiter, als wären die Worte zu große Königsberger Klopse.

»Für wie – wie lange?«

»Für immer. Sie sind weg. Der Angriff ist abgeschlagen. Sie kommen nicht wieder.«

Selma Neubauer hielt ihren Morgenrock über der Brust fest.»Wer sagt das, Bruno?

Woher weißt du das?«

»Wir haben mindestens die Hälfte abgeschossen. Die werden sich hüten, wiederzukommen.«

»Woher weißt du das?«

»Ich weiß es. Sie haben uns diesmal überrascht. Das nächstemal werden wir ganz anders auf dem Posten sein.«

Die Frau hörte auf zu kauen.»Das ist alles?«fragte sie.»Das ist alles, was du uns sagen kannst?«

Neubauer wußte, daß es nichts war.»Ist es nicht genug?«fragte er deshalb barsch zurück.

Seine Frau starrte ihn an. Ihre Augen waren wässerig und hellblau.»Nein!«kreischte sie plötzlich.

»Das ist nicht genug! Das ist nichts als Quatsch! Es heißt gar nichts!

Was haben wir nicht alles schon gehört? Erst erzählt man uns, wir wären so stark, daß nie ein feindlicher Flieger nach Deutschland hereinkäme, und auf einmal kommen sie doch. Dann heißt es, sie kämen nicht wieder, wir schössen sie von nun an alle an den Grenzen ab, und statt dessen kommen zehnmal so viele zurück, und der Alarm geht andauernd. Und jetzt haben sie uns schließlich hier auch erwischt, und da kommst du großartig und sagst, sie würden nicht wiederkommen, wir würden sie schon kriegen! Und das soll ein vernünftiger Mensch glauben?«

»Selma!«Neubauer warf unwillkürlich einen Blick auf das Bild des Führers. Dann sprang er zur Tür und warf sie zu.»Verdammt! Nimm dich zusammen!«zischte er.

»Willst du uns alle ins Unglück bringen? Bist du verrückt geworden, so zu schreien?«

Er stand dicht vor ihr. Über ihren dicken Schultern blickte der Führer weiter kühn in die Landschaft von Berchtesgaden. Neubauer hatte einen Augenblick fast geglaubt, er hätte alles mit angehört.

Selma sah den Führer nicht.»Verrückt?«kreischte sie.»Wer ist verrückt? Ich nicht.

Wir hatten ein wunderbares Leben vor dem Kriege – und jetzt? Jetzt? Ich möchte wissen, wer da verrückt ist?«

Neubauer ergriff mit beiden Händen ihre Arme und schüttelte sie so, daß ihr Kopf hin- und herflog und sie nicht mehr schreien konnte. Ihr Haar löste sich, ein paar Kämme fielen heraus, sie verschluckte sich und hustete. Er ließ sie frei. Sie fiel wie ein Sack auf die Chaiselongue.»Was ist mit ihr los?«fragte er seine Tochter.

»Nichts weiter. Mutter ist sehr aufgeregt.«

»Warum? Es ist doch nichts passiert.«

»Nichts passiert?«begann die Frau wieder.»Dir natürlich nicht, da oben! Aber wir hier allein -«

»Ruhig! Verdammt! Nicht so laut! Habe ich dafür fünfzehn Jahre geschuftet, damit du mit deinem Geschrei alles auf einen Schlag wieder vernichtest? Meinst du, es warten nicht schon genug darauf, meinen Posten zu schnappen?«

»Es war das erste Bombardement, Vater«, sagte Freya Neubauer ruhig.»Bisher haben wir doch nur Alarme gehabt. Mutter wird sich schon gewöhnen.«

»Das erste? Natürlich das erste! Wir sollten froh sein, daß bisher noch nichts passiert ist, anstatt Unsinn zu schreien.«

»Mutter ist nervös. Sie wird sich schon gewöhnen.«

»Nervös!«Neubauer war irritiert durch die Ruhe seiner Tochter.»Wer ist nicht nervös? Meinst du, ich bin nicht nervös? Man muß sich beherrschen können. Was würde sonst passieren?«

»Dasselbe!«Seine Frau lachte. Sie lag auf der Chaiselongue, die plumpen Beine gespreizt. Ihre Füße steckten in rosa Seidenschuhen. Sie hielt Rosa und Seide für sehr elegant.»Nervös!

Gewöhnen! Du kannst gut reden!«

»Ich? Wieso?«

»Dir passiert nichts.«

»Was?«

»Dir passiert nichts. Aber wir sitzen hier in der Falle.«

»Das ist ja blühender Unsinn! Einer ist wie der andere. Wieso kann mir denn nichts passieren?«

»Du bist sicher, da oben in deinem Lager!«

»Was?«Neubauer warf seine Zigarre zu Boden und trampelte darauf.»Wir haben nicht solche Keller wie ihr hier.«Es war gelogen.

»Weil ihr keine braucht. Ihr seid außerhalb der Stadt.«

»Als ob das was ausmachte! Wo eine Bombe hinfällt, da fällt sie hin.«

»Das Lager wird nicht bombardiert werden.«

»So? Das ist ja ganz neu. Woher weißt du denn das? Haben die Amerikaner eine Nachricht darüber abgeworfen? Oder dir speziell Bescheid gesagt?«

Neubauer sah auf seine Tochter. Er erwartete Beifall für diesen Witz. Aber Freya zupfte an den Fransen einer Plüschdecke, die über den Tisch neben der Chaiselongue gebreitet war. Dafür antwortete seine Frau.»Sie werden ihre eigenen Leute nicht bombardieren.«

»Quatsch! Wir haben gar keine Amerikaner da. Auch keine Engländer. Nur Russen, Polen, Balkangesindel und deutsche Vaterlandsfeinde, Juden, Verräter und Verbrecher.«

»Sie werden keine Russen und Polen und Juden bombardieren«, erklärte Selma mit stumpfem Eigensinn.

Neubauer drehte sich scharf um.»Du weißt ja eine ganze Menge«, sagte er leise und sehr wütend.

»Aber jetzt will ich dir einmal etwas sagen. Die wissen überhaupt nicht, was für ein Lager da oben ist, verstanden? Sie sehen nur Baracken. Sie können sie glatt für Militärbaracken halten. Sie sehen Kasernen. Das sind unsere SS-Kasernen.