»Also gut, Herr Doktor. Ich werde es auf meine Kappe nehmen. Bis morgen.«Neubauer blickte dem Hospitalleiter nach und pfiff leise vor sich hin. Du auch, dachte er. Meinetwegen! Je mehr, desto besser. Können uns gegenseitig entlasten. Vorsichtig legte er den Transportbefehl in seine besondere Mappe. Dann tippte er auf der kleinen Reiseschreibmaschine seine Anordnung, den Transport zu verschieben, und fügte sie hinzu. Er öffnete das Safe, packte die Mappe hinein und schloß ab. Der Befehl war ein Glücksfall gewesen. Er holte die Mappe noch einmal hervor und öffnete die Schreibmaschine wieder. Langsam tippte er ein neues Memorandum -die Aufhebung von Webers Anordnung, kein Essen auszugeben. Dafür ein eigener Befehl fürreichliches Abendessen im Lager. Kleine Dinge – aber alle von Wert. In der SS-Kaserne herrschte eine gedrückte Stimmung. Der Oberscharführer Kammler überlegte verdrossen, ob er pensionsberechtigt sei und ob die Pension bezahlt werden würde; er war ein verkrachter Student und hatte nichts gelernt, um arbeiten zu können. Der SS-Mann und ehemalige Schlächtergeselle Florstedt grübelte darüber nach, ob wohl alle Leute tot seien, die er in den Jahren 1933 bis 1935 unter den Händen gehabt hatte. Er wünschte es. Von etwa zwanzig wußte er es. Er hatte sie selbst mit Peitschen, Tischbeinen und Ochsenziemern erledigt. Aber von etwa zehn anderen wußte er es nicht so genau. Der kaufmännische Angestellte, Scharführer Bolte, hätte gern von einem Fachmann erfahren, ob seine Unterschlagungen im Zivilberuf verjährt waren oder nicht. Niemann, der Abspritzer, hatte einen homosexuellen Freund in der Stadt, der versprochen hatte, ihm falsche Papiere zu besorgen; aber er traute ihm nicht und nahm sich vor, eine letzte Spritze für ihn bereitzuhalten. Der SS-Mann Duda beschloß, sich nach Spanien und Argentinien durchzuschlagen; er erwartete, daß man in solchen Zeiten immer Leute gebrauchen könne, die vor nichts zurückschreckten. Breuer tötete im Bunker den katholischen Vikar Werkmeister, indem er ihn langsam, mit Pausen, erdrosselte. Der Scharführer Sommer, ein sehr klein gewachsener Mensch, der eine besondere Freude daran gehabt hatte, groß gewachsene Häftlinge zu entsetztem Schreien zu bringen, war voll Wehmut wie ein verblühendes Mädchen nach den goldenen Tagen der Jugend. Ein halbes Dutzend anderer SS- Leute hoffte, die Häftlinge würden ihnen gute Zeugnisse ausstellen; einige glaubten noch an einen Sieg Deutschlands; andere waren bereit, zu den Kommunisten überzugehen; eine Anzahl war bereits überzeugt, nie wirkliche Nazis gewesen zu sein; viele dachten einfach gar nichts, weil sie es nie gelernt hatten. Fast alle aber hatten das Bewußtsein, daß sie stets auf Befehl gehandelt hatten und dadurch von jeder persönlichen und menschlichen Schuld frei waren.
»Über eine Stunde«, sagte Bucher.
Er blickte auf die leeren Maschinengewehrtürme. Die Wachen waren abgezogen, und es war keine Ablösung gekommen. Das war schon ab und zu vorher passiert; doch dann nur auf kurze Zeit und nur im Kleinen Lager. Jetzt aber waren nirgendwo mehr Wachen zu sehen.
Der Tag schien gleichzeitig fünfzig Stunden gedauert zu haben und nur drei; so aufregend war er gewesen. Alle waren völlig erschöpft; sie konnten kaum noch sprechen. Sie hatten anfangs nicht sehr darauf geachtet, daß die MG-Türme nicht wieder besetzt worden waren. Bucher hatte es dann gemerkt. Er hatte auch gesehen, daß das Arbeitslager ohne Wachen war.
»Vielleicht sind sie schon abgezogen.«
»Nein. Lebenthal hat gehört, daß sie noch da sind.«
Sie warteten weiter. Die Wachen kamen nicht. Es gab Essen. Die Essenholer berichteten, daß noch SS da sei. Es sähe allerdings nach Abzug aus.
Das Essen wurde ausgegeben. Es entstand eine kraftlose Schlägerei. Die ausgehungerten Skelette mußten zurückgetrieben werden.»Es ist genug da für alle«, rief 509.»Mehr als sonst! Viel mehr!
Jeder kriegt was.«
Es gab endlich Ruhe. Die Kräftigsten bildeten eine Kette um den Kessel, und 509 begann mit dem Verteilen. Berger war noch im Hospital versteckt.
»Seht euch das an! Sogar Kartoffeln!«sagte Ahasver.»Und Sehnen. Ein Wunder!«
Die Suppe war bedeutend dicker als gewöhnlich, und es gab fast doppelt soviel wie sonst. Es gab auch doppelte Brotportionen. Es war immer noch viel zuwenig, aber für das Kleine Lager war es etwas Unbegreifliches.»Der Alte stand selbst dabei«, berichtete Bucher.»Solange ich hier bin, habe ich das nicht gesehen.«
»Er will sich ein Alibi verschaffen.«
Lebenthal nickte.»Sie halten uns hier für blöder, als wir sind.«
»Nicht einmal.«509 stellte seinen leeren Topf neben sich.»Sie geben sich keine Mühe, über uns nachzudenken. Sie glauben, daß wir so sind, wie sie wollen, fertig. Sie tun das überall. Sie wissen alles und alles immer besser. Deshalb haben sie auch den Krieg verloren. Sie wußten alles besser über Rußland, England und Amerika.«
Lebenthal rülpste.»Welch ein wunderbarer Laut«, sagte er andächtig»Großer Gott, wann habe ich zum letztenmal gerülpst!«
Sie waren aufgeregt und müde. Sie redeten und hörten kaum, was sie sagten. Sie lagen auf einer unsichtbaren Insel. Rundum starben Muselmänner. Sie starben trotz der kräftigeren Suppe.
Langsam bewegten sie ihre Spinnenglieder und krächzten und flüsterten ab und zu oder schliefen hinüber. Bucher ging langsam, so gerade aufgerichtet, wie er konnte, über den Appellplatz zu dem doppelten Stacheldrahtzaun hinüber, der die Frauenbaracke vom Kleinen Lager trennte. Er lehnte sich dagegen.»Ruth.«Sie stand auf der anderen Seite. Das Abendrot färbte ihr Gesicht und gab ihm einen Schein von Gesundheit, als hätte sie schon viele gute Mahlzeiten hinter sich.»Da stehen wir«, sagte Bucher.»Da stehen wir, offen, und kümmern uns um nichts.«Sie nickte. Ein schwaches Lächeln huschte über ihr Gesicht.»Ja. Zum ersten Male.«»Als sei es ein Gartenzaun. Wir können uns dagegenlehnen und miteinander sprechen. Ohne Angst. Wie an einem Gartenzaun im Frühling.«Sie waren trotzdem nicht ohne Angst. Sie blickten alle Augenblicke hinter sich und zu den unbesetzten Türmen hinüber. Es saß viel zu tief in ihnen. Sie wußten es. Sie wußten auch, daß sie es überwinden mußten. Sie lächelten sich zu, und jeder versuchte, länger als der andere auszuhalten, nicht rasch einen hastigen Blick seitwärts zu werfen. Andere fingen an, es nachzumachen. Wer konnte, richtete sich auf und ging umher. Manche näherten sich dem Stacheldraht weiter, als erlaubt war – so weit, daß die Wachen schon geschossen hätten, wenn sie dagewesen wären. Es lag eine sonderbare Befriedigung darin. Es schien kindisch, und es war alles andere, nur nicht kindisch. Sie schritten vorsichtig auf ihren Stelzbeinen dahin; manche schwankten und mußten sich festhalten; die Köpfe hoben sich, die Augen in den verwüsteten Gesichtern starrten nicht mehr auf den Boden ins Leere – sie begannen wieder zu sehen. Etwas fast Vergessenes rührte sich in den Gehirnen, qualvoll, bestürzend und beinahe noch ohne Namen. So wanderten sie über den Platz, vorüber an den Haufen von Toten, vorüber an den Haufen teilnahmsloser Kameraden, die starben oder sich nur noch bewegten und an Essen denken konnten – eine geisterhafte Promenade von Skeletten, in denen ein Funke Leben trotz allem nicht erstorben war. Das Abendrot erlosch. Blaue Schatten wucherten im Tal und überschwemmten die Hügel. Die Wachen waren immer noch nicht zurück. Die Nacht wurde tiefer. Bolte erschien nicht zum Abendappell. Lewinsky brachte Nachrichten. In den Kasernen war große Tätigkeit. Man erwartete die Amerikaner in ein bis zwei Tagen. Der Transport morgen würde nicht mehr zusammengestellt werden. Neubauer sei in die Stadt gefahren. Lewinsky grinste mit allen Zähnen.»Nicht mehr lange! Ich muß zurück!«Er nahm drei von den Versteckten mit. Die Nacht war sehr still. Sie kam groß und mit allen Sternen.
XXIV
Der Lärm begann gegen Morgen. 509 hörte zuerst das Schreien. Es kam von weit her durch die Stille. Es war nicht das Schreien gefolterter Menschen; es war das Grölen einer betrunkenen Rotte.
Schüsse knatterten. 509 fühlte nach seinem Revolver. Er hatte ihn unter dem Hemd. Er versuchte zu hören, ob nur die SS feuerte oder ob Werners Leute bereits antworteten.