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Das Lagertor stand weit offen. Roh zurechtgemachte Flaggen hingen vor den Baracken. Der große Lautsprecher brachte Bekanntmachungen. Einer der Lastwagen mit Kannen voll Milch war zurückgekehrt.

Der Wagen mit Neubauer hielt vor der Kommandantur. Ein amerikanischer Oberst stand dort mit einigen Offizieren und erteilte Weisungen. Neubauer stieg aus, zupfte seinen Rock zurecht und trat vor.»Obersturmbannführer Neubauer. Stelle mich hiermit zur Verfügung.«Er grüßte militärisch; nicht mit dem Hitlergruß.

Der Oberst sah auf den Korporal. Der Korporal übersetzte.»Is this the son of a bitch?«fragte der Oberst.

»Yes, Sir.«

»Put him to work over there. Shoot him, if he makes a false move.«

Neubauer hatte angestrengt zugehört.»Los«, sagte der Korporal.»Arbeiten. Tote fortbringen.«

Neubauer hatte immer noch auf etwas anderes gehofft.»Ich bin Offizier«, stammelte er.»Im Rang eines Obersten.«

»Um so schlimmer.«

»Ich habe Zeugen! Ich war menschlich! Fragen Sie die Leute!«

»Ich glaube, wir werden ein paar Mann brauchen, damit Ihre Leute Sie nicht in Stücke reißen«, erwiderte der Korporal.»Mir wäre es recht. Los, vorwärts!«

Neubauer warf noch einen Blick auf den Obersten. Der beachtete ihn schon nicht mehr. Er wandte sich um. Zwei Mann gingen neben ihm; der dritte hinter ihm.

Nach ein paar Schritten war er erkannt. Die drei Amerikaner rückten ihre Schultern zurecht. Sie erwarteten den Sturm und schlössen sich eng um Neubauer. Neubauer begann zu schwitzen. Er starrte gerade vor sich hin und ging, als wollte er gleichzeitig schneller und langsamer gehen.

Aber es geschah nichts. Die Gefangenen blieben stehen und sahen Neubauer an. Sie stürzten nicht auf ihn zu; sie machten eine Gasse für ihn. Keiner kam heran. Keiner sagte etwas. Keiner schrie ihn an. Niemand warf einen Stein nach ihm. Kein Knüppel fiel auf ihn. Sie sahen ihn nur an. Sie bildeten eine Gasse und sahen ihn an, den ganzen, langen Weg bis zum Kleinen Lager. Neubauer hatte anfangs aufgeatmet; dann begann er stärker zu schwitzen. Er murmelte etwas. Er sah nicht auf; aber er fühlte die Augen auf sich. Er spürte sie auf sich wie unzählige Gucklöcher in einer riesigen Gefängnistür – als sei er bereits eingesperrt, und alle Augen beobachteten ihn kalt und aufmerksam. Ihm wurde heißer und heißer. Er ging schneller. Die Augen blieben auf ihm. Sie wurden stärker. Er spürte sie auf seiner Haut. Sie waren Blutegel, die Blut saugten. Er schüttelte sich. Aber er konnte sie nicht abschütteln. Sie kamen durch seine Haut. Sie hingen an seinen Adern.»Ich habe -«, murmelte er.»Pflicht – ich habe nichts – ich war – immer – was wollen die bloß -?«Er war naß, als sie an den Platz kamen, wo Baracke 22 gestanden hatte. Sechs SS-Leute, die eingefangen waren, arbeiteten dort mit einigen Kapos. Amerikanische Soldaten standen mit Tommyguns in der Nähe. Neubauer blieb mit einem Ruck stehen. Er sah eine Anzahl schwarzer Skelette vor sich auf dem Boden.»Was – ist denn das -?«»Stellen Sie sich nicht so dumm«, erwiderte der Korporal grimmig.»Das ist die Baracke, die ihr angezündet habt. Da müssen noch mindestens dreißig Tote drin liegen. Vorwärts, Knochen heraussuchen!«»Das – habe ich nicht befohlen -«»Natürlich nicht.«»Ich war nicht hier – davon weiß ich nichts. Das haben andere eigenmächtig getan -«»Natürlich. Immer andere. Und die, die hier in all den Jahren verreckt sind? Das waren Sie auch nicht, was?«»Das war Befehl. Pflicht -«Der Korporal wendete sich an einen Mann, der neben ihm stand.»Das werden in den nächsten Jahren zwei häufige Worte hier sein: Ich habe auf Befehl gehandelt, und: Ich habe nichts davon gewußt.«Neubauer hörte ihn nicht.»Ich habe immer versucht, das Beste zu tun -«»Das«, sagte der Korporal bitter,»wird das dritte sein! Los!«schrie er plötzlich.»Fassen Sie an! Holen Sie die Toten heraus! Glauben Sie, es ist einfach, Sie nicht zu Brei zu schlagen?«Neubauer bückte sich und begann unsicher in den Trümmern zu wühlen. Man brachte sie in Karren, auf rohen Bahren, gestützt von Kameraden, sich gegenseitig stützend man lagerte sie in den Korridoren der SS-Kaserne, nahm ihnen die verlausten Fetzen ab, mit denen sie noch bekleidet waren, und verbrannte die Lumpen – dann brachte man sie in die Baderäume der SS. Viele begriffen nicht, was man mit ihnen tun wollte; sie saßen und lagen stumpf in den Gängen. Erst als der Dampf aus den geöffneten Türen drang, wurden manche lebendig. Sie begannen zu krächzen und angstvoll zurückzukriechen.»Baden! Baden!«schrieen ihre Gefährten.»Ihr sollt gebadet werden.«Es nützte nichts. Die Skelette verklammerten sich ineinander und wimmerten und schoben sich wie Krabben dem Ausgang zu. Es waren die, die Baden und Dampf nur kannten als Worte für Gaskammern. Man zeigte ihnen Seife und Handtücher; es half nichts. Sie hatten auch das schon gesehen. Man hatte es benützt, um Gefangene leichter in die Gaskammern zu bekommen; mit einem Stück Seife und einem Handtuch in den Händen waren sie verröchelt. Erst als man den ersten Schub gereinigter Insassen an ihnen vorübertrug und diese ihnen mit Nicken und Worten bestätigten, daß es heißes Wasser und Baden sei und kein Gas, beruhigten sie sich.

Der Dampf wirbelte von den gekachelten Wänden. Das warme Wasser war wie warme Hände. Die Gefangenen lagen darin, und die dünnen Arme mit den dicken Gelenken hoben sich und patschten darin herum. Der verkrustete Dreck weichte auf. Die Seife glitt über die verhungerte Haut und löste den Schmutz, und die Wärme drang tiefer als bis in die Knochen. Warmes Wasser -sie hatten vergessen, was das hieß. Sie lagen und fühlten es, und es war für viele zum ersten Maleder Begriff von Freiheit und Erlösung.

Bucher saß neben Lebenthal und Berger. Die Wärme durchflutete sie. Es war ein animalisches Glück. Das Glück der Wiedergeburt, es war das Leben, das aus Wärme geboren war und dem erfrorenen Blut und den verschmachteten Zellen zurückgegeben wurde. Es war pflanzenhaft; eine Wassersonne, die totgeglaubte Keime streichelte und weckte. Mit den Schmutzkrusten der Haut lösten sich Schmutzkrusten der Seele. Sie fühlten Geborgenheit. Geborgenheit im einfachsten: in Wärme. Wie Höhlenmenschen vor dem ersten Feuer.

Man gab ihnen Handtücher. Sie rieben sich trocken und betrachteten mit Staunen ihre Haut. Sie war noch immer fahl und fleckig vom Hunger, aber ihnen erschien sie blütenweiß.

Man gab ihnen saubere Sachen aus dem Depot. Sie fühlten sie an und betrachteten sie, bevor sie sie anzogen. Dann führte man sie in einen anderen Raum. Das Baden hatte sie belebt und gleichzeitig sehr müde gemacht. Sie gingen schläfrig und bereit, an weitere Wunder zu glauben.

Der Raum mit den Betten überraschte sie kaum. Sie sahen auf die Reihen und wollten weitergehen.

»Hier«, sagte der Amerikaner, der sie führte.

Sie starrten ihn an.»Für uns?«

»Ja. Zum Schlafen.«

»Für wie viele?«

Lebenthal zeigte auf das nächste Bett, dann auf sich und Bucher und fragte:»Zwei?«

Dann zeigte er auf Berger und hob drei Finger.»Oder drei?«

Der Amerikaner grinste. Er nahm Lebenthal und schob ihn mit sanfter Gewalt auf das erste Bett; dann Bucher auf das zweite; Berger auf das nächste und Sulzbacher daneben.»So«, sagte er.

»Jeder ein Bett!«

»Mit einer Decke!«

»Ich gebe auf«, erklärte Lebenthal.»Kissen gibt es auch.«

Sie hatten einen Sarg bekommen. Es war eine leichte, schwarze Kiste von normaler Größe; aber sie war zu breit für 509. Man hätte leicht noch jemand dazulegen können. Es war das erstemal in langer Zeit, daß er so viel Platz für sich allein hatte. Man hatte ihm da, wo die Baracke 22 gestanden hatte, ein Grab geschaufelt. Sie fanden, das sei der richtige Platz für ihn. Es war Abend, als sie ihn hinbrachten. Die Mondsichel hing am dunstigen Himmel. Leute aus dem Arbeitslager halfen ihnen, den Sarg hinabzulassen. Sie hatten eine kleine Schaufel. Jeder trat heran und warf etwas Erde hinunter. Ahasver trat zu nahe heran und rutschte hinab. Sie holten ihn wieder herauf. Andere Häftlinge halfen ihnen, das Grab zuzuschaufeln. Sie gingen zurück. Rosen trug die Schaufel, um sie wieder abzugeben. Sie kamen an Baracke 20 vorbei. Ein Toter wurde dort herausgebracht. Zwei SS-Leute trugen ihn durch die Tür. Rosen blieb vor ihnen stehen. Sie wollten um ihn herumgehen. Der Vordere war Niemann, der Abspritzer. Die Amerikaner hatten ihn hinter der Stadt gefangen und zurückgebracht. Er war der Scharführer, vor dem 509 Rosen gerettet hatte. Rosen trat etwas zurück, hob die Schaufel und schlug sie Niemann ins Gesicht. Er hob sie noch einmal, aber der wachhabende amerikanische Soldat war herangekommen und nahm ihm die Schaufel sanft aus den bebenden Händen.»Come, come – we'll take care of that later.«