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Sie sehen die Gebäude, in denen die Leute arbeiten. Das sind für sie Fabriken und Ziele. Da oben ist es hundertmal gefährlicher als hier. Deshalb wollte ich nicht, daß ihr da wohnt. Hier unten sind keine Kasernen und keine Fabriken in der Nähe. Begreifst du das endlich?«»Nein.«

Neubauer starrte seine Frau an. Selma war noch nie so gewesen. Er wußte nicht, was in sie gefahren war. Das bißchen Angst allein konnte es nicht sein. Er fühlte sich plötzlich von seiner Familie verlassen; gerade wenn sie hätten zusammenstehen sollen. Ärgerlich blickte er wieder zu seiner Tochter hinüber.»Und du?«sagte er.»Was meinst du dazu? Warum tust du den Mund nicht auf?«Freya Neubauer stand auf. Sie war zwanzig Jahre alt, dünn, hatte ein gelbliches Gesicht, eine hervorspringende Stirn und glich weder Selma noch ihrem Vater.»Ich glaube, Mutter hat sich beruhigt«, sagte sie.»Was? Wieso?«»Ich glaube, sie hat sich beruhigt.«Neubauer schwieg eine Weile. Er wartete darauf, daß seine Frau etwas sagen sollte.»Na schön«, erklärte er schließlich.»Können wir 'raufgehen?«fragte Freya. Neubauer warf einen mißtrauischen Blick auf Selma. Er traute ihr noch nicht. Er mußte ihr klarmachen, daß sie auf keinen Fall mit irgend jemand reden durfte. Auch nicht mit dem Dienstmädchen. Vor allem nicht mit dem Mädchen. Seine Tochter kam ihm zuvor.»Oben wird es besser sein, Vater. Mehr Luft.«Er stand immer noch unschlüssig. Wie ein Mehlsack liegt sie da, dachte er. Warum sagt sie nicht endlich etwas Vernünftiges?»Ich muß zum Rathaus 'rüber. Um sechs. Dietz hat angerufen, Sachlage soll besprochen werden.«»Es wird nichts passieren, Vater. Alles ist in Ordnung. Wir müssen das Abendessen auch noch fertig machen.«»Also gut.«Neubauer hatte sich entschlossen. Seine Tochter wenigstens hatte den Kopf oben behalten. Er konnte sich auf sie verlassen. Sein Fleisch und Blut. Er näherte sich seiner Frau.»Also gut. Wollen das hier vergessen, Selma, wie? Kann ja mal vorkommen. Spielt schließlich keine Rolle.«Er sah lächelnd, mit kalten Augen, auf sie hinunter.»Was?«wiederholte er. Sie antwortete nicht. Er umfaßte ihre fetten Schultern und tätschelte sie.»Na, dann geht jetzt mal und macht das Abendbrot fertig. Und kocht was Gutes nach dem Schreck, was?«Sie nickte gleichgültig.»So ist es recht.«Neubauer sah, daß es wirklich vorbei war. Seine Tochter hatte recht gehabt. Selma würde keinen Unsinn mehr reden:»Kocht was recht Gutes, Kinder. Schließlich, Selmachen, ich tue es doch euch zuliebe, daß ihr das schöne Haus mit dem sicheren Keller hier habt, anstatt in der Nähe der dreckigen Gaunerbande da oben zu leben. Und ich schlafe doch auch jede Woche ein paar Nächte hier unten. Geht alles in einen Topf. Wir müssen zusammenhalten. Also, macht was Leckeres zum Abendbrot. Ich verlasse mich da auf euch. Und holt auch eine Pulle von dem französischen Sekt 'rauf, verstanden? Wir haben ja noch genug davon, wie?«»Ja«, erwiderte seine Frau.»Davon haben wir noch genug.«

»Nun noch eins«, erklärte Gruppenführer Dietz schneidig.»Es ist mir zu Ohren gekommen, daß einige Herren die Absicht geäußert haben, ihre Familien aufs Land zu schicken. Ist irgend etwas daran?«Niemand antwortete.»Ich kann das nicht zulassen. Wir Offiziere der SS müssen vorbildlich sein. Wenn wir unsere Familien aus der Stadt fortschicken, bevor ein allgemeiner Befehl zum Räumen erteilt wird, so kann das falsch aufgefaßt werden. Meckerer und Miesmacher würden sich dessen sofort bemächtigen. Ich erwarte deshalb, daß nichts dergleichen getan wird ohne mein Wissen.«Er stand schlank und groß in seiner elegant geschnittenen Uniform vor der Gruppe und sah sie an. Jeder einzelne in der Gruppe blickte entschlossen und unschuldig drein. Fast alle hatten daran gedacht, ihre Familien fortzuschicken; aber keiner verriet es mit einem Blick. Jeder dachte das gleiche: Dietz hatte leicht reden. Er besaß keine Familie in der Stadt, Er kam aus Sachsen und hatte nur den Ehrgeiz, auszusehen wie ein preußischer Gardeoffizier. Das war einfach. Was einen nicht berührte, konnte man immer mit großem Mut durchführen.

»Das ist alles, meine Herren«, sagte Dietz.»Erinnern Sie sich noch einmaclass="underline" unsere neuesten geheimen Waffen sind bereits in Massenproduktion. Die V-1-Bomben sind nichts dagegen, so wirksam sie auch sind. London liegt in Asche. England wird ständig beschossen. Wir halten die Haupthäfen Frankreichs besetzt. Die Invasionsarmee hat die größten Schwierigkeiten mit dem Nachschub. Der Gegenstoß wird die Feinde ins Meer fegen. Er ist in unmittelbarer Vorbereitung. Wir haben gewaltige Reserven angehäuft. Und unsere neuen Waffen – ich darf nichts weiter darüber sagen -, aber ich habe es von höchster Stelle: Der Sieg ist unser in drei Monaten. Die müssen wir noch durchhalten.«Er streckte den Arm aus.»An die Arbeit! Heil Hitler!«»Heil Hitler!«donnerte die Gruppe.

Neubauer verließ das Rathaus. Von Rußland hat er nichts gesagt, dachte er. Vom Rhein auch nicht. Vom durchbrochenen Westwall schon gar nichts. Durchhalten – das ist leicht für ihn. Er besitzt nichts. Er ist ein Fanatiker. Er hat kein Geschäftshaus in der Nähe des Bahnhofs wie ich. Er ist nicht beteiligt an der Mellener Zeitung. Er hat nicht einmal Grund und Boden. Ich habe das alles. Wenn es in die Luft fliegt – wer gibt mir was dafür? Plötzlich waren Menschen auf der Straße. Der Platz vor dem Rathaus war gedrängt voll. Auf der Freitreppe wurde ein Mikrofon montiert. Dietz sollte reden. Von der Fassade starrten die steinernen Gesichter Karls des Großen und Heinrichs des Löwen unbewegt lächelnd herunter. Neubauer stieg in den Mercedes.»Zur Hermann-Göring-Straße, Alfred.«Das Geschäftshaus Neubauers lag an der Ecke der Hermann-Göring-Straße und der Friedrichsallee. Es war ein großer Bau mit einem Modegeschäft im unteren Stock. Die beiden oberen Stockwerke bestanden aus Büros. Neubauer ließ halten und ging um das Haus herum. Zwei Schaufensterscheiben waren gesprungen; sonst war nichts beschädigt. Er blickte zu den Büros hinauf. Sie lagen im Nebel des Qualms vom Bahnhof; aber nichts brannte. Ein paar Scheiben konnten auch da geplatzt sein; doch das war alles. Er stand eine Weile. Zweihunderttausend Mark, dachte er. Das war es mindestens wert, wenn nicht mehr. Er hatte fünftausend dafür bezahlt. Es hatte 1933 dem Juden Josef Blank gehört. Der hatte hunderttausend verlangt und gezetert, er verliere genug daran und wolle es nicht billiger geben. Nach vierzehn Tagen im Konzentrationslager hatte er es für fünftausend Mark verkauft. Ich bin anständig gewesen, dachte Neubauer. Ich hätte es umsonst haben können. Blank hätte es mir geschenkt, nachdem die SS ihren Spaß mit ihm gehabt hatte. Ich habe ihm fünftausend Mark gegeben. Gutes Geld. Natürlich nicht sofort; damals hatte ich noch nicht so viel. Aber ich habe es bezahlt, nachdem die ersten Mieten einkamen. Blank war auch damit einverstanden gewesen. Ein legaler Verkauf. Freiwillig. Notariell beglaubigt. Daß Josef Blank unglücklich im Lager gefallen war, ein Auge verloren, einen Arm gebrochen und sich sonst noch verletzt hatte, war ein bedauerlicher Zufall gewesen. Leute mit Plattfüßen fielen leicht. Neubauer hatte es nicht befohlen. Er war auch nicht dabei gewesen. Er hatte Blank nur in Schutzhaft nehmen lassen, damit übereifrige SS-Leute ihm nichts zuleide taten. Das andere ging auf Kappe des Lagerführers Weber. Er drehte sich um. Wozu dachte er plötzlich an diesen alten Kram? Was war los mit ihm? Das war doch alles längst vergessen. Man mußte leben. Hätte er das Haus nicht gekauft, dann hätte es jemand anderes von der Partei getan. Für weniger Geld. Für gar nichts. Er hatte legal gehandelt. Nach dem Gesetz. Der Führer hatte selbst gesagt, daß seine Getreuen belohnt werden mußten. Und was war das bißchen, das er, Bruno Neubauer, erwischt hatte, gegen die Großen? Göring, zum Beispiel, oder Springer, den Gauleiter, der vorn Hotelportier zum Millionär aufgestiegen war? Neubauer hatte nichts geraubt. Er hatte nur billig gekauft. Er war gedeckt. Er hatte Quittungen. Alles war amtlich beglaubigt. Eine Flamme schoß vom Bahnhof auf. Explosionen folgten. Munitionswagen wahrscheinlich. Rote Reflexe flatterten über das Haus – als schwitze es plötzlich Blut. Unsinn, dachte Neubauer. Ich bin tatsächlich nervös. Die jüdischen Anwälte, die man damals da oben herausgeholt hat, sind doch längst vergessen! Er stieg wieder in den Wagen. Zu dicht am Bahnhof – glänzende Geschäftslage, aber verdammt gefährlich für Bombardements; da konnte man schon nervös werden.»Zur Großen Straße, Alfred!«Das Gebäude der Mellener Zeitung war völlig unbeschädigt. Neubauer hatte das bereits telefonisch erfahren. Man brachte gerade ein Extrablatt heraus. Die Nummern wurden den Trägern aus den Händen gerissen. Neubauer sah die weißen Packs verschwinden. Ein Pfennig an jedem Stück gehörte ihm. Neue Träger kamen mit neuen Packs. Sie sausten auf ihren Fahrrädern davon. Extrablätter waren Extraverdienst. Jeder Träger hatte mindestens zweihundert bei sich. Neubauer zählte siebzehn Träger. Das waren vierunddreißig Mark extra. Wenigstens etwas Gutes bei der Sache. Er konnte einen Teil der gesprungenen Schaufenster damit bezahlen. Unsinn – die waren ja versichert. Das hieß, wenn die Versicherung zahlte. Zahlen konnte, bei all den Schäden. Sie würde zahlen! Wenigstens ihm. Die vierunddreißig Mark waren Reinverdienst. Er kaufte eines der Extrablätter. Ein kurzer Aufruf von Dietz war bereits darin. Schnelle Arbeit. Dazu die Meldung, daß zwei Flieger über der Stadt, die Hälfte der anderen über Minden, Osnabrück und Hannover abgeschossen worden seien. Ein Artikel von Goebbels über die unmenschliche Barbarei, friedliche Städte zu bombardieren. Ein paar Kernworte des Führers. Die Nachricht, daß die Hitlerjugend auf der Suche sei nach Fliegern, die mit Fallschirmen abgesprungen waren. Neubauer warf das Blatt fort und trat in den Zigarrenladen an der Ecke.»Drei Deutsche Wacht«, sagte er. Der Verkäufer präsentierte die Kiste. Neubauer wählte gleichgültig. Die Zigarren waren schlecht. Reines Buchenlaub. Er hatte bessere zu Hause, Importen, aus Paris und Holland. Er verlangte die Deutsche Wacht nur, weil der Laden ihm gehörte. Vor der Machtergreifung hatte er Lesser und Sacht gehört, einer jüdischen Ausbeuterfirma. Sturmführer Freiberg hatte ihn dann geschnappt. Hatte ihn gehabt bis 1936. Eine Goldgrube. Neubauer biß die Spitze einer Deutschen Wacht ab. Was hatte er dagegen tun können, daß Freiberg im Suff verräterische Bemerkungen gegen den Führer gemacht hatte? Es war seine Pflicht als aufrechter Parteigenosse gewesen, sie zur Meldung zu bringen. Freiberg war kurz darauf verschwunden, und Neubauer hatte von der Witwe das Geschäft gekauft. Als einen Freundschaftsdienst. Er hatte ihr dringend geraten, zu verkaufen. Er habe Informationen, daß Freibergs Besitz beschlagnahmt werden solle. Geld sei einfacher zu verstecken als ein Laden. Sie war dankbar gewesen. Hatte verkauft. Für ein Viertel des Wertes natürlich. Neubauer hatte erklärt, er habe nicht mehr flüssig, und es müsse rasch geschehen. Sie hatte es eingesehen. Die Beschlagnahme war nie gekommen. Neubauer hatte ihr auch das auseinandergesetzt. Er habe seinen Einfluß für sie geltend gemacht. So konnte sie das Geld behalten. Er hatte anständig gehandelt. Pflicht war Pflicht – und der Laden hätte wirklich beschlagnahmt werden können. Außerdem wäre die Witwe unfähig gewesen, ihn zu verwalten. Man hätte sie herausgedrückt für weniger Geld. Neubauer nahm die Zigarre aus dem Munde. Sie zog nicht. Dreckzeug. Aber die Leute zahlten dafür. Waren wild auf alles, was qualmte. Schade, daß e» rationiert war. Man hätte das Zehnfache umsetzen können. Er sah den Laden noch einmal an. Glück gehabt. Nichts passiert. Er spuckte aus. Er hatte plötzlich einen schlechten Geschmack im Munde. Es mußte die Zigarre sein. Oder was sonst? Es war ja nichts passiert. Nervosität? Wozu dachte er nur auf einmal an all die alten Geschichten?