Ich fragte mich, ob sie verstanden, daß eine solche Tat eines wirklich freien Menschen unwürdig war und daß die Männer, die in dieser windigen, kalten Nacht gesiegt hatten, die in der Dunkelheit der Tunnel und Schächte wie Larls gekämpft hatten, die nicht an die eigene Sicherheit, sondern an die Freiheit ihrer Mitgefangenen gedacht hatten — daß diese Männer wirklich frei waren.
Ich sprang auf die Kettenwinde und hob die Arme. Die Schwärze des Zentralschachtes gähnte unter mir.
Stille trat ein.
»Männer von Tharna«, rief ich, »und aus den anderen goreanischen Städten! Ihr seid frei!«
Ein großer Jubelschrei begrüßte diese Ankündigung.
»Die Nachricht von unseren Taten wird schon zum Palast der Tatrix getragen«, fuhr ich fort.
»Soll sie doch zittern!« rief Kron aus Tharna mit grollender Stimme. »Überlege doch, Kron aus Tharna«, rief ich zurück, »bald werden die Tarnkämpfer von den Mauern Tharnas aufsteigen, und die Infanterie wird sich gegen uns stellen.«
Besorgtes Murmeln wurde in den Reihen laut.
»Sprich, Tarl aus Ko-ro-ba«, sagte Kron und gebrauchte den Namen meiner Stadt wie jeden anderen Stadtnamen.
»Wir haben weder die Waffen noch die Ausbildung noch die Tiere, um uns gegen die tharnaischen Soldaten durchzusetzen«, sagte ich. »Wir würden vernichtet, zertreten wie Ratten. Deshalb müssen wir uns in die Wälder und Berge zurückziehen, müssen uns in kleine und kleinste Gruppen aufteilen. Wir müssen von den Früchten des Landes leben. Alle Soldaten und Gardisten Tharnas werden uns suchen, alle verfügbaren Kräfte werden zu unserer Verfolgung abkommandiert! Man wird uns verfolgen. Lanzenreiter auf den großen Tharlarions werden uns aufspießen. Die Pfeile der fliegenden Tarnkämpfer werden uns treffen!« »Aber wir werden in Freiheit sterben!« rief Andreas aus Tor, und sein Schrei wurde von unzähligen Stimmen aufgenommen.
»Und das muß für andere ebenso gelten!« rief ich. »Ihr müßt euch bei Tag verstecken und wahrend der Nacht weiterziehen. Ihr müßt euren Verfolgern ausweichen. Ihr müßt die Freiheit zu den anderen tragen!« »Verlangst du von uns, daß wir Krieger werden?« rief eine Stimme. »Ja!« schrie ich, und solche Worte waren auf Gor noch nie gesprochen worden. »In dieser Sache müßt ihr Krieger werden, ob ihr nun aus der Kaste der Bauern oder Dichter oder Metallarbeiter oder Sattelmacher stammt, Krieger!«
»Das werden wir!« sagte Kron aus Tharna und schwang den gewaldigen Hammer, mit dem er unsere Handfesseln abgeschlagen hatte. »Ist dies der Wille der Priesterkönige?« fragte eine Stimme. »Wenn es der Wille der Priesterkönige ist«, sagte ich, »soll es geschehen!« Und dann hob ich wieder die Hände. Ich stand auf der großen Winde über dem Schacht, vom Wind umzaust, die Monde Gors standen über mir, und ich rief: »Und wenn es nicht der Wille der Priesterkönige ist, soll es trotzdem geschehen!«
»Es soll geschehen«, sagte die Stimme Krons.
»Es soll geschehen«, sagten die Männer. zuerst nur vereinzelt, dann gemeinsam und schließlich im Chor, im mächtigen Rhythmus, und ich wußte, daß sich auf dieser Welt noch niemand so geäußert hatte. Und es wollte mir seltsam erscheinen, daß diese Rebellion, dieser Wille, das nach der eigenen Auffassung Rechte zu tun, ungeachtet des Willens der Priesterkönige, nicht von den stolzen Kriegern Gors ausging, auch nicht von den Schriftgelehrten oder Hausbauern oder Ärzten oder sonstigen hohen Kasten in den zahlreichen goreanischen Städten, sondern hier von den niedrigsten und verachtetsten Männern dieser Welt, den elenden Sklaven aus den Bergwerken von Tharna.
Ich blieb stehen und sah dem Abzug der Sklaven zu. Stumm wie Schatten wanderten sie davon, ihrem Leben als Geächtete entgegen, ihrem Geschick außerhalb jeglicher Gesetze und Traditionen ihrer Heimatstädte.
Der goreanische Abschiedsgruß kam mir in den Sinn: »Ich wünsche dir alles Gute.«
Kron blieb am Schacht stehen. Ich ging auf der Querstrebe der Winde entlang und sprang neben ihm zu Boden.
Der stämmige Mann stand mit gespreizten Beinen in der Dunkelheit. Er hielt den mächtigen Hammer wie eine Lanze. Ich sah, daß sein Haar lang und verfilzt war, und seine stahlblauen Augen schienen weicher, als ich sie in Erinnerung hatte.
»Ich wünsche dir alle Gute, Tarl aus Ko-ro-ba«, sagte er.
»Ich dir auch, Kron aus Tharna«, erwiderte ich.
»Wir gehören derselben Kette an«, sagte er.
»Ja.«
Dann wandte er sich ab und verschwand mit schnellen Schritten zwischen den Schatten.
Nun stand nur noch Andreas aus Tor an meiner Seite.
Er strich sich die gewaltige Haarmähne aus der Stirn und grinste mich an. »Nun«, sagte er, »ich habe die Bergwerke Tharnas ausprobiert, jetzt werd ich’s wohl mal in den großen Anbaugebieten versuchen.«
»Viel Glück«, sagte ich.
Ich hoffte wirklich, daß er sein Mädchen finden würde, Linna aus Tharna. »Und was hast du vor?« fragte Andreas leichthin.
»Ich habe mit den Priesterkönigen abzurechnen«, sagte ich.
»Ah!« entgegnete Andreas und schwieg.
Wir sahen uns an.
»Ich begleite dich«, sagte er schließlich.
Ich lächelte. Andreas wußte so gut wie ich, daß es aus dem Sardargebirge keine Rückkehr gab.
»Nein«, sagte ich. »Ich glaube nicht, daß du in den Bergen viele Lieder finden wurdest.«
»Ein Dichter«, erwiderte er, »sucht seine Lieder überall.«
»Es tut mir leid, aber ich kann es nicht zulassen, daß du mich begleitest.«
Andreas legte mir die Hände auf die Schultern. »Hör zu, du einfältiger Krieger. Meine Freunde sind mir wichtiger als meine Lieder.« Ich versuchte ihm scherzhaft zu antworten, gab mich skeptisch. »Gehörst du wirklich der Kaste der Dichter an?«
»Niemals mehr als in diesem Augenblick«, sagte Andreas, »denn wie könnten mir meine Lieder wichtiger sein als Dinge, die darin besungen werden?«
Ich war glücklich über diese Worte, denn ich wußte, daß der junge Andreas seinen Arm oder Jahre seines Lebens für ein richtiges Lied gegeben hätte.
»Linna braucht dich«, sagte ich. »Du mußt sie suchen.«
Unentschlossen stand Andreas aus der Kaste der Dichter vor mir. Gequält blickte er mich an.
»Ich wünsche dir alles Gute«, sagte ich, »... Dichter.«
Er nickte. »Ich wünsche dir alles Gute — Krieger.«
Vielleicht wunderten wir uns beide, daß zwischen Angehörigen derart verschiedener Kasten Freundschaftsbande bestehen konnten, aber vielleicht wußten wir auch, ohne es auszusprechen, daß in den Herzen der Männer Waffen und Lieder nie weit voneinander entfernt sind. Andreas hatte sich zum Gehen gewandt, doch nun zögerte er und sagte: »Die Priesterkönige erwarten dich.« »Natürlich«, sagte ich.
Andreas hob die Hand. »Tal«, sagte er traurig.
Ich wunderte mich. »Tal« ist auf Gor ein Wort der Begrüßung. »Tal«, sagte auch ich und hob den Arm.
Vielleicht wollte er mich noch einmal willkommen heißen, vielleicht glaubte er, daß er keine Gelegenheit mehr dazu haben würde.
Andreas hatte sich umgedreht und war verschwunden.
Ich mußte meine Reise zum Sardargebirge beginnen.
Wie Andreas gesagt hatte — ich wurde erwartet. Ich wußte, daß auf Gor wenig geschah, was nicht im Sardargebirge bekannt war. Die Macht und das Wissen der Priesterkönige überstieg das Verständnis der gewöhnlichen Sterblichen dieser Welt, der Menschen im Schatten der Berge, wie gesagt wurde.
Es heißt, daß wir so weit über den Amöben stehen, wie die Priesterkönige uns voraus sind, daß die höchsten und fortschrittlichsten Geistesflüge, derer wir fähig sind, im Vergleich zu den Gedankengängen der Priesterkönige nur wie die chemische Reaktion eines einzelligen Organismus erscheinen. Ich stellte mir ein solches Wesen vor, das mit seinen Pseudopodien blindlings nach einem Nahrungsbrocken langte, ein Organismus, der in seiner Welt zufrieden lebte — ein Nichts in den Augen eines höhergestellten Wesens.