Es gibt jedoch einige Faktoren, die die Situation nicht gar so hoffnungslos erscheinen lassen. Zum Beispiel die Märkte am Fuße des Sardargebirges, die viermal im Jahr stattfinden und fortlaufend numeriert werden. Ein zweiter Umstand besteht darin, daß manche Städte bereit sind, in ihren Unterlagen neben ihren eigenen Daten die Zeitmessung Ars anzugeben, die die größte Stadt auf Gor ist.
Dort wird die Zeit nicht nach der Folge ihrer Administratoren gemessen, sondern von der mythischen Gründung durch den ersten Menschen auf Gor, einem Helden, den die Priesterkönige nach allgemeinem Glauben aus dem Schlamm der Erde und dem Blut von Tarns geformt haben. Die Zeit wird›Contaste Ar‹ oder›seit der Gründung Ars‹ gerechnet. Das laufende Jahr ist nach dem Kalender Ars das Jahr 10.117. Ich vermute allerdings, daß Ar nicht einmal ein Drittel dieses Alters erreicht hat. Sein Heimstein jedoch, den ich gesehen habe, zeugt von einem beträchtlichen Alter.
Etwa vier Tage war ich mit meinem Tarn unterwegs, als wir in der Ferne das Sardargebirge ausmachten. Wäre ich im Besitz eines goreanischen Kompasses gewesen, hatte seine Nadel ständig auf dieses Gebirge gezeigt, eine Erinnerung an die Gegenwart der Priesterkönige. Vor dem Gebirge, ein erregendes Panorama aus bunter Seide und Flaggen, sah ich die Zelte des Marktes von En’Kara, des Marktes der ersten Sonnenwende.
Ich zog den Tarn am Himmel herum, da ich noch näher heran wollte. Ich betrachtete die Berge, die ich nun zum erstenmal aus größerer Nähe sah, und eine seltsame Kälte drang mir in die Knochen, die nicht von den kühlen Winden kam, die hier oben herrschten.
Das Sardargebirge war nicht so hoch und zerklüftet wie die roten Spitzen der Voltai-Berge, jene unzugängliche Einöde, wo ich einmal Gefangener des Geächteten Ubar Marlenus aus Ar gewesen war, des ehrgeizigen und kampfgewohnten Vaters meiner schönen Talena, die ich liebte und die ich vor vielen Jahren auf dem Rücken meines Tarn nach Ko-ro-ba gebracht hatte, wo sie meine Freie Gefährtin wurde. Nein, das Sardargebirge bot sich nicht als atemberaubende natürliche Wildnis dar. Seine Gipfel erhoben sich nicht verächtlich über die Ebenen, versuchten nicht den Himmel zu berühren und des Nachts den Sternen zu trotzen. Hier war der Schrei von Tarns und das Grollen von Larls nicht zu Hören. An Größe und Glanz war es den Voltai-Bergen unterlegen, doch als ich es jetzt anschaute, schlich sich Angst in mein Herz. Ich lenkte den Tarn näher heran.
Die Berge vor mir waren schwarz — bis auf die hohen Gipfel und Pässe, auf denen weißschimmernder Schnee zu sehen war. Ich suchte in den niederen Regionen nach grüner Vegetation, doch ich fand nichts. Das Sardargebirge war völlig kahl.
Von den felsigen Hängen schien eine seltsame Drohung, ein unbestimmter Angsthauch auszugehen. Ich lenkte den Tarn in die Höhe, so hoch, daß seine Flügel schon mühsam die dünne Luft zu peitschen begannen, doch ich vermochte in den Tälern und an den Hängen nichts zu entdecken, was mir auf eine Unterkunft der Priesterkönige hinzudeuten schien.
Plötzlich erfüllte mich ein unheimlicher Verdacht; ich fragte mich, ob das Sardargebirge vielleicht leer war, ob es dort vielleicht nur Wind und Schnee gab, ob die Menschen etwa ahnungslos ein Nichts anbeteten. Wie stand es mit den unendlichen Gebeten der Wissenden, den Opfern, den Ritualen, den unzähligen Schreinen, Altaren und Tempeln, die den Priesterkönigen geweiht waren? War es denkbar, daß der Rauch der Opfer, der Duft des Weihrauchs, das Murmeln der Wissenden, ihre Kniefälle und Unterwerfungen nur den leeren Gipfeln dieses Gebirges galten, dem Schnee und der Kälte und dem Wind, der zwischen den schwarzen Klippen heulte?
Plötzlich kreischte der Tarn auf und erschauerte in der Luft. Und schon war der Gedanke an die Leere des Sardargebirges wie fortgelassen, denn jetzt hatte ich eine Spur der Priesterkönige! Es war fast, als bebte der Vogel im Griff einer unsichtbaren Faust! Ich spürte nichts.
In den Augen des Vogels zeigte sich Entsetzen, eine Regung, die ich noch nie bei ihm erlebt hatte und die mir ganz unglaublich erschien. Zu sehen war nichts.
Widerwillig, protestierend, kreischend — so taumelte der Vogel hilflos hin und her, verlor an Hohe. Seine mächtigen Flügel peitschten sinnlos auf und ab, unkoordiniert, wie die Glieder eines Ertrinkenden. Es hatte den Anschein, als weigerte sich die Luft, sein Gewicht länger zu tragen. In trunkenen Kreisen, verwirrt, hilflos schreiend, fiel der Vogel weiter ab, wahrend ich mich verzweifelt an seinen Halsfedern festkrallte und mein Gleichgewicht zu halten versuchte.
Als wir eine Höhe von hundert Metern erreichten, war das seltsame Schauspiel so plötzlich vorbei, wie es gekommen war. Der Vogel gewann an Höhe und Kraft, gewann seine alte Energie zurück, doch er war seltsam erregt und ließ sich fast nicht mehr lenken.
Zu meiner Verblüffung begann er wieder anzusteigen, entschlossen, in der alten Höhe weiterzufliegen.
Immer wieder versuchte er an Höhe zu gewinnen, und immer wieder wurde er hinabgezwungen.
Durch das Gefieder spürte ich die Anspannung seiner Rückenmuskeln, spürte das erregte Schlagen des starken Herzens. Doch jedesmal, wenn wir eine bestimmte Höhe erreichten, verloren die Augen des Tarn ihren Glanz, und die Balance und die Flugtauglichkeit des Tieres gingen verloren. Nun war es nicht mehr ängstlich, sondern nur noch wütend. Und wieder versuchte es anzusteigen, schneller und wilder als zuvor. Hastig rief ich: »Vierter Zügel!« Ich befürchtete, das sich das mutige Tier eher umbringen würde, als der unsichtbaren Kraft nachzugeben, die seinen Weg versperrte.
Unwillig landete der Vogel auf der Grasebene, etwa zwei Kilometer von dem En’Kara-Markt entfernt. Ich glaubte einen tadelnden Blick der großen Tarnaugen wahrzunehmen. Warum sprang ich nicht wieder auf seinen Rücken und gab den Startbefehl? Warum versuchten wir es nicht noch einmal?
Ich tätschelte ihm den Schnabel und kratzte einige Läuse zwischen seinen Halsfedern hervor und strich sie ihm auf die Zunge. Der Tarn sträubte noch einige Sekunden lang ungeduldig die Federn, doch dann erlag er widerwillig der Delikatesse, und die Parasiten verschwanden in seinem gebogenen Schnabel.
Was mir eben widerfahren war, mußte dem ungeübten goreanischen Gehirn, besonders den Menschen niedriger Kasten, als Beweis für übernatürliche Kräfte, für den magischen Willen der Priesterkönige erscheinen. Ich selbst neigte nicht zu solchen Hypothesen.
Der Tarn war in eine Art Abwehrfeld geraten, das wahrscheinlich auf seine Ohren einwirkte und den Verlust des Gleichgewichtssinns zur Folge hatte. Eine Ähnliche Vorrichtung verhinderte vielleicht auch das Eindringen von Reittharlarions. Gegen meinen Willen mußte ich die Priesterkönige bewundern. Ich wußte nun, das die Berichte stimmten, die ich gehört hatte — daß alle, die das Sardargebirge betraten, zu Fuß kommen mußten.
Ich bedauerte es, den Tarn verlassen zu müssen, doch er konnte mich nicht begleiten.
Ich redete etwa eine Stunde auf ihn ein und versetzte ihm schließlich einen leichten Schlag gegen den Schnabel. Dann schob ich den Vogel von mir. Ich deutete über die Ebene, von den Bergen fort. »Tabuk!« sagte ich.
Das Tier rührte sich nicht.
Es war absurd, aber ich hatte das Gefühl, daß der Vogel glaubte, er habe mich enttäuscht, als er mich nicht in die Berge trug. Vielleicht ahnte er auch, daß ich nicht hier auf ihn warten würde, wenn er von der Jagd zurückkehrte.
Der große Kopf bewegte sich fragend hin und her, streckte sich vor und strich mir am Bein entlang.