Unterwürfig hielt sie mir die Schnüre hin, und ihre Augen glitzerten im Lampenschein, schienen zu locken, zu fordern.
»Ich bin nicht aus Tharna«, sagte ich.
»Aber ich.«
Ich sah, daß sie auf einem roten Teppich kniete.
»Ich will dich freigeben«, sagte ich.
»Noch bin ich nicht frei«, sagte sie.
Ich schwieg.
»Bitte ... Herr.«
Und dann nahm ich die Schnüre aus ihren Händen entgegen — und nach den alten Riten ihrer Stadt wurde Lara, einst die stolze Tatrix von Tharna, mein Sklavenmädchen — und eine freie Frau.
23
Vor dem Lager Targos stiegen Lara und ich auf einen kleinen Hügel und sahen uns um. Vor mir erblickte ich in einigen Pasang Entfernung die Pavillons und Zelte des En’Kara-Marktes und dahinter die hochaufragenden Felszacken des Sardargebirges, düster, schwarz, drohend. Hinter den bunten Lichtern des Marktes machte ich den Holzzaun aus, aus angespitzten Pfählen errichtet, der den Markt von den Bergen trennt.
Männer, die in die Berge vordringen wollten, Männer, die des Lebens überdrüssig waren, junge Idealisten, die dem Geheimnis der Unsterblichkeit auf die Spur kommen wollten, das in den Tälern des Gebirges verborgen liegen sollte — sie alle benutzten das Tor am Ende der Hauptstraße des Marktes, ein Doppeltor aus schwarzen Balken an gewaltigen Holzscharnieren, ein Tor, das auf seiner Mitte herumschwang und den Blick auf das düstere Sardargebirge freigab.
Lara stand neben mir. Sie trug die Kleidung einer freien Frau, allerdings nicht das Gewand der Verhüllung. Sie hatte eines der schönen goreanischen Kleider verkürzt und enger gemacht, so daß der Rock über ihren Knien endete; außerdem hatte sie die Ärmel abgeschnitten, die nun nur noch bis zu den Ellenbogen reichten. Das Kleid war hellgelb, und sie hielt es mit einem roten Gürtel zu-sammen. Ihre Füße steckten in einfachen roten Ledersandalen. Um ihre Schultern trug sie auf meine Anregung einen schweren Wollumhang. Er war rot. Ich hatte gemeint, daß ihr die Warme vielleicht willkommen sei. Sie hatte mehr daran gedacht, daß die Wolle gut zu ihrem Gürtel paßte. Ich lächelte. Sie war frei.
Und ich freute mich, daß sie offenbar glücklich war. Sie hatte das übliche Gewand der Verhüllung abgelegt. Sie behauptete, in diesem Aufzug werde sie ein zu großes Hemmnis für mich sein. Ich hatte dem nicht widersprochen, denn es stimmte. Während ich ihr blondes Haar betrachtete, das im Winde flatterte, während ich ihr fröhliches Gesicht musterte, ihre Schönheit in mich aufnahm, war ich froh, daß sie auf die traditionelle Kleidung verzichtet hatte.
Doch trotz meiner Bewunderung für das Mädchen und die Wandlung, die mit ihm vorgegangen war — von der kühlen Tatrix zur erniedrigten Sklavin zu dem herrlichen Geschöpf, das nun neben mir stand —, weilten meine Gedanken längst im Sardargebirge, denn mich quälte der Gedanke, daß ich meine Verabredung mit den Priesterkönigen noch nicht eingehalten hatte.
Ich lauschte auf den herüberhallenden, dumpfen Ton der Torglocke. »Da ist jemand in die Berge gegangen«, sagte Lara.
»Ja.«
»Er wird umkommen.«
Ich nickte.
Ich hatte ihr von meinen Planen erzählt, hatte ihr gesagt, daß ich in die Berge ziehen und dort mein Schicksal suchen wollte. Sie hatte einfach gesagt: »Ich begleite dich!«
Sie wußte ebensogut wie ich, daß aus diesen Bergen niemand zurückkehrte. Besser noch als ich kannte sie die angsteinflößende Macht der Priesterkönige.
Und doch wollte sie mich begleiten.
»Du bist frei«, hatte ich gesagt.
»Als ich deine Sklavin war«, hatte sie geantwortet, »hättest du mir befehlen können, dir zu folgen. Nachdem ich nun frei bin, werde ich dich aus freier Entscheidung begleiten.«
Ich musterte das Mädchen. Stolz stand sie neben mir. Ich sah, daß sie eine Talenderblüte gepflückt und sich ins Haar gesteckt hatte. Ich schüttelte den Kopf.
Obwohl mich mein Wille in das Sardargebirge schickte, obwohl die Berge der Priesterkönige auf mich warteten, konnte ich diese Reise noch nicht antreten. Es war undenkbar, daß ich das Mädchen mit in die Berge nahm, daß sie das Schicksal teilte, das mir drohte, daß ich ihr junges Leben opferte, sie, die erst vor kurzem die Freuden der Sinne kennengelernt hatte.
Was konnte ich gegen sie ins Spiel bringen — meine Ehre, meinen Rachedurst, meine Neugier, meine Frustration, meine Wut?
Ich legte den Arm um sie und führte sie davon.
Sie sah mich fragend an.
»Die Priesterkönige müssen warten«, sagte ich.
»Was hast du vor?«
»Ich werde dich zurück auf den tharnaischen Thron begleiten.« Sie fuhr zusammen, und in ihren Augen standen Tränen.
Ich zog sie an mich und küsste sie zärtlich.
Sie schaute mich groß an.
»Ja«, sagte ich, »das ist mein Wunsch.«
Sie legte den Kopf an meine Schulter.
»Schöne Lara«, sagte ich, »vergib mir. Ich kann dich nicht mitnehmen. Ich kann dich auch nicht hier zurücklassen. Du würdest entweder von wilden Tieren angefallen oder wieder in die Sklaverei entführt.« »Mußt du mich denn nach Tharna bringen?« fragte sie. »Ich hasse Tharna!«
»Ich habe keine Stadt, in der ich dich unterbringen könnte«, sagte ich. »Und ich glaube, das du Tharna zu einer Stadt machen könntest, die du nicht mehr zu hassen brauchst.«
»Was soll ich tun?« fragte sie.
»Das mußt du selbst entscheiden.«
Ich küsste sie.
Ich nahm ihren Kopf in die Hände und schaute in ihre Augen.
»Ja«, sagte ich stolz, »du wirst es schaffen.«
Ich wischte ihr die Tränen aus den Augen.
»Keine Tränen mehr — denn du bist die Tatrix von Tharna.«
Sie blickte auf und lächelte mich traurig an. »Natürlich darf es keine Tränen mehr geben, Krieger — denn ich bin die Tatrix von Tharna, und eine Tatrix weint nicht.«
Sie zog die Talenderblüte aus ihrem Haar.
»Ich liebe dich«, sagte sie.
»Es ist nicht leicht, die Erste Frau Tharnas zu sein«, sagte ich und führte sie den Hügel hinab, vom Sardargebirge fort.
Das Feuer, das sich in den Bergwerken Tharnas entzündet hatte, war noch nicht wieder gelöscht worden. Die Revolte der Sklaven hatte sich bis in die großen Anbaugebiete fortgepflanzt. Die Sklaven hatten sich der Fesseln entledigt und zu den Waffen gegriffen. Wütende Männer, mit allen möglichen Waffen versehen, durchstreiften das Land, gingen Tharnas Soldaten aus dem Wege und raubten Kornspeicher aus, zündeten Gebäude an und befreiten weitere Sklaven. Von Hof zu Hof drang die Rebellion vor, und die Lieferungen aus den Anbaugebieten in die Stadt wurden immer spärlicher und hörten schließlich ganz auf. Was die Sklaven nicht selbst verbrauchen oder verstecken konnten, wurde abgemäht oder verbrannt.
Kaum zwei Stunden von dem Hügel entfernt, auf dem ich den Entschluß faßte, Lara wieder in ihre Stadt zu bringen, hatte uns der Tarn gefunden, wie ich gehofft hatte. Wie bei der Verhandlungssäule hatte sich der Vogel in der Gegend herumgetrieben und sah nun seine Geduld belohnt. Er landete fünfzig Meter von uns entfernt, und wir rannten zu ihm, Lara folgte mir in einigem Abstand; sie hatte noch immer Angst vor dem Tier. Ich freute mich so sehr, daß ich dem schwarzen Ungeheuer die Arme um den Hals warf.
Seine runden, blitzenden Augen musterten mich, die gewaltigen Flügel wurden geschüttelt, der Schnabel hob sich in den Himmel, und der schrille Tarnschrei ertönte.
Lara fuhr entsetzt zurück, als das Riesentier mit dem Schnabel nach mir schnappte.
Ich bewegte mich nicht, und die scharfen Hornkanten schlossen sich liebevoll um meinen Arm. Mit einer einzigen Kopfbewegung hatte er mir das Glied vom Körper reißen Können, doch so hatte seine Geste fast etwas Zärtliches. Ich klatschte ihm auf den Schnabel, hob Lara auf seinen breiten Rücken und sprang hinter ihr auf.
Wieder durchfuhr mich die unbeschreibliche Erregung, die diesmal auch von Lara geteilt wurde, wie ich hoffte. »Erster Zügel!« rief ich, und wieder einmal stieg der mächtige Tarn in die Lüfte.
Wahrend des Fluges sahen wir zahlreiche verkohlte Sa-Tarna-Felder unter uns. Der Schatten des Tarn glitt über ausgebrannte Gebäude, über eingestürzte Ställe hin, aus denen das Vieh entführt worden war, über Obstgarten, die abgeholzt waren. Die Bäume lagen kreuz und quer durcheinander; Blätter und Früchte waren braun und verschrumpelt. Auf dem Rücken des Tarn begann Lara zu weinen, als sie die Verwüstung sah, die ihr Land hatte hinnehmen müssen.