»Es ist grausam«, sagte sie.
»Das bisherige Leben der Sklaven war ebenfalls grausam«, sagte ich, und sie schwieg.
Die tharnaische Armee schlug hier und dort zu, räucherte angebliche Verstecke der Sklaven aus, doch es geschah sehr- selten, daß sie tatsächlich etwas fand. Allenfalls unbrauchbare Gegenstände und die Asche von Lagerfeuern. Die Sklaven, die durch andere Sklaven oder verarmte Bauern vor dem Truppenanmarsch gewarnt wurden, zogen rechtzeitig weiter und schlugen erst wieder zu, wenn sie sich neu gesammelt hatten und die Luft rein war.
Die Feldzüge der Tarnkämpfer waren erfolgreicher, doch im Großen und ganzen rückten die Sklavenhorden, die fast schon die Größenordnung von Regimentern erreichten, nur während der Nacht weiter und hielten sich tagsüber versteckt. Mit der Zeit wurde es auch für die kleinen Kavallerieabteilungen Tharnas gefährlich, sie anzugreifen, sich dem Sturm der Pfeile und Lanzen auszusetzen, der sich sofort vom Boden Iöste.
Oft kam es sogar zu Hinterhalten, wenn sich kleine Gruppen von Sklaven in die felsigen Pässe rings um Tharna verfolgen ließen und ihre Verfolger dann von versteckten Gruppen angegriffen und vernichtet wurden; manchmal stießen Tarnkämpfer herab, um einen Sklaven gefangenzunehmen, und wurden von unzähligen Pfeilen anderer Männer empfangen, die in Verstecken gewartet hatten.
Vielleicht hätten sich die undisziplinierten, doch mutigen Sklavenhorden mit der Zeit auseinandertreiben lassen, wenn die Revolution, die in den Bergwerken begonnen hatte und sich auf die Großen Anbaugebiete ausgedehnt hatte, nun nicht auch in der Stadt selbst gewütet hätte. Nicht nur die Sklaven der Stadt pflanzten das Banner des Widerstandes auf, auch Männer aus niederer Kaste, deren Brüder oder Freunde in die Bergwerke oder zu den Schauspielen geschickt worden waren, wagten es nun, ihre Werkzeuge zu nehmen und sich gegen Wächter und Soldaten zu erheben. Es hieß, der Aufstand in der Stadt werde von einem kurzen, kräftigen Mann mit blauen Augen und kurzgeschorenem Kopf geleitet, einem Mann aus der Kaste der Metallarbeiter.
Bestimmte Stadtteile waren niedergebrannt worden, um die Aufständischen Elemente zu vertreiben, doch dieser grausame Akt hatte nur dazu beigetragen, das sich verwirrte und Unentschlossene auf die Seite der Rebellen schlugen. Inzwischen sollten ganze Stadtgebiete in den Händen der Revolutionäre sein. Die Silbermasken Tharnas waren in die Gegenden geflohen, die noch unter dem Einfluß des Militärs standen. Viele hielten sich angeblich auch in den Mauern des königlichen Palastes auf. Das Schicksal der Frauen, die den Rebellen nicht hatten entkommen können, war unbekannt.
Am späten Nachmittag des fünften Tages erblickten wir in der Ferne die grauen Mauern Tharnas. Keine Patrouillen stellten sich uns in den Weg. Wir sahen zwar hier und dort Tarnkämpfer zwischen den Gebäuden, doch niemand versuchte uns aufzuhalten.
An mehreren Stellen standen Rauchsäule über der Stadt und gingen langsam im Blau des Himmels auf.
Das Haupttor Tharnas hing schräg in den Angeln, und winzige Gestalten hasteten hin und her. Es schien keinerlei Handelsverkehr zu herrschen. Außerhalb der Mauern waren mehrere kleine Gebäude bis auf die Grundmauern niedergebrannt. Ober dem Haupttor waren die Buchstaben›Sa’ng-Fori‹ an die Mauer gemalt, was wörtlich›ohne Ketten‹ bedeutet.
Wir ließen den Tarn in der Nähe des Tores auf der Mauer landen. Ich gab dem Vogel zu fressen. Es gab keinen Tarnkäfig in der Nähe, in dem ich ihn hätte unterstellen Können, doch ich hätte ihn den Tarnzüchtern der Stadt auch ungern überlassen. Keiner wußte, wer zu den Rebellen zählte und wer nicht. Vielleicht wollte ich überhaupt, daß der Vogel frei wäre, falls sich meine Hoffnungen nicht erfüllten, falls Lara und ich in einer der Gassen Tharnas umkommen sollten.
Auf der Mauerkrone lag ein Wächter, der sich schwach bewegte. Er stieß einen leisen Schmerzensschrei aus. Offensichtlich war er nach einem Kampf für tot gehalten worden und kam nun langsam wieder zu Bewußtsein. Seine graue Tunika mit dem roten Kastenstreifen war blutverschmiert. Ich öffnete seinen Helmriemen und zog ihm vorsichtig den Helm vom Kopf.
An einer Seite war der Helm aufgesprungen, Vielleicht durch einen Axthieb. Die Helmgurte, die Lederfütterung und das blonde Haar des Soldaten waren voller Blut. Er war noch sehr jung.
»Bleib ruhig liegen«, sagte ich zu ihm und untersuchte seine Wunde. Der Helm hatte den Schlag abgefangen, aber die Klinge der Waffe hatte die Haut aufplatzen lassen, und die Wunde hatte sehr geblutet.
Wahrscheinlich war er durch die Wucht des Schlages ohnmächtig geworden, und das Blut hatte den Angreifer überzeugt, das hier nichts mehr zu machen war, Mit einem Streifen Stoff von Laras Umhang verband ich die Wunde. Sie war sauber und nicht sehr breit.
»Es wird alles gut«, sagte ich.
Seine Augen musterten uns. »Seid ihr Für die Tatrix?« fragte er. »Ja«, sagte ich.
»Ich habe für sie gekämpft«, sagte der Junge in meinem Arm. »Ich habe meine Pflicht getan.«
Ich erriet, daß er an dieser Pflicht keinen Spaß gehabt hatte, daß er innerlich vielleicht sogar auf der Seite der Rebellen stand, doch sein Kastenstolz hatte ihn auf seinem Posten nicht wanken lassen. Obwohl er noch jung war, kannte er schon die blinde Loyalität eines Kriegers, eine Loyalität, die ich respektierte, die sich vielleicht kaum von den Treuegefühlen unterschied, die ich selbst schon empfunden hatte. Solche Männer waren schreckliche Feinde, mochten ihre Schwerter auch der verabscheuungswürdigsten Sache verschworen sein.
»Du hast nicht für deine Tatrix gekämpft«, sagte ich leise.
Der junge Krieger fuhr zusammen. »Aber doch!« rief er.
»Nein«, sagte ich. »Du hast für Dorna die Stolze gekämpft, die sich Tharnas Thron unrechtmäßig angeeignet hat — eine Betrügerin, eine Verräterin.«
Der junge Mann riß die Augen auf und starrte uns an.
»Hier«, sagte ich und deutete auf das schöne Mädchen neben mir. »Das ist Lara, die wirkliche Tatrix von Tharna.«
»Ja, mutiger Soldat«, sagte das Mädchen und legte ihre Hand auf die Stirn des Mannes, als wollte sie ihn beruhigen. »Ich bin Lara.« Der Wächter rührte sich in meinen Armen, fiel zurück und schloß mit schmerzverzogenem Gesicht die Augen.
»Lara«, sagte er mit geschlossenen Lidern, »wurde von einem Tarnkämpfer aus der Arena der Schauspiele entführt.«
»Ich bin der Mann«, sagte ich.
Die graublauen Augen öffneten sich langsam und starrten mir lange Zeit prüfend ins Gesicht. Langsam stahl sich ein Ausdruck des Erkennens auf sein Gesicht. »Ja«, sagte er. »Ich erkenne dich!«
»Der Tarnkämpfer«, sagte Lara leise, »brachte mich zur Verhandlungssäule. Dort wurde ich von Dorna der Stolzen und ihrem Komplizen Thorn gefangengenommen und einem Sklavenhändler verkauft. Der Tarnkämpfer hat mich befreit und bringt mich nun zu meinem Volk zurück.«
»Ich habe für Dorna die Stolze gekämpft«, sagte der Junge. In seinen Augen standen Tränen. »Verzeih mir, wahre Tatrix von Tharna.« Und wäre es nicht verboten gewesen, daß er, ein Mann, eine Frau Tharnas berührte, hatte er jetzt bestimmt die Hand ausgestreckt.
Zu seiner Verblüffung nahm Lara seine Hand. »Du hast mutig gehandelt«, sagte sie. »Ich bin stolz auf dich.«
Der Junge schloß die Augen und entspannte sich in meinem Arm. Lara schaute mich angstvoll an.
»Nein«, sagte ich, »er ist nicht tot. Er ist nur jung und hat viel Blut verloren.«
»Schau!« rief das Mädchen und zeigte auf der Mauer entlang.
Sechs Gestalten mit Speeren und Schildern kamen hastig näher. »Wächter«, sagte ich und zog meine Klinge.