Ich stapelte Steine über den Körper und errichtete eine Grabstelle, die dem Auge auffiel und die alle Raubtiere abschrecken würde. Einen großen flachen Stein brachte ich am Kopfende des Grabes an und kratze mit meiner Speerspitze folgende Worte hinein: ›Ich bin ein Mann aus dem Herrlichen Ar‹. Mehr wußte ich nicht über den Mann.
Neben dem Grab stehend, zog ich mein Schwert. Er hatte mir gesagt, ich sollte mich hineinstürzen, um meiner Schande zu entgehen, um wenigstens einmal dem Willen der mächtigen Priesterkönige von Gor zu trotzen.
»Nein, mein Freund«, sagte ich zu dem toten Krieger von Ar. »Nein, ich werfe mich nicht in dieses Schwert. Auch unterwerfe ich mich nicht den Priesterkönigen.«
Ich hob das Schwert in die Richtung auf das Tal, in dem Ko-ro-ba gestanden hatte.
»Vor langer Zeit«, sagte ich, »weihte ich dieses Schwert dem Dienste an Ko-ro-ba. Diese Verpflichtung ändert sich nicht.«
Wie jedem anderen Goreaner war mir die Lage des Sardargebirges bekannt, der Heimat der Priesterkönige, eines verbotenen Gebietes, in das kein Mensch im Schatten der Berge, kein Sterblicher eindringen durfte. Es hieß, das der Oberste Heimstein von ganz Gor in diesen Bergen zu finden sei und daß in ihm der Quell für die Macht der Priesterkönige liege; daß kein Mann je einen Priesterkönig gesehen und diese Begegnung überlebt habe.
Ich steckte mein Schwert wieder ein, befestigte den Helm an meiner Schulter, hob Schild und Speer auf und setzte mich in Bewegung — zum Sardargebirge.
6
Das Sardargebirge, das ich noch nie gesehen hatte, lag über Tausend Pasang von Ko-ro-ba entfernt. Während Menschen im Schatten der Berge — wie die gewöhnlichen Sterblichen genannt werden — diese Berge selten betreten und dann auch nicht zurückkehren, dringen doch viele bis an den Rand des unheimlichen Sperrbezirks vor, um im Schatten dieser Klippen zu stehen, hinter denen die Geheimnisse der Priesterkönige verborgen liegen. Tatsächlich wird von jedem Goreaner erwartet, daß er mindestens einmal in seinem Leben eine solche Pilgerfahrt unternimmt.
Viermal im Jahr, zu den Zeiten der Sonnenwenden und der Tag und Nachtgleiche, werden in der Ebene vor den Bergen Jahrmärkte abgehalten, verwaltet von Komitees der Wissenden, Jahrmärkte, bei denen sich die Männer vieler Städte ohne Blutvergießen begegnen, eine Zeit des Waffenstillstands, der gemeinsamen Spiele, des Handels und Wandels.
Torm, mein Freund aus der Kaste der Schriftgelehrten, hatte solche Märkte oft besucht, und mit den Gelehrten anderer Städte Schriftrollen auszutauschen, Männer, die er ohne diese Markte nie getroffen hätte, Männer feindlicher Städte, denen neues Gedankengut näher am Herzen lag als ihr Haß auf den Feind, Männer wie Torm, die das Lernen derart liebten, daß sie die gefahrvolle Reise zum Sardargebirge gern auf sich nahmen, wenn sie dafür über einen Text diskutieren oder eine wertvolle Schriftprobe erwerben konnten. In ähnlicher Weise nutzten Männer aus den Kasten der Physiker und Hausbauer und anderer Berufe die Märkte für einen Gedankenaustausch.
Den Märkten ist es zuzuschreiben, daß die ansonsten isolierten goreanischen Städte intellektuell vereinigt sind. In ähnlicher Weise tragen sie dazu bei, daß die goreanischen Dialekte stabilisiert sind, die sich sonst innerhalb weniger Generationen auseinanderentwickeln würden, so daß sich bald niemand mehr verständigen konnte. Denn diese eine Gemeinsamkeit haben die Goreaner — ihre Muttersprache in all ihren hundert Varianten, die sie einfach ›die Sprache‹ nennen, und wer sie nicht spricht, unabhängig von Herkunft oder Stand, gilt als unakzeptabel. Im Gegensatz zu den Menschen der Erde mißt der Goreaner dem Kriterium der Rasse wenig Bedeutung bei, legt aber großen Wert auf Sprache und Stadtzugehörigkeit. Wie wir, findet er Gründe, seine Mitmenschen zu hassen, doch diese Gründe unterscheiden sich von den unseren.
Ich hätte in diesem Stadium meiner Wanderung viel für einen Tarn gegeben, obwohl ich wußte, daß diese Vögel niemals in die Berge fliegen. Aus einem mir unbekannten Grunde weigern sich die furchtlosen Tarns und auch die gemächlicheren Tharlarions, die Zug- und Reitechsen der Goreaner, das Gebirge zu betreten. Der Tharlarion läßt sich plötzlich nicht mehr bändigen, und obwohl der Tarn sich bemüht, verliert der Vogel sofort die Orientierung, vermag sich nicht mehr in der Luft zu halten und fallt kreischend über die Ebenen vor dem Gebirge zurück.
Auf Gor, dessen menschliche Bevölkerung relativ dünn gesät war, wimmelte es von tierischem Leben, und in den folgenden Wochen hatte ich keine Mühe, mich durch die Jagd zu ernähren. Ich ergänzte meine Mahlzeiten durch frische Früchte von Büschen und Bäumen, und durch Fische, die ich in Gors kalten, schnellen Flüssen fing. Einmal brachte ich einen Tabuk, eine der gelben einhörnigen Antilopen Gors, die ich in einem Ka-la-na-Dickicht erlegt hatte, zur Hütte eines Bauern und seiner Frau. Ohne Fragen zu stellen, was beim Fehlen meiner Stadtwappen auch nicht ratsam gewesen wäre, aßen sie mit mir von meinem Fleisch und gaben mir dafür Schnur und Feuersteine und eine Weinhaut.
Der goreanische Bauer fürchtet den Geächteten nicht, denn er hat selten etwas, das des Stehlens wert wäre, es sei denn, er sei der Vater einer Tochter. Tatsächlich leben die Landbevölkerung und die Geächteten Gors nach einem ungeschriebenen Gesetz, wobei sich der Bauer um den Geächteten kümmert und dieser als Gegengabe seine Beute mit dem Bauern teilt. Der Bauer sieht das nicht als unehrenhaft an; für ihn ist das ein Leben, das er gewohnt ist. Anders ist die Lage, wenn ausdrücklich bekannt ist, daß der Geächtete aus einer anderen Stadt als der eigenen stammt. In diesem Falle wird er gewöhnlich als Feind angesehen, der so schnell wie möglich den Patrouillen gemeldet werden muß.
Klugerweise mied ich auf meiner langen Wanderung die Städte, obwohl ich an mehreren vorbeikam. Eine Stadt ohne Erlaubnis oder ohne ausreichenden Grund zu betreten, kommt einem Kapitalverbrechen gleich, auf das gewöhnlich die Aufspießung steht. Die Mauerzinnen goreanischer Städte sind zumeist mit den Überresten unwillkommener Gäste geschmückt. Der Goreaner ist jedem Fremden gegenüber mißtrauisch, insbesondere in der Nähe seiner Heimatstadt.
Angeblich gab es eine Stadt, wo man einem Fremden anders begegnete — die Stadt Tharna, die nach allgemeiner Auffassung bereit war, sich auf das›Abenteuer der Gastfreundschaft‹ einzulassen, wie es genannt wurde. Vieles sollte anders sein in dieser Stadt — darunter auch die angebliche Tatsache, daß sie von einer Königin, einer Tatrix, beherrscht wurde und daß die Stellung der Frau in dieser Stadt entsprechend mit Privilegien ausgestattet war.
Ich freute mich, daß es wenigstens eine goreanische Stadt gab, in der die freien Frauen nicht das Gewand der Verhüllung zu tragen brauchten und ihr Leben weitgehend auf ihr Haus beschränken mußten. Auch durften sie dort wohl zu anderen Menschen als nur ihren Blutsverwandten und Freien Gefährten sprechen.
Ich glaubte, daß ein Teil der goreanischen Barbarei vielleicht auf diese sinnlose Unterdrückung des schönen Geschlechts zurückzuführen war, dessen Sanftheit und Intelligenz einen großen Beitrag zur Milderung der harten Gebräuche leisten könnte. Tatsächlich hatten die Frauen in einigen Städten — wie schon in Ko-ro-ba — eine gewisse Rolle innerhalb des Kastensystems übernehmen können und durften ein relativ unbeschränktes Leben führen.
In Ko-ro-ba konnte eine Frau ihr Haus verlassen, ohne zunächst die Erlaubnis eines männlichen Verwandten oder des Freien Gefährten einzuholen, eine Freiheit, die für goreanische Verhältnisse ungewöhnlich war. Die Frauen von Ko-ro-ba waren sogar ohne Begleitung ins Theater gegangen und hatten Epen gelesen. Überhaupt war die weibliche Freiheit in Ko-ro-ba — außer vielleicht in Tharna — am weitesten fortgeschritten gewesen, doch jetzt gab es Ko-ro-ba nicht mehr.
Ich fragte mich, ob ich in der interessanten Stadt Tharna vielleicht einen Tarn erwerben konnte. Das würde meine Reise zum Sardargebirge um mehrere Wochen verkürzen. Ich hatte zwar kein Geld zum Erwerb eines Tarns, aber ich dachte mir, daß mein Sold als Schwertkämpfer ausreichen müßte, um ein Reittier damit zu bezahlen. Überhaupt war ich nach der goreanischen Auffassung als Geächteter ohne eigene Heimatstadt berechtigt, mir zu nehmen, was ich wollte — obwohl ich diese Möglichkeit nicht ernsthaft in Betracht zog.