"Vielleicht hat er es in diesem schauerlichen Dasein unter den Wilden vergessen und entsinnt sich nur noch seines Vornamens; mich sollte es nicht wundern. Wenn ich mir vergegenwärtige, was für einen Knaben ein jahrelanges Leben unter diesen rohen Menschenschlächtern für Folgen haben mußte, so ist es erstaunlich, daß er sich seine Geisteskraft so bewahrt hat."
"Ja, erstaunlich. Doch kehren wir glücklich zur Heimat zurück, so will ich es ihm vergelten und ihn sorgsam wieder zum Spanier machen. Hast du denn gewußt, Don Antonio, daß hier solche verwegene Räuber hausen gleich diesen Aimaràs! Du bist doch ein Montanero?"
"Es war mir nicht unbekannt, daß diese Wilden gelegentlich Raubzüge machen, um sich mit Vieh, besonders Maultieren und Waffen zu versorgen; daß sie Menschen gefangen davonführen, davon habe ich nie gehört."
"Aber wir haben davon einen sehr nachdrücklichen Beweis. Auch wir wären spurlos verschwunden im Gebirge wie die anderen Unglücklichen, die in ihre Hände fielen. Man schaudert, wenn man daran denkt. Diese Räuberhöhlen dürfen nicht länger geduldet werden, die Regierung muß sie zerstören und diese Wilden dem Gesetz unterwerfen."
"Zunächst, Don Fernando, wollen wir daran denken, aus diesen Felsenwällen möglichst unbeschädigt herauszukommen. Die Sache hat ihre Schwierigkeit, ich habe mir die Felsenpässe betrachtet, als ich hier heraufgeschleppt wurde."
"Ich sage dir, Don Antonio, sind wir dem Gefängnis entgangen, so werden wir auch auf der Flucht hoffentlich nicht elend umkommen."
"Mögest du die Wahrheit reden."
Während Don Fernando und der junge Halbindianer, der in seinem ganzen Benehmen, wie in seinem reinen Spanisch und der Art, sich auszudrücken, die Resultate einer guten Erziehung zeigte, so plauderten, war Alonzo über Felsen auf Stellen kletternd, die ungangbar schienen, zu dem Pfade zurückgekehrt, der zur Grenze des Tales nach Osten hin führte.
Er erreichte endlich einen Punkt, von wo aus er die roh aus Steinen hergestellte Behausung der Wächter, die den engen Felspfad zu bewahren hatten, sehen konnte. Rauch zeigte, daß darin gekocht wurde, und die nachlässig am Boden hingestreckte Gestalt eines Aimarà ließ darauf schließen, daß den Grenzwächtern keine beunruhigenden Nachrichten zugekommen seien.
Auch wurde deren Aufmerksamkeit selten auf eine Probe gestellt.
Nachdem Alonzo sich überzeugt hatte, daß kein weiterer Bote zu ihnen gelangt sei, kletterte er mit der Vorsicht und Geräuschlosigkeit, die ihm eigen waren, zurück und erreichte nach einiger Zeit die Stelle, wo er den Stein nach dem Aimarà geschleudert hatte.
Der Tote lag noch unberührt am Boden.
Während Techpo sinnend auf den Leichnam niederblickte, vernahm sein feines Ohr Hufschläge, die vom Dorfe her klangen. Er umwickelte sein Haupt mit Gras, legte sich platt nieder, die Büchse zur Hand und lauschte. Die Hufschläge kamen näher und verstummten dann. Die Reiter hatten den Leichnam erblickt und angehalten.
Mit äußerster Vorsicht schob Alonzo zwischen dem Gras und den Büschen, wie sie die Felsen bedeckten, den Kopf vor; er erblickte den Kaziken Tucumaxtli mit zwei anderen Aimaràs, die stumm auf dem Wege hielten.
Endlich stieg einer ab und untersuchte den Toten. Die Waffen waren da und als Verletzung zeigte sich nur die des Steinwurfs am Hinterhaupte. Verdächtige Spuren wies der steinige Boden nicht auf.
"Ein herniedersausender Stein hat unseren Bruder getötet, Kazike."
Auch Tucumaxtli verließ den Sattel und seine Untersuchung bestätigte die Wahrnehmungen des Kriegers.
"Nun wissen wir, warum Chiacam nicht zurückkehrte, der Berg hat ihn erschlagen."
Mit abergläubischer Scheu starrten die drei braunen Krieger auf die Wunde, die den Tod ihres Gefährten herbeigeführt hatte, dann zu den drohenden Felsen in die Höhe.
"Aber wo ist Chiacams Pferd?"
"Es wird zu den Wächtern gelaufen sein."
"Nein, dann hätten die den Boten gesucht und gefunden."
"So wird es zu einem Weideplatz zurückgekehrt sein."
"Wir forschen hier vergebens nach den Flüchtlingen, sie sind nach Norden entwichen."
"Sie können nicht entwichen sein, sie sind in den Felsen."
"Hast du vergessen, daß tückische Chibchas zwischen unseren Häusern waren, Kazike?"
"Torheit! Die Furcht hat Feiglinge den Schlachtschrei der Chibchas hören lassen. Kennen Chibchas die geheimen Wege der Priester?"
"Ein böser Geist ist aus der Tiefe der Berge aufgestiegen," äußerte jetzt der dritte, "den Aimaràs die Opfer zu entreißen, und wir werden sie nicht finden. Wir würden uns seinen Zorn zuziehen, gleich Chiacam, den der Stein getroffen."
Scheu schwiegen die beiden anderen. Endlich sagte Tucumaxtli, der Kazike: "Wir müssen die Wächter benachrichtigen, dann wollen wir Chiacam die Totenlieder singen."
Ein Windstoß erschütterte die Luft und unweit, in der Richtung nach dem Wächterhause hin, sauste ein Stein hernieder.
Die ohne Zweifel mutigen Männer, deren Aberglauben durch die geheimnisvolle Entweichung der Gefangenen, den jähen Tod des Boten stärker als je erregt war, bebten merkbar.
"Zu den Wächtern," sagte der Kazike entschlossen, "dann kehren wir um; die Unsichtbaren werden uns schützen."
Er ritt voran und seine Krieger folgten ihm. Waren die Wächter in Kenntnis gesetzt, so verschlimmerte das die Lage der Flüchtlinge sehr - dies wußte niemand besser als der Knabe. Eines ging ihm aus der belauschten Unterredung hervor, daß man kaum Verdacht auf ihn geworfen hatte. Der Aberglaube der Indianer war ihm bekannt. - Techpo harrte geduldig.
Nach einiger Frist kehrten die Reiter zurück, hoben den Leichnam auf, den einer der Krieger vor sich auf das Pferd nahm und ritten dann langsam weiter.
Wenn nicht ein günstiges Geschick den Flüchtlingen zu Hilfe kam, war jetzt kein Entrinnen aus dem Tale möglich, wenigstens nicht mit den Pferden, und es mußte die Flucht über die Felsen versucht werden, die unendlich schwierig war und wenig Aussicht auf endliche Rettung bot.
Alonzo zweifelte nicht, daß die Aimaràs alsbald Streifscharen ringsum in die Berge senden würden, wenn es nicht bereits geschehen war.
Zunächst war er mit seinen Gefährten in voller Sicherheit und Alonzo beschloß, ruhig die Nacht abzuwarten. Nur die Dunkelheit konnte den Fluchtversuch begünstigen.
Er kehrte in das Tal zurück und gesellte sich zu den seiner Harrenden mit unbewegter Miene.
Auf ihre Fragen erwiderte er: "Schlaft - wir werden vielleicht in der Nacht munter sein müssen."
Er selbst ließ sich zum Schlafen nieder, suchte aber, noch ehe der Tag sich neigte, den Weg wieder auf. Er erkannte jetzt an den Spuren auf dem Boden deutlich genug, daß eine Reiterschar dem Ausgang zugeritten war, seine Vermutung war also eingetroffen. Die Verfolger waren auf dem Wege, der nach den Llanos führte. Das war schlimm.
Er kehrte zurück und ließ die Tiere satteln, einen jeden seiner Gefährten so viel Mundvorrat nehmen als er unterbringen konnte.
Dann teilte er ihnen mit, daß Aimaràs bereits jenseits des Tales seien.
Beide erschraken.
"Sie sind weniger gefährlich als das Wächterhaus. Sie fürchten die Nacht, in deren Schatten böse Geister einherwandeln und werden einen Schlupfwinkel aufgesucht haben."