Nach einiger Zeit gewahrte er wirklich, wie drüben vorsichtig zwei Köpfe sich erhoben und deren funkelnde Augen das dunkle Grabmal durchforschten -, doch bald verschwanden sie wieder.
Den Knaben focht die schauerliche Umgebung nicht an, er streckte sich aus auf seinem Poncho und ruhte.
Der Hunger meldete sich und Durst quälte ihn. Aber der Beutel mit den Nahrungsmitteln war am Sattel seines Pferdes befestigt. Zu seiner Freude gewahrte er, wie in den Vertiefungen des Felsgesteins draußen noch kleine Pfützen Regenwasser standen. Hinter den Stein, der einst die Höhle verschloß, kriechend, vermochte er ungesehen seinen Durst zu löschen.
An Entbehrungen aller Art war er gewöhnt, seitdem er unter den Aimaràs weilte.
Aber was wurde aus den Gefährten, die jetzt seiner an dem verabredeten Orte harrten? Wie sie schmerzlich und angstvoll seiner harren würden, sie, die des Landes unkundig waren.
Ihm fiel jetzt auf, daß die Sonne trübe geworden war, er schaute vorsichtig hinaus und erkannte, daß der Nebel aus dem feuchten Tale aufstieg, der oft genug alles ringsum dicht in seinen Mantel einhüllte.
Immer matter war die Sonne, immer stärker der Nebel, schon konnte er die nahe gegenüberliegende Felswand nicht mehr sicher erblicken. Ein solcher Nebel nach einem starken Regengusse hielt oft tagelang an.
Bot ihm der Nebelschleier Rettung?
Der Gedanke kam ihm, daß die Aimaràs den Nebel benützen könnten, herauf zu schleichen, um ihn abzufangen. Vielleicht waren doch einige der Krieger weniger abergläubisch und wagten es, die Ruhestatt der Toten zu betreten. Zu heiß war ihr Verlangen, sich seiner zu bemächtigen.
"Ich will sie erschrecken, wenn sie kommen," sagte Alonzo. Er stieß einen der mit einer Decke von geflochtenem Bast umhüllten Ballen aus seiner Nische und durchschnitt die ihn zusammenhaltenden festen Faserstricke mit seiner Machete. Die Mumie, die zu Tage trat, stellte er dicht neben den Eingang an den Felsenpfad.
"Wenn die Abergläubischen davor nicht zurückschrecken, das würde mich wundern."
Der Nebel war jetzt so dicht, daß man nicht drei Schritte weit sehen konnte, die Sonne war nicht zu gewahren.
Alonzo horchte nach unten, kein Laut drang zu ihm. Vor der Höhle befand sich eine kleine Plattform, die einst für den schweren Schlußstein des Grabes hergestellt war. Beim Hinaufklettern hatte er gesehen, daß der Fels von hier fast senkrecht anstieg. Den Weg nach unten versperrten die Aimaràs, das wußte er, auch wenn er sie nicht sah, aber nach oben, gab es nach oben hin keinen Weg?
Er trat zur Seite des Eingangs bis an den Rand der Plattform und untersuchte den ansteigenden Fels.
Sein Auge erkannte leicht eingehauene Stufen, wahrscheinlich Reste einer ehemaligen in den Fels gemeißelten Treppe, die Regen und Frost noch nicht ganz zerstört hatten.
Er sann nach. Wenn ich meinen Lasso hätte -? Aber waren nicht die Mumien in lange, unendlich zähe Stricke eingehüllt, von deren Festigkeit er sich soeben überzeugt hatte?
Er entfernte einen zweiten Mumienballen von seinem Platze, löste den umschnürenden Strick und formte daraus einen Lasso. Das war auch in den Felsen ein nicht zu unterschätzendes Hilfsmittel.
Er warf die Büchse auf den Rücken, rollte die Seitenteile des Poncho auf den Schultern zusammen und umschnürte ihn mit seinem Gürtel. So hatte er die Arme frei.
Er betrat die Plattform und lauschte nach unten. Sein feines Ohr vernahm trotz des dämpfenden Nebels schleichende Schritte. "Ah, sie kommen doch -?" Er trat zurück und spannte den Hahn seiner Büchse.
Ein Schrei des Entsetzens berührte sein Ohr, ein Schrei des tiefsten Schreckens, und deutlich vernahm er, wie eilige Schritte sich nach unten entfernten.
Der ernste Knabe vermochte nicht, ein Lächeln zu unterdrücken. "Dank dir, toter Kazike," sagte er, "du hast sie gescheucht."
In der Tat hatten zwei jüngere Krieger versucht, sich an den Eingang der Höhle zu schleichen, als sie plötzlich im Nebel die Mumie vor sich sahen. Diesem Anblick hielten sie nicht stand und entfernten sich in tödlicher Angst.
"Nun ist es Zeit." Alonzo nahm den Strick zusammengerollt in die Hand und begann vorsichtig den Anstieg.
Er fand Stufenreste in geeigneter Höhe genügend groß noch, um den Fuß zu stützen, und gelangte so langsam nach oben.
Rings umgab ihn dicht der Nebel.
Endlich aber hörten die Stufen auf und nur die glatte nackte Felswand war vor ihm, aber er mußte dem Rande des Felsens nahe sein.
Er wickelte seinen Strick los und warf die Schlinge nach oben.
Zweimal kam sie zurück - das dritte Mal haftete sie an einem Gegenstande, den er aber nicht zu sehen vermochte. Er zerrte, hing sich an den Strick, er hielt.
Entschlossen kletterte er empor und erreichte nach geringer Anstrengung den Rand des Felsens. Die Schlinge hing an der zähen, tief im Fels haftenden Wurzel eines Baumes, den wohl der Sturm gebrochen haben mußte.
Alonzo war oben und atmete auf.
Vorsichtig ließ sich Alonzo an dem Strick nieder.
Nebel, Nebel ringsum, über ihm, unter ihm undurchdringlicher Nebel. Er machte den Strick los und rollte ihn zusammen. Die Sonne konnte er nicht sehen, doch in einem rechten Winkel mit der Schlucht schritt er mit der Sicherheit eines indianischen Jägers, der seinen Weg nach unscheinbaren Merkmalen bestimmt, in gerader Linie langsam und mit großer Vorsicht vor.
So gelangte er erst nach geraumer Zeit an den gegenüberliegenden zerrissenen Rand des felsigen Berges. Der Abstieg schien möglich, ihn deuchte es, als ob die Wand hier terrassenförmig abfalle.
Vorsichtig, sich fortwährend des Strickes bedienend, den er um Stein- und Felszacken schlang, gelangte Alonzo Fuß für Fuß herab bis auf eine grasbewachsene Talsohle. Mit Entzücken vernahm er das Rauschen eines Baches, der zeigte den Weg und verbarg seine Spur.
Gleich darauf stand er an dem Gewässer. Er stieg hinein und ging vorsichtig mit dessen Strömung. Ihm kam es jetzt vor allem darauf an, Raum zwischen sich und den Aimaràs zu legen. Der Gang war schwierig auf dem glatten Gerölle in dem kalten Wasser. Nach wohl zwei Stunden fühlte er sich ermattet, er trat ans Land und fand eine Dickung von Nadelholz. Er hieb Zweige ab mit seiner Machete, wickelte sich in seinen Poncho und schlief ein. Seine letzten Gedanken waren die Gefährten, die wohl ratlos in dem Nebel seiner harren mochten. Er erwachte, immer noch hüllte der Nebel alles ein. Den Durst stillte er in dem kleinen Bache, den Hunger überwand er. Wieder schritt er, mit einem Stabe bewehrt, den er sich geschnitten, in dem Bache talabwärts, bis ihn ein dumpfes Rauschen stutzig machte.
Er suchte das Ufer, das von Büschen und Bäumen eingefaßt war, und ging an diesem langsam hin. Stärker wurde das dumpfe Rauschen und er erkannte, daß der Bach zu seiner Seite senkrecht in die Tiefe stürze.
Die Sonne hatte er, seitdem der Nebel aufstieg, nicht mehr gesehen, aber jetzt mußte er an der einbrechenden Dunkelheit erkennen, daß sie hinter den Bergen verschwand. Er suchte, soweit es Nebel und Dämmerung gestatteten, nach einem Platze, wo er die Nacht zubringen konnte. Er fand einen vom Sturm niedergestürzten Baum, der zwischen dichten Büschen lag; hier bereitete er sich nach Jägerart sein Lager aus Zweigen, deckte sich mit solchen zu und entschlief.