Sechstes Kapitel.
Allein durch die Kordilleren
Langsam hob sich der feuchte Nebel vom Boden empor und schwebte in langen Schwaden davon, die in phantastischen Gestalten die Höhen umflatterten und sich endlich unter einem leichten Lufthauche in die Ferne verloren. Die Sterne blickten vom klaren Himmel hernieder auf den einsamen Knaben, der schon so vieles und schweres erduldet und dort inmitten der pfadlosen Wildnis sich zur Ruhe gelegt hatte.
In wunderbarer Schönheit stieg Eos mit Rosenfingern empor - rötliche Glut hüllte die fernen Bergspitzen ein, so daß sie in überirdischem Schimmer weit in das Land hin leuchteten.
Über den Bergen erschien der Sonnenball und verwandelte mit seinen Strahlen die an Blätter und Grashalmen hängenden Tropfen in ein Meer glitzernder Brillanten. Still war es ringsumher, nur der Bach murmelte sein eintöniges und doch so melodisches Lied.
Endlich trafen die Sonnenstrahlen, die alles ringsumher verschönten und zu neuem Leben riefen, auch die Lider des stillen Schläfers und weckten ihn aus seinem ruhigen Schlummer.
Alonzo schlug die Augen auf - blickte um sich und erhob sich rasch, seine aus Zweigen bestehende feuchte Decke abschüttelnd. Sein erster Blick galt der Stellung der Sonne, sein zweiter dem Laufe des Baches.
Mit Schrecken erkannte er, daß dieser seine Richtung nach Süden nahm, daß er in seinem Bett, an seinem Ufer hingehend sich weit ab von der Straße entfernt hatte, die nach den Llanos führte, weit ab von dem Platze, den er den Gefährten seiner Flucht als Ort der Zusammenkunft bezeichnet hatte. Mit Schrecken dachte er dessen.
Er erkannte die Unmöglichkeit, den Ort der Zusammenkunft zu erreichen; er hoffte, daß ihre Tiere, die den Weg kannten, sie auch im Nebel weiter getragen haben würden, auf der Straße nach den Llanos.
Er blickte um sich.
Im fernen Hintergrunde ragten die steilen nackten Felshöhen, die er verlassen hatte, in Sonnenglut sich badend, rings um ihn erhoben sich waldige Hügel.
Seufzend beschloß Alonzo, seinen Weg allein fortzusetzen, er sah ein, daß er Fernando und dem Mestizen nicht mehr helfen konnte.
Er trank das Wasser des Baches und bändigte das nagende Gefühl des Hungers.
Dann nahm er seine Büchse auf, ging noch einige Zeit am Ufer des Baches her, in der Hoffnung ein seinen Hunger stillendes jagdbares Tier zu überraschen. Für diesen Fall war er entschlossen zu schießen, trotz der Gefahren, die das mit sich führen konnte. Nichts zeigte sich dem suchenden Auge.
Der Wald bestand aus Nadelhölzern, und Beeren oder Früchte, die seinen Hunger hätten stillen können, wuchsen hier nicht.
Nach einiger Zeit wandte sich der Bach nach Osten, das erfreute ihn, denn dort lagen die Llanos, dort lagen Leben, Freiheit und die Heimat. Er erkannte, daß er sich auf einer Hochebene befand, die nur schwach nach Osten abfiel.
Weiterschreitend sah er, aus den Büschen tretend, unerwartet ein gewaltiges Felsmassiv vor sich, dessen zerrissene Massen sich weit nach rechts und links ausdehnten; der Bach verlor sich in einer düsteren Spalte, deren schroff aufragende Wände sich nach oben hin verengten.
Alonzo stand und überlegte.
Sollte er die Felsen überklettern?
Allein er fühlte, daß seine Kraft nachließ und seine Füße waren bereits wund, zerrissen seine leichte Fußbekleidung aus Hirschleder.
Dem Wasser des Baches zu folgen war nicht ratsam, denn dessen Strömung wurde reißend, glatt war dessen Grund durch Gerölle und fast immer endeten diese Wasserläufe des Hochgebirges, da wo sie die Felsen durchbrechen, in jähem Absturz.
Er gewahrte an der Felswand, die zu seiner Rechten den Bach einfaßte, etwas wie einen schmalen Pfad auf einem vorspringenden Teil des Felsens.
Hier beschloß er den Durchgang zu versuchen. Bald umhüllte ihn die Dämmerung der schmalen Schlucht, deren Wände feucht waren. Unter ihm rauschte unheimlich das Wasser.
Gefährlich war der Pfad, jeder Fehltritt konnte den Tod bringen.
Schritt für Schritt legte der Knabe den Weg zurück, oft sich nur durch seinen Lasso vor dem Herabstürzen schützend. Lange währte die fast übermenschliche Anstrengung, die ungewöhnliche Kaltblütigkeit und großen Mut erheischte.
Mehrmals mußte er ruhen.
Endlich - endlich zeigte sich Tageslicht vor ihm, der Felsrücken war durchquert.
Der Weg, wenn man von einem solchen reden durfte, führte abwärts, und der Knabe sah eine von Bäumen durchsetzte freundliche Savanne vor sich, auf der Büsche und hohes Gras wuchsen. Er erreichte die Niederung und warf sich nieder, er war erschöpft.
Lange lag er so.
Dann erhob er sich, badete seine Füße in dem Wasser des Baches und umwickelte sie mit Streifen des Ponchos, die er mit zähen Gräsern befestigte.
Langsam schritt er dann weiter.
Trotz emsigen Suchens gelang es ihm nicht, pflanzliche Nahrungsmittel zu entdecken, und auch das Tierleben war hier gering. Er sah wohl hie und da kleinere Vögel, aber nirgends Spuren vierfüßiger Jagdtiere.
Der Hunger wurde ärger, der Knabe fühlte mehr und mehr seine Kräfte ermatten. Dennoch ging er weiter, oftmals auf seinem Wege ausruhend. Ohne Wimperzucken ertrug er die Schmerzen, die ihm seine wunden Füße bereiteten.
Bald stieg er tiefer, und die Vegetation um ihn ward eine andere, die Nadelhölzer zeigten sich nicht mehr, immergrüne Eichen und Platanen umgaben ihn, und höher und grüner wurde das Gras, durch das er schritt. Aber die Nacht kam und Alonzo mußte sich eine Schlafstätte bereiten. Er trug Blätter und Zweige nahe einer Sykomore zusammen, darauf legte er sich nieder und hungrig und erschöpft schlief er ein.
Matt erwachte er und setzte mit kranken Füßen mühsam seine Wanderung fort.
Er sah zu seinem Entzücken einen jungen Hirsch, der zur Tränke ging, eilig legte er die Büchse an die Wange, aber Hand und Auge waren unsicher. Der sonst so treffliche Schütze fehlte und das erschreckte Tier wurde flüchtig. Traurig schlich er weiter, sich begierig nach anderer Jagdbeute umsehend.
Er war endlich so erschöpft, daß er ruhen mußte.
Bald nach Mittag sah er ein langgestrecktes Felsental vor sich, das sich nach Osten öffnete, und ein warmer Lufthauch strömte ihm von unten entgegen.
Er ging hinein über Steingerölle hin, jeder Schritt bereitete ihm Qual.
Das Tal verlief in köstliche Wiesen, die von duftenden Wäldern umgeben waren. Aber er konnte sich des Anblicks nicht erfreuen, er war todesmatt und sank erschöpft am Fuße einer Eiche nieder. Die Luft war hier mild, wie er sie oben nur in abgeschlossenen Tälern kennen gelernt hatte, wenn die Sonne hoch stand.
Schwäche und Müdigkeit lullten ihn ein.
Am anderen Morgen vermochte er sich kaum zu erheben.
Aber mit Energie raffte er sich auf.
"Ich muß zu Wohnungen der Menschen kommen, sie wohnen am Abhange des Gebirges, ich weiß es."
Er schritt unsicher dahin, aber nach zwei Stunden mühevollen Marsches wollten ihn die durch Hunger und Anstrengung erschöpften Glieder nicht mehr tragen.