Ihm traten Tränen in die Augen als er fortfuhr: "Ich hatte einmal ein kleines Schwesterchen, das müßte jetzt so alt sein wie du." Vor seinem Geistesauge stand das kleine liebliche Kind.
"Ist es ein Engel im Himmel geworden?" fragte das Kind teilnahmsvoll und sah ihn an. "Weißt du, alle kleinen Kinder werden Engel, wenn Gott sie abruft."
"Ja, meine kleine Juana ist im Himmel."
Sie sah seine Tränen und sagte: "Du mußt nicht weinen, Don Alonzo, sie ist glücklich in den himmlischen Gefilden."
"Ja, du hast recht." Er wischte die Tränen aus den Augen und fragte ruhiger: "Wie alt bist du, Mariquita?"
"Zwölf Jahre."
"Hast du Geschwister?"
"Nein, ich bin allein. O, Papa und Mama lieben mich sehr und auch die alte Mali, sie lieben mich alle."
"Wer sollte dich auch nicht lieben?"
"Dir gefalle ich auch, nicht? - Mir ist so, als ob ich dich schon lange kenne, Don Alonzo, und doch sehe ich dich zum ersten Male."
Ihn rührten das kindliche Geplauder des in der Stille und Einsamkeit der Llanos erwachsenen Mädchens tief in der Seele.
Die Indianerin kam aus dem Hause und brachte ihren Stammesgenossen Maisbrot und Fleisch.
"Dienst du schon lange hier?" fragte Maxtla sie in der Chibchasprache.
"Viele Jahre, die Weißen sind gut."
"Hast du keinen Mann?"
"Er ist tot."
"Und Kinder."
"Sie sind - zur Sonne gegangen."
"Du stammst aus den Bergen," sagte Maxtla jetzt im Dialekt der Gebirgschibchas.
"Ja," antwortete sie, und ihre Augen leuchteten jetzt freudig bei dem Klange auf, - "aus den Bergen - und du auch, wie ich höre."
Die Sennora kam aus dem Hause und brachte Alonzo Kaffee, Brot und Eier.
Mit Erstaunen sah sie, wie vertraulich ihr Kind mit dem Fremden verkehrte.
"Nun, das ist ein Wunder, Sennor, Ihr habt rasch des scheuen Vögelchens Herz gewonnen."
"Ja, Madrecilla, er gefällt mir und ich ihm auch. Er hatte ein kleines Schwesterchen, das jetzt bei den lieben Englein im Himmel ist, und darum ist er mir gut."
Die Frau warf einen fast schreckensvollen Blick auf Alonzo.
"Es ist so, Sennora, sie ist mir in jugendlichem Alter durch eine schaudervolle Tat entrissen worden, von der das Tal der drei Quellen noch lange widerhallen wird - sie müßte jetzt im Alter Ihres Kindes sein."
Die beiden Indianer und Mali, die Indianerin, hatten den Worten, die in der Laube mit der Sennora gewechselt wurden, gelauscht. Als das Tal der drei Quellen erwähnt wurde, zeigte sich in dem Gesicht der Indianerin ein schreckenvolles Erstaunen. Maxtla bemerkte es wohl.
Er stand auf und sagte zu seiner Stammesgenossin in tiefem Ernste: "Die Tochter der Berge wird mit mir kommen, ihr Bruder hat eine Frage an sie zu richten."
Er schritt nach einer Baumgruppe, und scheu folgte sie ihm.
Der Llanero Esteban Mauricio ritt heran. Der Mann, ein ehrlich aussehender, derber Geselle, war erfreut, einen Caballero als Gast in seinem Hause zu finden und erstaunt gleich seiner Frau, zu sehen, wie zutraulich sein scheues Kind mit ihm verkehrte, und kein Auge von ihm wandte.
Alonzo sagte ihm, wie er hierhergekommen und fügte seine Wünsche hinzu.
Der Llanero erklärte sich alsbald bereit, ihn mit seinen Begleitern nach Cabuyaro zu bringen, und wenn er darauf bestehen sollte, ihm auch Pferde oder Mulos zu dem landesüblichen Preise zu verkaufen.
Mariquita saß still und traurig während dieser Verhandlungen da, und leise sagte sie: "Ich wollte, er ginge nicht."
Als der Llanero gegangen war, um in seinem Corral die Tiere auszusuchen, trat Maxtla zu Alonzo, zu dem er in der Chibchasprache sagte: "Weißt du, junger Adler der Berge, wem sie ähnlich sieht?" Er meinte Mariquita.
"Nun?" fragte Alonzo erstaunt.
"In deines Vaters Hause hing ein Bild von deiner Mutter, das zeigte, wie sie als Sennorita ausgesehen hat."
Wie Schuppen fiel es Alonzo vom Auge. Er sah im Geiste das lebensgroße Ölbild, das seine Mutter als sechzehnjähriges Mädchen darstellte, vor sich - ja - das war's - das hatte ihn so mächtig erschüttert - unbewußt als er das Kind sah - jetzt wußte er es, der Indianer hatte ihm die Augen geöffnet. Es war zehn Jahre her, daß er als zehnjähriger Knabe das elterliche Haus verlassen hatte, und vieles hatten die Gefangenschaft, die Zeit von seinen Jugenderinnerungen verwischt - aber jetzt stand das Bild lebendig vor ihm - und - er richtete einen angstvoll fragenden Blick auf Mariquitas Gesicht. Eine Flut von Gedanken und Ahnungen stieg ihm zu Haupte und betäubte ihn fast.
Erstaunt sah das Kind, das die Worte in der Chibchasprache nicht verstanden hatte, zu Alonzo auf, sie erkannte, wie sehr er bewegt war.
"O, amigo mio, fehlt dir etwas? Bist du traurig?"
"Ja, ja, nein - o welch ein Glücksgefühl durchzieht mich!"
Er riß das Mädchen an sich und küßte es auf die Stirn. - "Ebenbild der Mutter -" hauchte er vor sich hin und sah ihr in das kindliche Gesicht.
Im Hintergrunde stand die Indianerin Mali und schaute bald auf Alonzo, bald auf Mariquita.
Langsam sagte Maxtla, immer sich der Chibchasprache bedienend: "Diese Frau fand jenes Mädchen vor zehn Sommern im Tale der drei Quellen."
Gleich einem Irrsinnigen starrte Alonzo ihn an.
"Fand - im - Tale der - drei Quellen?" wiederholte er leise - "fand?"
"Der junge Adler sinne nach - zwei Schwestern nannte er sein - Maxtla weiß es - er kannte sie alle, die Kinder Don Pedros - zwei Sommer zählte Juana und jene Frau trug sie fort - aus dem Tale der drei Quellen."
Alonzo wurde totenbleich - der starke Jüngling zitterte - und mußte sich setzen.
"Ein großer Krieger muß die Freude ertragen können wie den Schmerz."
Stumm horchte Mariquita, den Blick voll tiefer Teilnahme auf Alonzo gerichtet, Maxtla aber fuhr in der Sprache der Chibcha zu reden fort: "Mali ist eine Chibcha aus den Bergen und schwor, mir die Wahrheit zu sagen bei den alten Göttern ihres Volkes."
Die Sennora trat hinzu und lauschte den ihr unverständlichen Worten, aber niemand achtete ihrer.
Und nun berichtete der Indianer, während die Indianerin mit niedergeschlagenen Augen neben ihm stand, daß sie mit ihrem Gatten auf der Flucht vor den Leuten der Regierung, die alle kräftigen Männer mit Gewalt zu Soldaten aushob, am Abend des Unglückstages über die blutige Stätte in den drei Quellen gekommen sei. Unter den Toten fand sie ein junges, blühendes Leben, ein zweijähriges Kind, das angstvoll um sich schaute. Eine Machete hatte es gestreift und betäubt niedergeworfen, die Mörder hatten es für tot liegen lassen. Mali, der ein Liebling gestorben war, nahm mitleidsvoll das kleine Mädchen mit. Bald aber bemächtigte sich ihrer die Angst, als der Mann erkundete, daß man Indios im Verdacht habe, die Tat vollbracht zu haben, daß man sie für die Täter halten könne, und da Mali von dem kleinen lieblichen Wesen nicht lassen wollte, flohen sie weiter und weiter durch Berge und Wälder, immer in Angst vor den Offizieren der Militäraushebung und den Alguacils, die nach den Mördern forschten.
Der Llanero war zur Laube getreten und lauschte Maxtlas Worten.
So kamen sie zu den hier einsam wohnenden Leuten und nahmen Dienste bei ihnen. Das Kind erklärten sie in einem Kahne auf dem Flusse treibend gefunden zu haben, immer in der Angst, für die Tat auf dem jetzt so weit entfernten Schauplatz verantwortlich gemacht werden zu können.