„Bestell deiner Herrin, wir bitten eine halbe Stunde Bedenkzeit, danach wollen wir vor sie treten und ihr Bescheid sagen." Bilan gewann seine Fassung wieder. Er dachte, er habe es geschafft, warf den Marranen einen hochmütigen Blick zu und stelzte von dannen. „Die Narren erbebten, als ich ihnen mit schmetternder Stimme Eure Forderung vortrug", erzählte er dann der Hexe. „Sie werden bald kommen, um Euch ihrer Ergebenheit zu versichern, und wahrscheinlich wird sich das Gespräch nur darum drehen, daß Ihr ihnen einen nicht allzu hohen Tribut auferlegt." Die Hexe dankte ihm mit einem kühlen Kopfnicken. Während sie auf die Ankunft der Abgesandten wartete, begann in der Marra-nensiedlung ein geschäftiges Treiben. Männer liefen von Haus zu Haus, die sich gegenseitig etwas zusteckten, das man aus der Ferne nicht erkennen konnte, in den Höfen flitzten Jungen hin und her, die sich oft bückten und etwas von der Erde aufhoben. Kurze Zeit später bewegte sich ein Menschenhaufen auf den Berg zu, wo Arachna stand. Es schien merkwürdig, daß darin weder Kinder noch Frauen noch Greise zu sehen waren. Der Haufen bestand aus mehreren Hundert kräftigen Männern, der Blüte des Marranenvolkes. Merkwürdig war auch, daß ein jeder die rechte Hand hinter dem Rücken hielt, als wollte er etwas verbergen.Die Hexe erwartete auf ihrem fliegenden Teppich hochmütig die herankommende
Menge, während Ruf Bilan zu ihren Füßen hockte und wie Espenlaub zitterte. Die Marranen bildeten um Arachna einen Halbkreis, aus dem die Ältesten - Klem, Bois und Gart - hervortraten.
„Frau Zauberin Arachna", sagte lauter Stimme Gart, „Ihr wollt, daß wir uns Euch unterwerfen und Euch Tribut zahlen. Wir aber haben die Fürsten, Zauberer und Götter satt! Das ist unsere Antwort!" Dabei erhob er blitzschnell seine Rechte - es war das verabredete Angriffszeichnen, und im selben Augenblick kamen die geladenen Schleudern seiner Männer zum Vorschein und spuckten Hunderte von Steinen aus. Drei trafen die breite Stirn der Hexe, zwei ihr Kinn, Dutzende ihre Schultern, Brust und Bauch. Ein großer Pflasterstein traf Ruf Bilan und warf ihn um. Der Angriff war so gut vorbereitet und kam so plötzlich, daß Arachna keinen klaren Gedanken fassen konnte. Als die Marranen sich wieder bückten, um neue Steine in ihre Schleudern zu legen, schrie sie gellend:
„Teppich, Teppich, trag mich fort von hier!"
Der Teppich flog auf, doch mehrere Steine aus den Schleudern der besten Schützen erreichten und durchbohrten ihn an einigen Stellen, wodurch der Auftrieb und folglich auch die Geschwindigkeit gehemmt wurden. Außer sich vor Wut, packte die Hexe Bilan, und es fehlte nicht viel, so hätte er daran glauben müssen. Doch da fiel ihr ein, daß der Verräter ihr noch nützen konnte. Sie lockerte den Griff, ließ ihn los und fauchte: „Das also ist die Ergebenheit, die du den Marranen beigebracht hast, du Trottel?"
Bilan entgegnete schlau: „Wenn Eure Weisheit den tückischen Plan der Marranen nicht durchschaut hat, wie könnt Ihr es dann von mir, einem einfachen Sterblichen, verlangen?"
Darauf wußte die Hexe nichts zu erwidern. Welche Ansprüche konnte sie auch an Bilan stellen, wo sie doch selbst, eine Zauberin, die schon als Kind allerlei Schlauheiten und Finten gelernt hatte, sich in eine solch plumpe Falle hatte locken lassen! Um es den Marranen heimzuzahlen, beschloß Arachna, ein Erdbeben heraufzubeschwören. Da sie aber in ihrer Gereiztheit die Beschwörung nicht ganz richtig hersagte, fiel das Beben spärlich aus: Nur ein paar Steine lösten sich von den Bergen und rollten herab, und in einigen Häusern fiel das Geschirr zu Boden und zerbrach. Hätten Arachna und Ruf Bilan den Volksmund eines weit im Norden hinter dem Ozean liegenden Landes gekannt, so hätten sie sich nach ihrem Mißgeschick vielleicht gesagt: „Aller Anfang ist schwer."
Zeuge der schmählichen Niederlage Arachnas war ein alter kluger Eichelhäher. Er begriff, daß die Gefahr eines Überfalls nunmehr das Violette Land bedrohte, und beschloß, sich einzumischen. Er suchte eine Schwalbe auf und sagte zu ihr:
„Fliege so schnell du kannst zum Violetten Palast und sage den anderen Schwalben, sie sollen dem Eisernen Holzfäller über die Stafette ausrichten, eine schreckliche Gefahr sei im Anzug: Eine riesige Hexe, sie ist gut dreißig Ellen groß, will sein Land erobern. Die Zwinkerer mögen sich in acht nehmen!"
Die Vogelstafette bestand im Zauberland schon sehr lange. Sie stammte von der Krähe Kaggi-Karr, die Oberster Leiter des Nachrichtenwesens war und sich um dieses Geschäft verdient gemacht hatte. In diesem Zusammenhang sei noch gesagt, daß die Menschen des Zauberlandes mit den Tieren des Waldes und mit seinen Vögeln in Freundschaft lebten. Die Natur beschenkte die Einwohner dieses Landes großzügig mit Getreide, Obst und Gemüse, und auf den Wiesen weideten so viele Rinder, Schafe und andere Haustiere, daß die Wildjagd sich völlich erübrigte. Die Menschen kamen oft den Bewohnern des Waldes zu Hilfe, vor allem in Dürrezeiten, wenn die Früchte unreif von den Bäumen fielen. Dann trugen sie von ihren Vorräten Futter in den Wald, damit die wilden Tiere nicht zu hungern brauchten. Die Tiere wiederum halfen den Menschen, wenn diesen Gefahr drohte. Eine Art dieser Hilfe war die Vogelstafette. Die schnelle Schwalbe flog wie der Wind und überholte mühelos Arachna mit ihrem Teppich, der unter den Geschossen der Marranen arg gelitten hatte. Die Nachricht wurde über die Stafette so schnell weitergegeben, daß sie drei Stunden vor Arachna eintraf. Sie löste große Aufregung aus. Um so mehr, als die Zwinkerer im letzten Jahr nach dem Sturz des Feuergottes der Marranen in Frieden und Eintracht lebten. Von bösen Zauberern und Zauberinnen war nichts zu hören, und es schien, als bedrohe jetzt nichts mehr die Ruhe des Landes. An der Wahrheit der Nachricht konnte kein Zweifel bestehen. Die Gefahr nahte, und es war das Schlimmste zu befürchten. Die Vogelstafette überbrachte nur die wichtigsten Nachrichten, was sich aber im einzelnen zutrug, meldeten die Holzboten, die früher unter Urfin Juice Polizisten gewesen waren. Der Eiserne Holzfäller war gerade von der fälligen prophylaktischen Behandlung zurückgekehrt. Man hatte ihn geputzt und abgeschmiert und die Sägespäne in seinem seidenen Herzen ausgewechselt. Als er, auf Hochglanz poliert, aus der Werkstatt trat, funkelte er so stark, daß den Beschauern die Augen weh taten.
Der Mechaniker Lestar, ein kleiner, schon alter, aber noch sehr rüstiger und lebhafter Mann, unterrichtete den Holzfäller über die heranrückende Gefahr, worauf dieser sofort mehrere Anordnungen erteilte, die von Verstand und großer Erfahrung in militärischen Dingen zeugten. Eilboten jagten durch das Land und übermittelten den Einwohnern den Befehl, die nächstgelegenen Dörfer zu räumen. Man solle, hieß es in der Verfügung des Herrschers, die Farmen verlassen und hinter den festen Mauern des Violetten Palastes Deckung nehmen. Hirten trieben ihre Herden in Schluchten, die nur ihnen bekannt waren. Ein Teil der Armee -die Bogenschützen - bezog in den steinernen Türmen Verteidigungsstellung, ein anderer plazierte sich auf dem Dach des Palastes hinter den Schornsteinen, der Rest verschanzte sich hinter großen Steinen, die am Straßenrand lagen.