,,Urfis wird jetzt nie wieder die Macht erobern! Tim hat mit seinem Volleyballspiel alle Hoffnungen des Tischlers zerschlagen, und dabei wurde kein Tropfen Blut vergossen!"
Die Zuhörer mußten schmunzeln, als sie sich vorstellten, wie die Marranen, die einen Kampf auf Tod und Leben erwartet hatten, sich in leidenschaftliche Volleyballspieler verwandelt und es vorgezogen hatten, statt den Feind den Ball zu schlagen. Dann begann die Schule, und Tim und Ann gaben sich ganz dem Lernen hin. Grammatik und Arithmetik, Schönschreiben, Geschichte und Erdkunde des Heimatlandes... Am Vormittag Schule, am Nachmittag Hausaufgaben... Darüber gerieten die spannenden Abenteuer nach und nach in Vergessenheit. Vor Schluß des Schuljahres gab es ein Ereignis, über das alle Menschen auf der Farm sehr erfreut waren: Kapitän Charlie Black war wieder einmal zu Besuch bei seinen Verwandten eingetroffen. Vor einigen Jahren, als der Einbeinige Seemann die Familie Smith aufgesucht hatte, war Ann noch ganz klein gewesen.
Aber sie erkannte jetzt den Onkel sofort wieder, denn Charlie hatte sich nur wenig verändert. Dieselbe muskulöse und straffe Gestalt, nur daß das Gesicht jetzt etwas brauner und die Stirn um ein paar Falten reicher war. Auch hatte Charlie jetzt mehr graue Haare als früher. Wie immer hielt er die alte Pfeife im Mund, und wie ehemals stampfte er mit dem Holzbein, das runde Spuren im Staub hinterließ. Charlie war gerade von den Kuru-Kussu-Inseln zurückgekehrt, die er regelmäßig zu besuchen pflegte, um mit seinen Freunden, den Menschenfressern, Tauschhandel zu treiben. Der Seemann hatte seinen Verwandten viele Geschenke mitgebracht: große Muscheln, in denen man, wenn man sie ans Ohr legte, das ferne Rauschen der See hören konnte, hölzerne kleine Götter mit bizarren Gesichtern, ausgestopfte Papageien mit farbenprächtigen Federn... Charlie hatte auch an die Kinder auf den Nachbarfarmen gedacht. Tim O'Kelli erhielt einen straffgespannten Bogen mit Pfeilen, und wenn er aus der Schule kam, lief er schnurstracks in die Prärie, wo er stundenlang Rebhühner und Zieselratten jagte. Kaum hatte Charlie Black den gastlichen Boden der Farm betreten, da erzählte man ihm auch schon von den Abenteuern Anns und Tims im Zauberland.
„Bei allen Gewittern der Südsee!" rief Charlie, hefig paffend, „ich sehe, daß die kleine Schwester nicht weniger Abenteuerglück hat als die große! Aber halt, Anker zurück! Das Mädchen soll selbst erzählen, und zwar mit allen Einzelheiten, Tim mag sie verbessern, wenn sie etwas falsch sagt. Du aber, Artochen, setz dich neben uns, schau mir in die Augen und wedle mit dem Schwanz, wenn alles stimmt, was Ann erzählt." Charlie Blacks Wunsch wurde erfüllt. Mehrere Abende saß er mit den Kindern auf einem großen Stein in der Prärie, hörte der langen Geschichte vom Feuergott der Marranen zu, nickte beifällig oder fluchte auf Seemannsart, wenn ihm etwas nicht gefiel und seinen Zorn erregte. „Sag bitte, wo ist der Silberreif, den der König der Füchse dir geschenkt hat?" fragte er die Nichte, als sie geendet hatte. „Hast du ihn mitgenommen?"
„Wozu denn?" fragte das Mädchen verwundert. „In Kansas hätte er doch keine Zauberkraft gehabt. Ich hab ihn im Violetten Palast beim Eisernen Holzfäller gelassen."
„Schade, schade", sagte der Seemann, die Brauen runzelnd. „Silber und Rubine werden überall geschätzt."
„Aber Onkel, Geld ist doch nicht das Wichtigste im Leben!" wandte Ann ein. „Hier würden wir dafür, ich weiß nicht wieviel Dollar bekommen, dort aber wird der Reif vielleicht meinen Freunden in einer wichtigen Angelegenheit nutzen..." „Hol mich der Pottwal, wenn das nicht stimmt, Mädchen!" sagte der alte Seemann anerkennend. Schon am ersten Tag nach seiner Ankunft hatte man Charlie die mechanischen Maulesel gezeigt, die seine Bewunderung erregten. Er streichelte ihr samtenes Fell, unter dem die starken Muskeln sich wölbten, zauste ihre zottigen Mähnen und rief ihnen zärtliche Worte zu, die sie mit lautem Wiehern erwiderten. Cäsar und Hannibal spielten jetzt in der Wirtschaft John Smiths eine wichtige Rolle. Die brave Stute Mary konnte nun ausruhen, denn die Maulesel verrichteten jetzt alle Feldarbeiten. Vor den Pflug gespannt, bearbeiteten sie das Feld, zogen dann die schwere Egge und waren unermüdlich, bis man die Ernte unter Dach und Fach hatte. Die Maulesel besorgten alles so schnell, daß John viel freie Zeit blieb, die er dazu verwandte, den Nachbarn bei Aussaat und Ernte zu helfen, womit er nicht wenig Geld verdiente. Der Farmer konnte sich an seinen gehorsamen und unermüdlichen mechanischen Helfern nicht sattsehen, und nur an sonnenlosen Tagen führte er sie in den Stall. Wie viele Dankbriefe schrieb Ann unter seinem Diktat an Fred Cunning, der jetzt schon Ingenieur im mechanischen Werk der Brüder Osbaldiston im Staat Minnessota war! Selbstverständlich unternahm Charlie Black mit den mechanischen Mauleseln oft Spazierritte. Ein geschickter Reiter wie alle Seeleute, galoppierte er auf dem Rücken Hannibals durch die Prärie, und an seiner Seite jauchzte Ann auf dem Rücken Cäsars. „Schneller, noch schneller!" rief das Mädchen, den Geschwindigkeitshebel auf Höchsttempo stellend. Kurz vor dem Tag, an dem Charlie Black abreisen sollte, gab es ein Ereignis, das alle seine Pläne umwarf und ihn in neue ungewöhnliche Abenteuer verstrickte.
Einmal saßen Charlie Black, Ann und Tim bis zum Abend in der Prärie. Tim konnte nicht aufhören, den Seemann zu bitten, ihn mitzunehmen. „Was macht es schon aus, Kapitän, daß ich erst elf bin!" sagte der Junge. „Bin ich vielleicht nicht groß und stark wie ein Fünfzehnjähriger? Aus mir wird noch ein prima Schiffsjunge, drauf könnt Ihr Euch verlassen!"
Der paffende Kapitän erwiderte scherzend:
„Wird es dir nicht leid tun, deine Freundin zu verlassen, Tim? Sie wird sich doch nach dir sehnen!"
Tim runzelte die Stirn und wiederholte, was er von Erwachsenen gehört hatte: „Männer sollen in die Welt ziehen, um ihr Glück zu suchen, Frauen aber sollen zu Hause bleiben und den Herd hüten." Der Kapitän schüttelte sich vor Lachen.
„Bei allen Eisbergen, das ist gut gesagt! Hör mal, Junge, in drei vier Jahren komme ich wieder, und dann bist du schon groß, und ich nehme dich als Matrose mit."
Damit konnte sich Tim natürlich nicht abfinden. Er wollte schon etwas entgegnen, doch in demselben Augenblick gewahrte das scharfe Auge des Seemanns am abendlichen Himmel einen dunklen Punkt, der schnell größer wurde, näher kam und schließlich seltsame Umrisse annahm. Am rötlichen Horizont erschienen ein hässlicher Kopf mit einem langen Hals, der einen Kamm trug, zwei riesige schwingende Flügel und ein Rücken, auf dem ein kleiner Käfig stand. „Ein Drache! Die Erde soll mich verschlingen, wenn das nicht ein Drache ist!" rief Charlie aus. „Genauso einen haben ich und Elli in der Höhle gesehen, in die uns der unterirdische Gang geführt hatte!" „Das kann nur Oicho sein", rief Ann entzückt. „Ja, das ist Oicho!" sagte Tim. „Nur er kennt den Weg nach Kansas!" Der Drache, dessen gelblicher Bauch in den Strahlen der untergehenden Sonne glänzte, zog große Kreise über dem Seemann und den Kindern, die aufgesprungen waren. Jetzt konnte man auch einen Kopf mit einem spitzen Hut und ein Gesicht erkennen, aus dem zwei Augen die Leute auf der Erde aufmerksam betrachteten.
„Faramant! Ann, das ist doch Faramant!" rief Tim freudig und fuchtelte mit den Armen, womit er dem Drachen zu verstehen gab, er möge herabsteigen. Das Ungeheuer ging rauschend nieder. Aus dem Käfig wurde die Tür aufgestoßen und eine Strickleiter herabgelassen, die ein kleiner Mann mit grünem Rock und grüner Brille hinabzusteigen begann. Er hatte den Fuß noch nicht auf die dritte Stufe gesetzt, als ein schwarzer Vogel aus dem Käfig flatterte und direkt auf Ann zuflog. „Kaggi-Karr!" schrie Ann überrascht.