Tilli-Willi hieß der kleine heidnische Götze, den der Kapitän Ann geschenkt hatte. Er unterschied sich von den anderen Götzen, die der Seemann von den Kuru-Kussu-Inseln mitgebracht hatte, durch seine besondere Häßlichkeit. Welchen geheimen Zweck Charlie Black mit diesem Götzen verfolgte, wird der Leser noch erfahren. Als letzter bestieg Tim O'Kelli die Kabine. Er trug das Hündchen Arto unterm Arm, das gleichfalls an der ungewöhnlichen Expedition zur Rettung des Zauberlandes vor den Tücken der Hexe Arachna teilnehmen sollte. Oicho schwang die mächtigen Flügel, ein Wirbel aus Staub und trocknem Gras erhob sich, und im nächsten Augenblick verschwand der Drache mit seiner Last im finsteren Himmel.
Die Reisenden schliefen mehrere Stunden ruhig auf den bequemen Pritschen in der gleichmäßig schaukelnden Kabine. Als sie erwachten, lagen bereits viele Dutzende Meilen hinter ihnen. Der Kapitän und seine Gefährten nahmen das Frühstück ein und schauten zum Kabinenfenster hinaus. In der großen Höhe, in der Oicho flog, konnten die Kinder jedoch wenig erkennen, und Langweile beschlich sie. Der Seemann erzählte die lange Geschichte von den Abenteuern, die er in Südafrika erlebt hatte, als er noch jung war. Immer weiter trug der Drache mit seinen mächtigen Flügeln die Menschen, bis sie die Große Wüste erblickten. Ein unüberwindliches und schreckliches Hindernis für Fußgänger und Reiter, bot diese Wüste dem Zauberland sicheren Schutz gegen die übrige Welt. Oicho bewegte leicht und schnell die riesigen Hautflügel, ihm konnten weder der endlose Sand noch die schwarzen Steine Gingemas bange machen. Die schwarzen Steine! Wie viele Erinnerungen weckten sie bei den Insassen der Kabine! Charlie Black mußte daran denken, wie er, Elli und Toto an einem solchen schwarzen Stein fast vor Durst vergingen und wie dann die Krähe Kaggi-Karr mit einer herrlichen Weintraube angeflogen kam und ihnen das Leben rettete. Die Krähe schien an dasselbe zu denken, denn sie blickte den Seemann mit einem Ausdruck an, als wollte sie sagen: ,Ich kann mich noch genau daran erinnern, aber ich empfinde gar keinen Stolz deshalb!"
Charlie streichelte Kaggi-Karr, die sich sehr zärtlich an ihn schmiegte. Als Tim und Ann die zwei schwarzen Pünktchen im gelben Sand erblickten, erinnerten sie sich daran, wie das Mädchen im vergangenen Jahr an dieser Stelle fast gestorben wäre, hätte Hannibal sie mit seiner Kraft und Ausdauer nicht gerettet. Unter den Flügeln des Drachen zeigten sich die Weltumspannenden Berge, die der große Zauberer Hurrikap in alter Zeit erschaffen hatte. Ein undurchdringliches Chaos von Bergketten und tiefen Schluchten mit noch unerforschten Geheimnissen lag da unten, und Ann und Tim dachten mit Staunen, wie flink ihre mechanischen Maulesel gewesen sein mußten, um dieses Hindernis zu überwinden. Lachend versprachen sich der Junge und das Mädchen, die Weltumspannenden Berge in Zukunft nur noch mit Drachen oder äußerstenfalls mit Riesenadlern von der Art zu überqueren, die sie auf ihrer ersten Reise kennengelernt hatten. Unter ihnen glitten schneebedeckte Gipfel und Gletscher dahin, die das menschliche Auge jedoch nicht blendeten, denn ihr weißer Glanz wurde hier durch den Gelben Nebel gedämpft, der über den Bergen lag, allerdings ohne die Sicht zu stören. Ein ganz anderes Bild bot sich unseren Helden beim Überfliegen des Zauberlandes. Der Nebel war nicht sehr dicht, doch aus der Höhe, in der Oicho flog, konnte man die Erde nicht sehen. Der mächtige Drache verstärkte seine Flügelschläge, doch in dem gelben Dunst schien es, als bewege er sich nicht von der Stelle. Kaggi-Karr und Arto erhielten ihre Sprache zurück, als Oicho noch über den Bergen flog. Daß die Krähe sprechen konnte, kam den Reisenden jetzt gut zustatten, denn Kaggi-Karr hatte das Zauberland kreuz und quer durchwandert und kannte es ausgezeichnet. Sie trat aus der Kabine, setzte sich auf Oichos Kopf und erteilte ihm nun Befehle. Vor allem hieß sie ihn die Höhe verringern und in Tiefflug geben, denn nur so konnte man die Gegenstände auf der Erde ausmachen und den Kurs richtig bestimmen. „Rechts! Geradeaus! Links!...", kommandierte die Krähe, und Oicho führte prompt ihre Befehle aus. Die Kabineninsassen blickten zur Erde. Als Ann das Zauberland gewahrte, schlug sie die Hände über dem Kopf zusammen und begann zu weinen. Was war aus dem einst so schönen Land geworden! Wo waren die heiteren Wiesen mit dem üppigen Gras und den herrlichen Blumen verschwunden? Wo das dichte Laub der grünen Haine mit den saftigen Früchten und bunten Papageien, die schreiend von Zweig zu Zweig flogen? Jetzt lag alles öde und ausgestorben da. Schnee bedeckte die weiten Wiesen und nackten Bäume, kalte Winde trieben dürre Blätter vor sich her. Nirgends war ein Tier zu sehen. Alle Vögel waren verschwunden, Gold-und Silberfischlein lagen unter dem Eis, das jetzt die einst durchsichtigen Bäche bedeckte.
Sogar Faramant war vom düsteren Bild der Verwüstung überrascht, das sich den Reisenden bot. Es waren erst sechs Tage seit seiner Abreise vergangen, doch wie schrecklich hatte sich alles in dieser kurzen Zeit verändert! Unfaßbar, welche Gewalt der Winter über die Natur des einst so heiteren und sonnigen Landes errungen hatte! Unweit tauchte mitten im Walde ein langer glatter Streifen auf, in dem die scharfäugige Kaggi-Karr den gelben Backsteinweg erkannte, obwohl er von Schnee verweht war. „Geradeaus und nach rechts!" befahl sie dem Drachen. „Jetzt kommen wir nicht mehr vom Weg ab."
„Oh, wüßtet ihr, wie man dort unten auf uns wartet!" seufzte Faramant. Oicho steigerte das Tempo. Plötzlich erschien auf dem Weg eine Riesenfigur in blauem Gewand, das sich kraß vom weißen Schnee abhob. Faramant packte Charlie Black am Ärmel und lallte mit vor Entsetzen gelähmter Zunge: „Arachna!"