„Was hast du?" fragte Tim besorgt. „Bist wohl übergeschnappt?" Doch da fiel sein Blick auf die Silberpfeife an Anns Hals, und er jauchzte auf: „Ramina? Du hast an Ramina gedacht?"
„Natürlich", erwiderte das Mädchen. „Halt bitte Arto fest!" Ann bließ in die Pfeife, die ihre große Schwester einst von der Königin der Feldmäuse geschenkt bekommen hatte, und im nächsten Augenblick stand Ramina mit mehreren Hoffräulein da. Arto wollte sich auf sie stürzen, doch Tim hielt ihn fest. „Guten Tag, Eure Majestät!" begrüßte Ann die kleine Königin. „Guten Tag, liebes Kind!" erwiderte Ramina. „Ich freue mich, dich zu sehen, und auch Tim, den Riesen von jenseits der Berge und sogar das Hündchen, meinen Erzfeind. Es ist mir sehr angenehm, daß ihr alle wohlauf seid. Gerade jetzt, wo wir uns wiedersehen, befindet sich unsere Heimat in schwerer Not. Mein Volk hat viel zu leiden..."
„Hoffentlich ist niemand von Euren Untertanen umgekommen?" fragte das Mädchen teilnahmsvoll. „Noch nicht. Wir haben im unterirdischen Gang, der aus dem alten Turm führt, Unterschlupf gefunden. Der Riese von jenseits der Berge hat euch von diesem Gang wahrscheinlich erzählt." „Ja, ja!" rief Ann lebhaft. Charlie Black fügte hinzu: „Ihr wart es, die uns damals diesen Weg wiest. Wir haben uns dort mit dem Sechsfüßer geschlagen!"
„Dieser unterirdische Gang ist jetzt unsere Zuflucht. Dort gibt es keinen Gelben Nebel, doch leider auch nichts zu essen." „Eure Majestät!" sagte Ann, „wir sind in das Zauberland gekommen, um den Gelben Nebel zu vertreiben, und wir bitten Euch, uns beizustehen." „Wie sollen wir euch beistehen, wo wir doch so klein und schwach sind?" fragte Ramina verwundert. „Wir haben die Riesin Arachna gesehen, wie sie einmal, in Gedanken versunken, über ein Feld ging, auf dem meine Untertanen zogen. Die Hexe trat unabsichtlich auf unseren Zug, und dabei sind 140 Mäuse umgekommen, unter denen sich mehrere sehr ehrenwerte Personen befanden!"
Der Scheuch und seine Kameraden drückten der Königin ihr tiefstes Beileid aus, und dann erzählte ihr Charlie Black vom Riesen Tilii-Willi, der es mit Arachna aufnehmen werde. Er nahm Ramina und ihr Fräulein auf die Hand und zeigte ihnen durch das Fenster den automatischen Giganten. Die Mäuse erzitterten vor Schreck, als sie das grimmige Gesicht des eisernen Ritters erblickten. „Aber wir können uns mit Arachna nicht messen, solange sie den fliegenden Teppich besitzt", sagte der Seemann. „Unser TilliWilli ist zu langsam. Wenn die Hexe ihm entschlüpft und mit dem Teppich fortfliegt, wird er sie nicht einholen können, deshalb richten wir an das Mäusevolk die dringende Bitte, den Zauberteppich zu vernichten." „Das können wir!" piepste Ramina erfreut. „Wir werden den Teppich so zernagen, daß nichts von ihm übrigbleibt."
Der Scheuch und seine Kameraden klatschten begeistert in die Hände, wobei sie Arto völlig vergaßen, der sich schon duckte, um die Mäuse anzuspringen. Tim packte ihn gerade noch rechtzeitig am Nacken und verhinderte so ein Unglück.
„Der Weg von unserem Unterschlupf zu den Besitzungen der bösen Hexe ist jedoch weit", fuhr Ramina fort, „und voller Hindernisse, darunter reißende Wildbäche, Berge und tiefe Schluchten... Wir brauchen einen Begleiter, der kräftig und flink sein soll und uns an den gefährlichen Stellen helfen kann."
Ihr Blick blieb auf Tim O'Kelli ruhen, der sich geschmeichelt fühlte und sofort seine Dienste anbot. Aufrichtig gesagt, fürchtete der Einbeinige Seemann, den Jungen allein auf eine so weite und gefährliche Reise zu schicken, doch er sah keinen anderen Ausweg. Weder Charlie, noch der Eiserne Holzfäller noch Din Gior eigneten sich als Begleiter des Mäusevolks, denn sie waren mit der Zeit schwerfällig geworden. Faramant oder den Doktor konnte der Kapitän mit dieser Aufgabe auch nicht betrauen, weil beide schwächlich und schon im fortgeschrittenen Alter waren.
„Nun denn, mein Junge", sagte schließlich der Kapitän seufzend, „du darfst gehen, aber ich beschwöre dich bei allen Masten unseres Schiffes, sei vorsichtig! Ich wünsche dir eine glückliche Reise, Kamerad, und Hals- und Beinbruch!"
Während man Tim für die Reise ausstattete, wobei natürlich Filter aus Rafalooblättern und Schutzbrille nicht vergessen wurden, erkundigte sich die Mäusekönigin bei Ann und Charlie nach ihrer guten Freundin Elli. Sie fragte, wie sie lerne und ob sie gesund sei, auch wollte sie wissen, wie es dem ehemaligen Zauberer Goodwin gehe, nachdem er das Zauberhandwerk aufgegeben hatte und in den Ruhestand getreten war. Als man ihr sagte, Goodwin führe eine Gemischtwarenhandlung, schüttelte die Königin mißbilligend den kleinen Kopf. Tim stand bereits reisefertig vor der Tür. Sein Rucksack war bis oben gefüllt mit Proviant und was man sonst noch unterwegs brauchen kann; in seinem Gürtel stak eine kleine scharfe Axt mit festem Stiel. „Du sollst nicht zu Fuß reisen, Tim", sagte der Scheuch. „Die Zeit ist kostbar, wir müssen jede Stunde sparen. Faramant, gib Tim den Zauberteppich Ruscheros!"
Bei der Übergabe des Teppichs, an dem eine Inventarmarke hing, schärfte Faramant, der jetzt Leiter des Versorgungsdienstes war, dem Jungen ein, auf diesen kostbaren Gegenstand gut aufzupassen. In das Inventarbuch aber trug er ein: „Teppich auf Verfügung des Weisen Scheuchs zur zeitweiligen Nutzung an Tim O'Kelli übergeben."
Tim trat aus dem Wagen, breitete den Teppich aus, setzte sich auf ihn und steckte Ramina mit ihrem Mäusegefolge in seinen Hemdausschnitt, wo sie sich sehr wohl fühlten. „Trag uns, kleiner Teppich, zum Eingang in den unterirdischen Flur, der bei der Farm von Lin Raub beginnt!" befahl der Junge. Die Adresse hatte ihm zuvor die Mäusekönigin gegeben. Der Teppich stieg auf und schwenkte in die genannte Richtung ein. Faramant folgte ihm mit den Augen, bis er verschwand. Dann gab er den Holzköpfen ein Zeichen, und der Wagen setzte sich langsam in Bewegung. Der tapfere Trupp bewegte sich auf den Süden zu. Bis zum Großen Fluß sollte er dem gelben Backsteinweg folgen, diesen dann verlassen und den Unterschlupf Arachnas in den wilden Bergen suchen, der irgendwo zwischen dem Blauen Land und den Besitzungen Stellas lag. Das Sitzen im holpernden Wagen, den die Holzköpfe langsam zogen, war recht langweilig, und deshalb wandte sich Ann mit honigsüßer Stimme an den Seemann:
„Onkelchen Charlie, ich muß fortwährend an die wunderbare Geschichte von Lord Baumcharlie und Professor Vogel denken, die du uns erzählt hast." Eine List ahnend, brummte Charlie:
„Na und? Wer hindert dich denn, daran zu denken?" „An etwas Altes zu denken, ist natürlich gut, doch etwas Neues zu hören, ist wohl viel besser",
sagte das Mädchen, verschmitzt lächelnd. Sie schmiegte sich noch enger an den Onkel und bat: „Erzähle mir bitte noch eines deiner Erlebnisse, du hast doch selbst gesagt, daß du viele Abenteuer erlebt hast?"
Der Seemann ließ sich erweichen. „Du Schmeichelkätzchen", sagte er, „welches Abenteuer möchtest du denn hören?"
„Erzähl, wie du dein Bein verloren hast!" schlug Ann vor. „War es nicht bei einem Kampf mit Piraten?" „Du hast es fast erraten", sagte Charlie
Black. „Schön, also hört alle aufmerksam zu."
Charlie Black begann seine lange Geschichte zu erzählen.
Der Flug mit dem Zauberteppich zum unterirdischen Gang, in dem sich die Mäuse aufhielten, dauerte eine Stunde - zu Fuß hätte Tim einen ganzen Tag dafür gebraucht. Beim Landen rief er begeistert: „Ein großartiger Teppich! Ich wünschte mir, so einen in Kansas zu besitzen!"