„Wie soll ich es dir sagen? Geschlafen kommt vom Wort Schlaf und ist sehr schwer zu erklären", erwiderte Lestar. „Aber ich will es versuchen.
Stell dir vor: Es liegt ein Mensch da, bis sich seine Augen schließen, und dann sieht und hört er nichts mehr. Erst Stunden später kehren die Sinne zu ihm zurück, das heißt dann, er sei erwacht." „Wieso, das ist doch gefährlich!" rief der Riese entsetzt. „An einen Schlafenden können sich Feinde heranschleichen und mit ihm tun, was sie wollen, sogar töten!" „So schlimm ist es nicht", erwiderte Lestar schmunzelnd. „Wenn ein Feind in der Nähe ist, schlafen die Menschen nicht oder sie stellen Wachen auf. Ohne Schlaf kann ein Mensch nicht leben, der Schlaf stellt seine Kräfe wieder her und macht ihn frisch und munter." „Was seid ihr doch für unvollkommene Wesen", bemerkte Tilli-Willi. „So viel Zeit umsonst zu verlieren! Völlig unproduktiv! Ich bin nicht so. Nachts, wenn alles ruhig ist, kommen mir verschiedene interessante Gedanken. Heute zum Beispiel habe ich mir ein Schema ausgedacht, es ist bestimmt ein sehr nützliches Schema, ich schwöre es bei allen Masten der Welt!" Die Reisetage waren für den eisernen Ritter nicht umsonst vergangen. Er hatte sich stundenlang mit Lestar über verschiedene Dinge unterhalten, vor allem über Technik. Er hatte dabei viel gelernt, und auch sein Wortschatz war um vieles reicher geworden. „Was ist das für ein Schema?" fragte Lestar überrascht. „Ich weiß jetzt, wie ich mich selbst aufladen kann", sagte TilliWilli. „Diese Holzköpfe, die mich ständig mit ihren Leitern umtanzen und die mit ihren Schlüsseln in mir stochern - daß sie die Flut ersäufe! - gehen mir schrecklich auf die Nerven. Da hab ich mir gedacht: Wenn man mir noch einige Federn und Hebel einsetzen und die Zugstangen zweiseitig machen würde..." Der Riese begann so ungeheuer komplizierte technische Gedanken darzulegen, daß es, meine ich, keinen Zweck hat, sie hier wiederzugeben, weil außer Spezialisten sie kaum jemand verstehen würde. Sein Vorschlag bestand, um es kurz zu sagen, darin, durch Einbau zusätzlicher Hebel und Federn die Maschinerie in seinem Bauch so zu vervollkommnen, daß sich beim Heben oder Senken eines Arms der andere aufzieht und daß das linke Bein das rechte aufladet und umgekehrt. Lestar war entzückt über diese Idee. Er öffnete die Tür und steckte den Kopf hinaus, um besser zu hören, und rief schließlich froh aus: „Höre, Junge, du bist ein genialer Mechaniker!"
„Genial ist wohl übertrieben", wehrte Tilli-Willi ab. „Ich habe einfach viel freie Zeit, die ich nicht mit allerlei Unsinn wie Essen und Schlafen vertrödle!" Lestar, dem die Neuigkeit fast die Brust zersprengte, lief zum Wohnwagen hinüber, weckte Charlie Black und erzählte ihm von der Idee des eisernen Ritters, worüber auch der Seemann in Begeisterung geriet. Am nächsten Tag machte man sich in aller Frühe ans Werk. Im Gepäck des Seemanns fanden sich die notwendigen Federn und Hebel, und sogleich begann die Rekonstruktion des mechanischen Riesen, bei der Tilli-Willi sehr nützliche Anweisungen gab. Am Abend des nächsten Tages war die
Arbeit beendet und Lestar sagte zum Riesen:
„Mein lieber Tilli, jetzt ist es soweit! Du brauchst meine Dienste nicht mehr, und ich nehme von dir Abschied!"
„Was bedeutet das?" fragte der Riese erstaunt.
„Das bedeutet, daß ich nicht mehr in deinem Bauch zu sitzen brauche und daß meine Nichtigkeit dich auch nicht mehr belasten wird!" ,,Das will ich ja gar nicht", entgegnete Tilli-Willi mißmutig. „Für mich seid Ihr leicht wie eine Feder, und ich kann mir gar nicht vorstellen, wie ich ohne meinen Führer und, ich wage es zu sagen, meinen Lehrmeister und Freund, durch die Straßen gehen soll. Die Langweile könnte ich nicht ertragen! Da gäbe es ja niemanden, mit dem man ein Wort wechseln könnte. Deshalb bitte ich, ehrwürdiger Lestar, Euren Platz wieder einzunehmen!"
Darauf schmunzelte der Mechaniker und stieg in seine Kabine ein. Von diesem Tag an machte die geistige Entwicklung Tilli-Willis gute Fortschritte, doch seinem Lehrmeister bereitete das nicht wenig Schwierigkeiten. Am Tag stapfte der Riese hinter dem Wagen einher, nachts aber hatte er viel Zeit zum Nachdenken und gab dem Mechaniker keine Ruhe. Er stellte ihm unzählige Fragen, wie es gewöhnlich dreijährige Jungen tun, und das Ende dieser Fragerei war gar nicht abzusehen. „Woraus ist die Sonne gemacht und warum zieht sie über den Himmel?" „Woher kommen die Flüsse?" „Warum ist es in der Nacht finster?" „Warum weht der Wind?" „Warum hat mein Papa nur ein Bein?" „Wie leben die Menschen auf der anderen Seite der Berge?" und so weiter und so fort. Der gute Lestar gab sich die größte Mühe, die Fragen des wißbegierigen Tilli-Willi so gut er konnte zu beantworten, aber oft schlief er mitten im Satz ein...
Es gab kaum noch eine Nacht, in der Lestar ausschlafen konnte, deshalb versuchte er es am Tage, wenn der Riese ihn in Ruhe ließ. Für den kleinen Mechaniker aus dem Land der Zwinkerer war es ein schweres Amt, Lehrmeister des jungen Tilli-Willi zu sein.
Als die Rekonstruktion des eisernen Ritters beendet war, hatte sich die Kampfstärke des Trupps unter der Führung des Scheuchs und Charlie Blacks gewaltig erhöht. Jetzt, wo man sich den Besitzungen Arachnas näherte, war große Vorsicht geboten. Mit dem kleinen Teppich konnte Charlie Black keine Erkundungsflüge mehr unternehmen, doch gab es die erprobte Kämpferin Kaggi-Karr, die dem Trupp stets einige Meilen vorausflog, den Weg inspizierte, sich überall umschaute und immer mit wertvollen Auskünften zurückkehrte. Kam man an eine Schlucht, über die eine Brücke gebaut werden mußte, so war der eiserne Ritter gleich zur Stelle. Im Handumdrehen fällte er ein paar große Bäume, die er nach den Weisungen Lestars verlegte. Bald konnten sich unsere Helden überzeugen, daß Arachna über ihren Vormarsch unterrichtet war. Der Wagen fuhr durch eine Lichtung, und als er ihre engste Stelle erreichte, stürzten die Holzköpfe und verschwanden, als hätte sie die Erde verschlungen. Die Vorderräder des Wagens versanken in ein Loch, die Achse zerbrach, die Insassen fielen kopfüber, rutschten den geneigten Wagenboden hinab, prallten gegen die Wände und gegeneinander. Die Verletzten stöhnten, und Arto, auf den der Eiserne Holzfäller gefallen war, heulte vor Schmerz. „Wir sind in eine Falle geraten!" rief Charlie Black. „Das hat uns Arachna beschert."
Während die Menschen sich mühsam erhoben, traf Tilli-Willi ein. Er zog den Wagen aus der Grube, stellte ihn an einen ebenen Ort und fragte besorgt: „Papa Charlie, wie fühlst du dich? Ist dir etwas passiert, hast du vielleicht einen Knochen gebrochen?"
„Nein, nein, mein Kindchen!" erwiderte der Einbeinige Seemann gerührt. „Ich habe nur eine Beule, weiter nichts." ,,Was ist das, eine Beule?" Das mußte dem wißbegierigen Riesen erklärt werden. Erst dann machte er sich mit dem Mechaniker Lestar daran, eine neue Achse zu zimmern und das zerbrochene Rad zu richten. Inzwischen renkte Doktor Boril den Verletzten Arme und Beine ein und legte Salbe auf ihre Wunden. Die Reparatur des Wagens endete erst am Abend, und deshalb beschloß man, an dieser Stelle zu übernachten.
„Wir sind noch gut davongekommen", sagte Charlie Black, „es hätte viel schlimmer ausgehen können. Die Hexe ist gefährlich, wir müssen auf der Hut sein."
„Man soll nicht in eine Grube fallen", sagte der Scheuch bedächtig. „Eine Grube ist schlimm, ein ebener Weg gut. Wenn wir immer nur auf ebenen Wegen fahren, werden wir niemals in Gruben fallen."
Alle Anwesenden gaben dem Scheuch recht, konnten aber mit seinem Rat nicht viel anfangen, denn vor getarnten Fallen bot er keinen Schutz. Am nächsten Tag schlug man das Nachtlager am Ufer eines kleinen tiefen Flusses auf. Charlie Black, Ann, Din Gior, Faramant, Boril und Tim schliefen, vom holprigen Weg erschöpf, im Wagen. Nur der Scheuch und der Eiserne Holzfäller, die keinen Schlaf kannten, unterhielten sich. Das Gespräch, das sie seit vielen Jahren führten, drehte sich immer um die Frage, was besser sei: ein Gehirn oder ein Herz. Während ihres hitzigen Streitgesprächs drang plötzlich dumpfer Lärm aus der Ferne, und im selben Augenblick erbebte die Erde. „Muß wohl ein Erdsturz sein", sagte der Holzfäller und fuhr fort nachzuweisen, daß ein Mensch, der ein liebendes Herz hat, kein Gehirn brauche. Es verging fast eine Stunde. Charlie Black träumte, er fahre auf einem Schiff und höre die See außenbords rauschen. Er erwachte, und zu seiner Verwunderung hörte er unter dem Wagenboden wirklich Wasser rauschen. Er stieß die Tür auf, schaute hinaus und gewahrte Wasser. Soweit das Auge Finsternis und Nebel durchdringen konnte, war nichts als Wasser zu sehen. „Alarm!" rief Charlie. „Überschwemmung!" Din Gior, Faramant, Boril, Tim und Ann sprangen von ihren Sitzen auf.