„Lestar schläft natürlich in seiner Kabine, und Tilli-Willi kommt von selbst nicht auf den Gedanken, daß wir seine Hilfe brauchen", sagte Din Gior. „Er versteht nicht, wie bedrohlich unsere Lage ist. Ich gehe mal schnell hin!" Er warf seinen prächtigen Bart über die Schulter, den Ann einen Tag vorher zu einem dreisträhnigen Zopf zusammengeflochten hatte, und stieg aus dem Wagen. Er mußte bis zur Brust im Wasser waten, um zum Riesen zu gelangen, und als er schließlich dessen Beine erreichte, begann er mit der Faust gegen sie zu hämmern. „Was ist los?" rief Lestar, der nach einem wie immer sehr ermüdenden Gespräch mit seinem Zögling gerade erst eingeschlafen war. „Schau hinaus, du wirst's sehen!" erwiderte Din Gior. Tilli-Willi hatte bereits begriffen, daß etwas Schlimmes geschehen war. Er nahm Din Gior vorsichtig auf die Hand und setzte ihn auf seine Schulter. Charlie Black, der die Tür hinter Din Gior zugeschlagen hatte, machte jetzt dem Scheuch, dem Eisernen Holzfäller und Lan Pirot, der zur Berichterstattung erschienen war, Vorwürfe, weil sie das Alarmsignal nicht rechtzeitig gegeben hatten. Der Scheuch und der Holzfäller rechtfertigten sich damit, daß sie Landratten seien und noch niemals Wassergeräusche gehört hätten, der ehemalige General. aber sagte, der Fluß sei unerwartet aus den Ufern getreten und habe seine Kumpel überrascht: Noch bevor sie an etwas denken konnten, standen sie schon im Wasser. Es hatte jetzt wenig Sinn, nach Schuldigen zu suchen, die Ursache der Bescherung war auch so allen klar. Der dumpfe Lärm, den der Holzfäller und der Scheuch vernommen hatten, war durch einen Erdsturz verursacht worden, den die
Hexe hervorgerufen hatte, um den Fluß abzuriegeln. Das steigende Wasser hatte den Wagen angehoben, der jetzt auf den Wellen schaukelte, und weil er keinen einzigen Ritz besaß, sickerte kein Wasser durch. „Unsere Festung hat sich in ein Schiff verwandelt, und Charlie Black ist sein Kapitän, hurra!" rief Tim begeistert. „Befehlt, Kapitän, Schiffsjunge Tim O'Kelli wird immer seine Pflicht tun!" Charlie stand jedoch der Sinn nicht nach Übermut. Die Lage war bedrohlich. Das Hochwasser konnte den Wagen in ein Gestrüpp abtreiben, das ihn vielleicht nicht freigeben würde. Die Holzköpfe konnten ihn nicht halten, weil sie aus Holz waren und wie der Wagen auf dem Wasser trieben. Zum Glück traf Tilli-Willi rechtzeitig ein. Er ging auf die schwimmende Festung zu und fragte vor allem nach Papa Charlies Gesundheit und Wohlbefinden. Erst dann packte er mit seiner gewaltigen Faust den Wagen, der sofort wie angewurzelt stillstand. Die Nacht war so finster, daß man den Morgen abwarten mußte, bevor man irgendeinen Beschluß faßte. Die Besatzung verging fast vor Ungeduld, bis das fahle Morgenlicht den Nebel durchstieß. Charlie sagte, man müsse sich bis zu einem trockenen Plätzchen durchschlagen. Es habe wenig Sinn, den von Arachna errichteten Damm zu zerstören, denn das würde zu viel kostbare Zeit in Anspruch nehmen. Die Krähe wurde auf Kundschaft ausgesandt. In einer halben Stunde kam sie mit der Meldung zurück, sie habe ein flaches Ufer erspäht, auf das man den Wagen leicht hinaufziehen könnte. Der Kapitän hatte aus der Stadt Seile mitgenommen, die jetzt gut zustatten kamen. Er warf ein Seilende den Holzköpfen zu, die es an Deichsel und Räder anbanden. Tilli-Willi stampfte, den Wagen hinter sich ziehend, klatschend durch das Wasser. Die Krähe flog voraus und wies den Weg. „Land, Land!" riefen die Insassen des Wagens, wie einst die Matrosen des Christophor Kolumbus. Die Holzköpfe mit Lan Pirot an der Spitze stiegen durchnäßt, mit abgeblätterter Farbe und gar jämmerlich anzusehen aus dem Wasser, doch ihre Kraft hatten sie sich bewahrt. Als alles wieder hergerichtet war, brach man auf. Der kleine Trupp bewegte sich auf dem Weg, den die Krähe ausgekundschaftet hatte.
„Ein gefährlicher Gegner, diese Hexe, sehr schlau und erfinderisch", sagte der Seemann kopfschüttelnd. „Würde gerne wissen, welche Überraschung sie uns noch bereitet."
Die Überraschung ließ auch nicht lange auf sich warten. Am Abend des nächsten Tages, als die kleine Schar durch eine felsige Schlucht zog, erbebte plötzlich die Erde, und von den Hängen wälzten sich große Steine. Felsbrocken sprangen donnernd an Unebenheiten hoch und zerbarsten, und gewaltige Splitter flogen mit Kanonenkugelgeschwindigkeit dahin. Mit einer Wendigkeit, die man ihm nicht zugetraut hätte, schützte Tilli-Willi den Wagen. Den gewaltigen Schild vorstreckend, bog und wand er
seinen mächtigen Leib nach allen Seiten, um die Schläge der fliegenden Steine aufzufangen. Das Bombardement dauerte einige Minuten. In dieser Zeit parierte der junge eiserne Ritter gut ein Dutzend Geschosse, die den Wagen hätten zertrümmern und seine Insassen in Brei verwandeln können. Die Steine schlugen krachend gegen den Schild, und der Lärm drohte, die Insassen der fahrbaren Festung taub zu machen. Nur dem Geschick und der Findigkeit Tilli-Willis hatte man es zu verdanken, daß man noch glimpflich davonkam. Ein Rad des Wagens war zertrümmert, ein Holzkopf namens Algen hatte einen Arm verloren, und der Schild Tilli-Willis hatte mehrere tiefe Einbeulungen. Das Rad wurde ausgewechselt (Charlie hatte mehrere Ersatzräder mitgenommen), dem Holzkopf Algen wurde ein neuer Arm eingesetzt, und die Schar verließ eilig den gefährlichen Ort. Als der Wagen aus der Schlucht herauskam, sahen seine Insassen im Nebel hoch oben Arachna, die zitternd ihr blaues Gewand an sich preßte und davonflog. „Allem Anschein nach hat Ramina den Kampfauftrag nicht erfüllt", sagte der Scheuch. „Die Hexe fliegt auf ihrem Teppich, folglich haben die Mäuse ihn nicht aufgefressen." „Das ist wohl nicht so einfach", seufzte Charlie Black. „Ich hoffe, sie dösen nicht und warten den passenden Augenblick ab." Schon bei der ersten Rast kam dem Scheuch der Gedanke, TilliWilli für den Opfermut, den er bei der Abwehr des Überfalls von Arachna gezeigt hatte, einen Orden zu verleihen. Der weise Strohmann führte immer einen Vorrat von Orden mit, die Faramant, der Versorgungschef, aufbewahrte. Allerdings mußte man dem jungen Riesen lange erklären, was ein Orden ist und wofür man ihn bekommt. Als er schließlich begriffen hatte, fragte er: „Hat Papa Charlie auch einen Orden? Nach dem, was mir Lestar von seinen Heldentaten erzählt hat, muß er- bei allen Stürmen der südlichen Breiten! - einen Haufen Orden haben." Verdutzt schlug sich der Scheuch mit der Hand auf den Kopf. Hätte der Herrscher des Smaragdenlandes erröten können, er wäre bei dieser treuherzigen Frage bestimmt puterrot geworden. „Oh, ich Grobian, ich Esel!" schrie der Scheuch und zog die Stecknadeln, die beim Schlag auf den Kopf in seine Hand eingedrungen waren, heraus. „Warum ist es mir nicht eingefallen? Bei seinem ersten Besuch hat der Riese von jenseits der Berge die Smaragdenstadt aus der Gewalt Urfin Juices erlöst und mich und den Eisernen Holzfäller aus der Gefangenschaft befreit... Allerdings pflegten meine Handwerker damals noch keine Orden zu machen. Aber warum hab ich jetzt nicht daran gedacht, wo der Riese von jenseits der Berge wieder gekommen ist, um uns zu helfen, wo er im Kampf gegen einen furchtbaren Feind sein kostbares Leben aufs Spiel setzt? Oh, ich Dummkopf, ich Einfaltspinsel! Wieso ist es mir nicht eingefallen, diesen hinge-bungs-vollen Mann für seine Verdienste mit dem